„Himmel und Kölle“


„Himmel und Kölle“ – Das Köln-Musical; Musik: Andreas Schnermann; Buch: Dietmar Jacobs, Moritz Netenjakob; Regie: Gil Mehmert; Choreografie: Yara Hassan; Stepptanzchoreografie: Bernd Paffrath; Bühne: Gil Mehmert, Julie Véronique Wiesen; Illustrationen: Fufu Frauenwahl; Kostüme: Judith Peter; Lichtdesign: Michael Grundner; Sounddesign: Stefan Mauel; Videodesign: Delil Aziz; Regieassistenz: Sandra Wissmann; Musical Supervisor: Jürgen Grimm; Musikalische Leitung: H. C. Petzold. Darsteller: Markus Schneider (Elmar, der Pfarrer), Karen Müller (Kathy, angehende Braut), Florian Sigmund (Mattes, Verlobter von Kathy), Enrico De Pieri (Jens, gen. Schwaadlappe, Kompagnon von Mattes), Vera Bolten (Moni, Pfarrhaushälterin), Mark Weigel (Taxifahrer), Tamara Pascual (Jenny), Sharon Isabelle Rupa (Maike, Freundinnen von Kathy). Uraufführung: 29. Oktober 2020, Volksbühne am Rudolfplatz, Aachener Straße 5, 50674 Köln.



„Himmel und Kölle“


Ein eigenes Musical für Köln


„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Karen Müller (Kathy), Florian Sigmund (Mattes), Markus Schneider (Elmar), Sharon Isabelle Rupa (Maike), Vera Bolten (Moni), Enrico De Pieri (Jens, gen. Schwaadlappe), Tamara Pascual (Jenny) und Mark Weigel (Taxifahrer). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

Die beiden Kölner Autoren und Grimme-Preisträger Dietmar Jacobs (* 1967 in Mönchengladbach; „Stromberg“ [2004 – 2012], „Pastewka“ [2005 – 2014, 2018 – 2020], „Dr. Psycho – Die Bösen, die Bullen, meine Frau und ich“ [2007 – 2008] und „Mord mit Aussicht“ [Episoden 20, 23, 30, 34]) und Moritz Netenjakob (* 1970 in Köln; „Pastewka“, „Dr. Psycho – Die Bösen, die Bullen, meine Frau und ich“ und „Stromberg“) schenken ihrer Stadt des Herzens ihr erstes eigenes Musical als bissige Liebeserklärung voller Wortwitz und Gefühl. Sie verpacken die Geschichte um den jungen Pfarrer Elmar in eine turbulent-witzige Reise durch die vermeintlich heilige Domstadt, bei der er auf ein schier unerschöpfliches Kaleidoskop an kölschen Charakteren trifft. Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob („Extrawurst“, 2019), die zur Spitze der deutschen Satire-Autoren zählen, erfüllen sich damit einen langgehegten Traum: „Wir wollten schon lange ein Musical schreiben, das Köln so zeigt, wie wir die Stadt sehen – mit Liebe, Zorn, Witz und Biss. Noch nie haben wir an einem Stück so intensiv gearbeitet, wie an ‚Himmel und Kölle‘“, so Moritz Netenjakob. „Wir wollen ein fantastisches, mitreißendes Musical schaffen.“ Der Kölner Komponist, Pianist und Musikproduzent Andreas Schnermann (* 1968 in Wipperfürth) hat die Musik zu „Himmel und Kölle“ komponiert, das am 29. Oktober 2020 am Köllner Millowitsch-Theater, seit 2015 „Volksbühne am Rudolfplatz“, zur Uraufführung kam und dort bis 7. Februar 2021 zu sehen sein sollte.

„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Vera Bolten (Moni) und Markus Schneider (Elmar). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

Die Volksbühne am Rudolfplatz hat große Anstrengungen unternommen, um in herausfordernden Zeiten die Sicherheit aller Gäste und Beteiligten zu gewährleisten, neben der reduzierten Anzahl von Zuschauern und einem besonderen Hygienekonzept soll eine verdünnte Lösung von hypochloriger Säure als Aerosolnebel für die wirksamen Bekämpfung von Keimen, Bakterien und Viren aller Art im Theatersaal sorgen. Tatsächlich bin ich auf der Suche nach wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema nicht fündig geworden; zum Einsatz von Natriumhypochlorit zur Desinfektion möge sich daher bitte jeder sein eigenes Bild verschaffen. Doch wie dem auch sei, Köln hatte am 29. Oktober 2020 eine 7-Tage-Inzidenz von 201,8 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen, und aufgrund neuerlicher Einschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie muss natürlich auch die Volksbühne am Rudolfplatz im November ihren Spielbetrieb einstellen; Vorstellungen sind danach erst wieder ab 3. Dezember 2020 disponiert. Weitere Imformationen unter www.himmelundkoelle.de.

„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Markus Schneider (Elmar). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

Elmar Neuhaus hatte sich nach Abschluss des Priesterseminars eine Stelle auf dem Lande gewünscht, doch es sollte anders kommen: Als Belohnung für besondere Leistungen wird er nach Köln geschickt. Bei seiner Ankunft am Kölner Hauptbahnhof trifft der Kulturschock den erzkatholischen Priester mit voller Wucht, denn die vermeintlich „heilige Stadt“ entpuppt sich schnell als „bekloppteste Stadt zwischen Himmel und Ääd“. Auf der Suche nach einem erfrischenden Mineralwasser trifft er auf die junge Kathy, die mit ihren Freundinnen Junggesellinnenabschied feiert und gerade festgestellt hat, dass sie schwanger ist. Allerdings nicht von ihrem Verlobten, dem Feinkeramik-Fliesenhändler Mattes. Elmar ist entsetzt. Die verzweifelte junge Frau rührt ihn schließlich so sehr, dass er ihr helfen möchte, ihren Bräutigam zu finden, um ihm den Seitensprung zu beichten. Der verbringt den Abend vor der Hochzeit mit seinem Kompagnon Jens, gen. Schwaadlappe (Kölsch für Schwätzer). Auf der Suche landen sie zunächst in einer Sisha-Bar, wo sie einen Tipp bekommen, wo sich Mattes aufhalten könnte. Ein Taxifahrer aus Sachsen, der sich permanent darüber echauffiert, in Köln nirgends links abbiegen zu können, setzt sie schließlich an der Hohenzollernbrücke ab, wo Kathy das Liebesschloss entdeckt, dass sie gemeinsam mit Mattes dort angebracht hatte („Die Liebe braucht kein Schloss“). Der hat seinerseits inzwischen die „Roten Funken“ (das älteste Traditionscorps Kölsche Funke rut-wieß vun 1823 e. V. im Kölner Karneval) auf die Suche nach seiner Braut geschickt, vor denen sich Kathy und Elmar im Kölner Dom verstecken und abends eingeschlossen werden. Nachts „erscheinen“ ihnen die Heiligen Drei Könige, deren Gebeine in dem von Goldschmied Nikolaus von Verdun geschaffenen Dreikönigsschrein ruhen – oder eben auch nicht, wie sie selbst berichten („Bekloppter als man glaubt“). Als Kathy, Elmar und seine Haushälterin Moni wieder im Taxi unterwegs sind, begeht der Taxifahrer einen folgenschweren Fehler – er biegt links ab, woraufhin alle nicht im Himmel landen, sondern im „idealen Köln“. Bei der Ankunft am Brüsseler Platz ist für den Taxifahrer erstmals alles in bester Ordnung. Damit ist zwar noch längst nicht alles in bester Ordnung, doch Moni ist der festen Überzeugung, „dat ruckelt sich zurecht“…

„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Karen Müller (Kathy), Markus Schneider (Elmar), Enrico De Pieri, Florian Sigmund und Mark Weigel (Heilige Drei Könige). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

„Himmel und Kölle“ zeichnet kein kitschig-schwärmerisches Bild der Stadt, sondern rückt auch Narben und Wunden in den Fokus, die Kölner Innenstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu über 90 Prozent zerstört. Regisseur Gil Mehmert zeichnet nach „Die letzten fünf Jahre“ (Stiftsruine Bad Hersfeld, Premiere 31. Juli 2020) und „Songs for a New World (Lieder für eine neue Welt)“ (Opernhaus Dortmund, Premiere 27. September 2020) auch bei „Himmel und Kölle“ für das Bühnenbild verantwortlich, wobei er in diesem Fall von Julie Véronique Wiesen Unterstützung bekam. Fufu Frauenwahl, mit dem Gil Mehmert bereits bei „Fahrenheit 451“, „Die Hexen von Eastwick“ und „Catch me if you can“ zusammengearbeitet hat, hat auch für „Himmel und Kölle“ die Illustration beigesteuert. Eine schmutzig grau gekachelte Kulisse als Anspielung auf die vielen „Kachel-Häuser“, obenauf die Silhouette der Stadt. Dieser sehr wandelbare Raum passt sich allen Schauplätzen wie ein Chamäleon stets perfekt an. Ob Häuserfassade oder Gaststätte, Kölner Dom oder Wohnzimmer, die Handlung erfordert in schneller Folge immer neue Spielorte. Die Elemente, die von den Darsteller*innen selbst auf die Bühne gebracht werden, sind skizzenhaft gehalten und erinnern an Comiczeichnungen. Sie sind mit wenigen Ausnahmen zweidimensional. Ob der mit unzähligen Flaschen Kölsch gefüllte Kühlschrank, ein Tisch, das Taxi, Musikinstrumente oder die Zeitungsautomaten mit dem „Exzess“ und der „Blind“, alles ist gezeichnet und verfügt nur über zwei Dimensionen. Die Darsteller*innen scheinen sich beinahe in einem lebendig gewordenen Zeichentrickfilm zu bewegen. Als Reminiszenz an den früheren Hausherrn des Millowitsch-Theaters gibt es auch eine Nachbildung des Willy-Millowitsch-Denkmals, wobei die auf der Bank sitzende Figur sogar sprechen kann und dabei den Mund bewegt. Insgesamt vier weibliche und vier männliche Darsteller schlüpfen in eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen: Neben den Hauptcharakteren hält das Stück jede Menge liebenswerte Figuren bereit, einige davon im besten Sinne ein bisschen bekloppt. Bis hin zu den nachts heimlich im Kölner Dom steppenden Skeletten der Heiligen Drei Könige, für die Bernd Paffrath die Stepptanzchoreografie einstudiert hat. Yara Hassan hat mit ihrer ansprechenden Choreografie die Spielfläche für die acht Akteure optimal genutzt. Gil Mehmert lässt das Ensemble auf der Bühne spielend leicht mit den Einschränkungen umgehen, man könnte die COVID-19-Pandemie als Zuschauer beinahe für zwei Stunden vergessen, würde Vera Bolten nicht darauf hinweisen, nicht unvorsichtig zu werden, die Hygiene-Regeln zu beachten und kein Risiko einzugehen. Die vierköpfige Combo unter der Musikalischen Leitung von H. C. Petzold bringt Andreas Schnermanns Partitur ohne Bläser zu Gehör, auf der gleichzeitig veröffentlichten CD-Einspielung wurden zusätzlich Tuba, Trompete und Tenorhorn aufgenommen.

„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Vera Bolten (Moni), Karen Müller (Kathy), Markus Schneider (Elmar) und Mark Weigel (Taxifahrer). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

Markus Schneider (Anatoly Sergievsky in „Chess – Das Musical“, Theater Koblenz, Festung Ehrenbreitstein, Regie Markus Dietze, Premiere 18. August 2018) wird als Pfarrer Elmar Neuhaus aus dem beschaulichen Schwabenland in das katholisch geprägte Köln beordert. Aber dort ist alles anders als gedacht, und der junge kultivierte Pfarrer sieht sich Menschen gegenüber, die ihn sofort an seine Grenzen bringen. Alle guten Vorsätze helfen hier nicht, die neuen Herausforderungen zu meistern. Und so vollzieht der schüchterne Amtsträger in kurzer Zeit eine komplette Wandlung und ist vor allem auf menschlicher Ebene sehr gefordert. Mit Markus Schneider ist der Würdenträger bestens besetzt: Stimmlich, darstellerisch und auch optisch ein „Sahneschnittchen“. Karen Müller (Klärchen in „Im weißen Rössl“, Opernhaus Dortmund, Regie Thomas Enzinger, Premiere 18. Januar 2020) bringt als Kathy von Anfang an überzeugend zum Ausdruck, dass sie ihren langjährigen Freund mehr aus Pflichtbewusstsein als aus Liebe heiraten wird und stellt fest, dass sie ein eingespieltes Paar sind – oder besser vielleicht nur ein gespieltes Paar? Tamara Pascual (Tamara/Electric Blues Trio in „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“, Stiftsruine Bad Hersfeld, Regie Gil Mehmert, Premiere 3. August 2018, Wiederaufnahme 16. August 2019) und Sharon Isabelle Rupa (Estella in „West Side Story“, Opernhaus Bonn, Regie Erik Petersen, Premiere 15. September 2019) holen Kathy als ihre quirligen besten Freundinnen Jenny und Maike zum Jungesellinnenabschied ab und versuchen, alle Zweifel am Vorabend der Hochzeit zu verdrängen. Kathy ist aber innerlich zerrissen: Hat sie nur Angst vor dem Schritt, oder läuft sie geradewegs in ihr Unglück? Pfarrer Elmar versucht ihr Kraft seines Amtes zu helfen. Denn da ist noch ein großes Problem: Kathy ist ungewollt schwanger und Mattes ist nicht der Vater des Ungeborenen. Sie braucht jetzt jemanden an ihrer Seite, soviel ist klar. So machen sie sich bald gemeinsam auf die Suche nach Kathys Freund Mattes und fahren kreuz und quer durch Köln, mehrfach benutzen sie ein Taxi, das von einem Fahrer aus der ehemaligen Ostzone gesteuert wird. Sprudelt „Himmel und Kölle“ ohnehin vor komischen Momenten und Gags nur so über, gehört es zweifelsohne zu den wunderbarsten Momenten, wie Mark Weigel (Officer Krupke/Glad Hand in „West Side Story“, Opernhaus Bonn, Regie Erik Petersen, Premiere 15. September 2019) in breitem Sächsisch die Verkehrsverhältnisse in Köln analysiert: Hier kann man nirgends links abbiegen! Florian Sigmund (Simon Stride/Polizist in „Jekyll & Hyde“, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere 12. Oktober 2019, Wiederaufnahme 28. Februar 2021) macht sich als Kathys Bräutigam Mattes weniger Gedanken um seine Ehe als um die Zukunft seines Fliesengeschäftes. An der Seite des eher pragmatischen Mattes ist Enrico De Pieri (Peter in „Wahnsinn! Das Musical mit den Hits von Wolfgang Petry“, diverse Spielorte, Regie Gil Mehmert, Uraufführung 25. Februar 2018) als sein Freund und Kompagnon Jens, gen. Schwaadlappe, kraftvoll, hemdsärmelig – und auch in der Darstellung sehr unterschiedlicher Nebenfiguren sehr ausdrucksvoll, so dass er oft die Lacher auf seiner Seite hat. Für eine Fülle komischer Momente sorgt auch Vera Bolten (Sabine in „Wahnsinn! Das Musical mit den Hits von Wolfgang Petry“, diverse Spielorte, Regie Gil Mehmert, Uraufführung 25. Februar 2018) als resolute Pfarrhaushälterin Moni, die bereits mit allen Wassern gewaschen zu sein scheint und so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen ist. Ihr Song „Dat ruckelt sich zurecht“ – ein Konglomerat aus „Et hätt noch immer jot jejange“ und „Die Zeit heilt alle Wunden“ – gerät zu einem Gänsehautmoment und versprüht vielleicht genau jenen Optimismus, den wir alle im Moment so dringend brauchen.

„Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Florian Sigmund (Mattes) und Karen Müller (Kathy). Foto Thomas Brill, © Himmel und Kölle

Das Musical ist witzig-spritzig, und es gibt jede Menge Attacken auf die Lachmuskeln. Eine bestens aufgelegtes und sehr spielfreudiges Ensemble tanzt, singt und kalauert sich in die Herzen der (noch) zugelassenen 130 Zuschauer*innen, die zwischen vielfach geklonten, zweidimensionalen Portraits der Darsteller*innen Platz nehmen dürfen und ihre „Severlappen“ (die Mund-Nase-Bedeckung) natürlich aufbehalten müssen. „Himmel und Kölle“ bietet beste Unterhaltung und eine baldige Fortsetzung im Dezember ist unbedingt wünschenswert.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Da Aufführungen in Theatern bis mindestens 10. Januar 2021 untersagt sind, wurden alle Vorstellungen bis 31. Januar 2021 abgesagt. Augenblicklich werden elf Vorstellungen vom 4. bis 20. Februar 2021 angeboten.

Kommentare

Detlef hat gesagt…
Eine Wiederaufnahme von „Himmel und Kölle“ – Das Musical zur Stadt ist vom 21. August 2021 bis 26. Februar 2022 an der Volksbühne am Rudolfplatz disponiert.