„Im weißen Rössl“ am Theater Dortmund


„Im weißen Rössl“ – nach dem Alt-Berliner Lustspiel „Im weißen Rößl“ von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg (1896); Musik: Ralph Benatzky; Libretto: Hans Müller-Einigen, Erik Charell; Liedtexte: Robert Gilbert; Inszenierung: Thomas Enzinger; Co-Regie und Choreografie: Ramesh Nair; Bühne und Kostüme: Toto; Licht: Sabine Wiesenbauer, Florian Franzen; Dramaturgie: Laura Knoll; Musikalischer Leitung: Philipp Armbruster. Darsteller: Irina Simmes (Wirtin Josepha Vogelhuber), Matthias Störmer (Zahlkellner Leopold Brandmeyer), Fritz Steinbacher (Rechtsanwalt Dr. Otto Siedler), Steffen Schortie Scheumann (Wilhelm Giesecke, Berliner Fabrikant), Giulia Montanari (Ottilie, seine Tochter), Morgan Moody (Sigismund Sülzheimer, Sohn des Konkurrenten), Frank Voß (Prof. Dr. Hinzelmann, Urlauber), Karen Müller (Klärchen, seine Tochter), Tomas Stitilis (Piccolo), Ks. Hannes Brock (Kaiser Franz Joseph I.), Johanna Schoppa (Kathi, Briefträgerin), Nicole Eckenigk, Selly Meier, Karen Müller, Anna Pinter, James Atkins, Stephen Dole, Erik van Hoof, Torben Rose (Tänzer*innen). Uraufführung: 8. November 1930, Großes Schauspielhaus, Berlin. Erstaufführung der rekonstruierten Originalfassung: 19. Juni 2009, Staatsoperette Dresden. Premiere: 18. Januar 2020, Opernhaus Dortmund.



„Im weißen Rössl“


Im Opernhaus Dortmund da kann man gut lustig sein


Viele werden bei dem Singspiel „Im weißen Rössl“ sofort an die Verfilmung mit Peter Alexander, Gunther Philipp und Waltraut Haas aus dem Jahr 1960 denken, doch das Stück hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich: Mit zum Hotel verkleideter Fassade und dem Versprechen „Tritt ein und vergiss deine Sorgen“ lockte das Große Schauspielhaus – der heutige Friedrichstadt-Palast – zur Uraufführung des „Weißen Rößls“ am 8. November 1930 das Berliner Publikum auf eine Sehnsuchtsreise ins fiktive Salzkammergut. Fast genau ein Jahr, nachdem die Welt durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse mit einem Schlag in eine globale Wirtschaftskrise gerissen wurde, spiegelten Ralph Benatzky (* 5. Juni 1884 in Mährisch-Budwitz, † 16. Oktober 1957 in Zürich) und sein Autor Robert Gilbert (Liedtexte) mit ihrem Auftragswerk für den welterfahrenen Revuekönig Erik Charell (* 8. April 1894 in Breslau, † 15. Juli 1974 in München, eigentlich Erich Karl Löwenberg) die überschäumende Lebenslust der Berliner Vergnügungskultur zwischen den Weltkriegen. Aus manch melodien­seligem Ohrwurm lugte auch immer wieder ein Stück jazziger Broadway-Sound hervor. Die Nationalsozialisten diffamierten die jazzigen amerikanischen Tanzrhythmen als „entartete Negermusik“, die amerikanischen Musikeinflüsse wurden gestrichen und durch streichergetragene Walzermelodien ersetzt. An der „bereinigten Fassung“ wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten, erst 1994 belebte die „Bar jeder Vernunft“ in Berlin den ursprünglichen Revue­charakter des Stückes neu. Schließlich fand der Verlag Felix Bloch Erben Anfang 2009 in Zagreb das längst verschollen geglaubte, vollständige historische Orchester­material, welches von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn unter Mitarbeit von Winfried Fechner „bühnen­technisch eingerichtet“ wurde, am 19. Juni 2009 nach über 60 Jahren an der Staatsoperette Dresden zum ersten Mal wieder erklang und damit die erste Wiederaufführung der von Erik Charell 1930 als Revueoperette aufgeführten Urfassung des „Weißen Rößl“ ist. Auch Thomas Enzinger hat sich bei seiner Inszenierung für die „Bühnenpraktische Rekonstruktion der Original­fassung“ entschieden, die ab 18. Januar 2020 am Opernhaus Dortmund zu sehen ist. „Im weißen Rössl“ war zuletzt in der Spielzeit 2008/2009 (Premiere 6. September 2008) im 1950er-Jahre-Arrangement von Bruno Uher (Premiere 26. Oktober 1951 im Staatstheater am Gärtnerplatz) in einer Inszenierung von Markus Kupferblum mit Steffen Scheumann als Wilhelm Giesecke und Hannes Brock als Dr. Otto Siedler am Theater Dortmund zu sehen, die Vorstellung am 28. November 2008 wurde von den Dortmunder Philharmonikern bestreikt.

„Im weißen Rössl“, Theater Dortmund, Matthias Störmer (Leopold Brandmeyer) und Irina Simmes (Josepha Vogelhuber). © Anke Sundermeier, Stage Picture

Zum Inhalt:
Im Hotel „Zum weißen Rössl“ hat Zahlkellner Leopold Brandmeyer sein Herz an die handfeste Wirtin Josepha Vogelhuber verloren. Doch die will dieses Jahr endlich den alljährlichen Sommer­gast Dr. Otto Siedler für sich erobern, den sie noch heute erwartet und in den sie heimlich verliebt ist. Auch der Berliner Trikotagenfabrikant Wilhelm Giesecke, Erfinder der vorne geknöpften Hemdhose „Apollo“, mit seiner Tochter Ottilie zählen zu den neuen Hotelgästen. Erst kürzlich hat er einen Patent-Streit gegen seinen Konkurrenten Sülzheimer verloren, dieser hatte die Hemdhose „Attila“, hinten geknöpft, ebenfalls zum Patent angemeldet. Zu allem Übel ist Dr. Siedler Sülzheimers Anwalt. Ottilie erliegt jedoch schon bald den Avancen des Rechtsanwalts. Als weitere Gäste treffen Sigismund Sülzheimer, der Sohn von Gieseckes Konkurrenten und von allen nur „der schöne Sigismund“ genannt, sowie der verarmte Professor Hinzelmann mit seiner Tochter Klärchen ein. Sigismund soll Ottilie heiraten, um dem Konkurrenzkampf zwischen Giesecke und Sülzheimer ein Ende zu bereiten. Doch der hat seinerseits ein Auge auf das reizende Klärchen geworfen. Um dieses Intrigengewirr mitten in der Hochsaison zu lichten, bedarf es schon eines Auftritts von Kaiser Franz Joseph I. persönlich. Auf sein Anraten entlässt Josepha Zahlkellner Leopold mit dem überraschenden Zeugnis: „Entlassen als Zahlkellner, aber engagiert auf Lebensdauer als Ehemann“. Auch die beiden anderen Liebespaare finden sich, und am Ende wird sogar der Patent-Streit beigelegt.

„Im weißen Rössl“, Theater Dortmund, Irina Simmes (Josepha Vogelhuber) und Matthias Störmer (Leopold Brandmeyer). © Anke Sundermeier, Stage Picture

Der gebürtige Wiener Regisseur Thomas Enzinger („Das Land des Lächelns“, Opernhaus Dortmund, Premiere 12. Januar 2019; „Die Blume von Hawaii“, Opernhaus Dortmund, Premiere 21. Januar 2017), seit Mai 2017 Intendant und Geschäftsführer des Lehár Festivals Bad Ischl, hat „Im weißen Rössl“ daselbst im Sommer 2019 inszeniert, für die Choreografie zeichnete Ramesh Nair verantwortlich, für die Ausstattung Toto, außerdem am Theater Regensburg (Premiere 5. Dezember 2015), Staatstheater Nürnberg (Premiere 2. März 2013) und Opernhaus Kiel (Premiere 9. September 2012). In seiner Inszenierung bringt er die kaum zu überbietende Kitschigkeit der Berliner Posse von Ralph Benatzky mit ihrem ursprünglichen Revuecharakter mit der gebotenen Ernsthaftigkeit auf die Bühne und sorgt gerade damit für intelligente Unterhaltung. Dieselbe Vorgehensweise hat auch Ausstatter Toto für sein Bühnenbild gewählt, das den Zuschauer mit dem alpinen Panorama und den weißen Pferden (und einer Kuh) an den Wolfgangsee im Salzkammergut versetzt. Die Fassade des Hotels und Restaurants „Weisses Rössl“ ist lediglich durch einige aus dem Schnürboden herabgelassene Fensterrahmen angedeutet, stattdessen bestimmt ein überdimensionales weißes Rössl die Szene. Über allem lädt der Schriftzug „Welcome“ in einer an die Schriftart Waltograph von Designer Justin Callaghan erinnernden Typografie zum Besuch ein: „Tritt ein und vergiss deine Sorgen“ Disney-like. Die Parodie und Satire des Ur-Rössls setzt sich bis in die Kostüme fort, neben Dirndl und Lederhose treten die acht Tänzer*innen Nicole Eckenigk, Selly Meier, Karen Müller, Anna Pinter, James Atkins, Stephen Dole, Erik van Hoof und Torben Rose als „Amor“ bei den Liebenden in Aktion. Ramesh Nair, der sein Musical-Studium an der Folkwang Hochschule (heute Folkwang Universität der Künste) 1999 abgeschlossen hat und seither als Darsteller, Regisseur und Choreograf tätig ist, war bereits 2008 für die Operette „Im weißen Rössl“ als Choreograf am Opernhaus Dortmund engagiert, für die aktuelle Produktion hat er fetzige Tanznummern einstudiert, bei denen auch Stepptanz-Choreografien nicht fehlen dürfen. Die Dortmunder Philharmoniker bringen unter der versierten Musikalischen Leitung des Zweiten Kapellmeisters an der Oper Dortmund Philipp Armbruster die ursprüngliche Partitur frecher und jazziger als das gewohnte 1950er-Jahre-Arrangement zu Gehör.

„Im weißen Rössl“, Theater Dortmund, Tomas Stitilis (Piccolo), Irina Simmes (Josepha Vogelhuber), Matthias Störmer (Leopold Brandmeyer). © Anke Sundermeier, Stage Picture

Folkwang Alumna Irina Simmes (Lisa in „Das Land des Lächelns“, Theater Dortmund, Premiere 12. Januar 2019, Regie Thomas Enzinger), die in der Gelsenkirchener Produktion „Im weißen Rössl“ am Musiktheater im Revier (ebenfalls in der rekonstruierten Originalfassung, Premiere 12. November 2011) in der Inszenierung von Peter Hailer das Klärchen gespielt hat, ist gut acht Jahre später zur begehrenswerten Rössl-Wirtin Josepha Vogelhuber „aufgestiegen“ und das steht ihr hervorragend. Die Rössl-Chefin leitet das Hotel mit unverbrauchtem Charme – wenn es sein muss, auch energisch – und bewäligt den Part mit klarer wohlklingender Stimme, überzeugt sowohl in den Gesangsparts als auch in den Dialogen in österreichischer Mundart. Von Anfang an sehr präsent ist Matthias Störmer (Boni/Bonifaziu in „Die Csárdásfürstin“, Lehár Festival Bad Ischl 2020, Regie Thomas Enzinger; Zahlkellner Leopold Brandmeyer in „Im weißen Rössl“, Staatstheater Nürnberg, WA 3. Oktober 2016, Regie Thomas Enzinger) als Zahlkellner Leopold Brandmeyer mit authentischem Dialekt und viel Charme. Mit ihm ist der Oberkellner geradezu ideal besetzt: hier trifft eine volle, weiche Baritonstimme auf Entertainmentqualitäten, die Matthias Störmer u. a. dazu nutzt, das gesamte Publikum auf den Besuch des Kaisers einzustimmen. So wird Kaiser Franz Joseph I. stehend und mit kräftigem Chorgesang gebührend empfangen. Ab der Spielzeit 2020/2021 wird Matthias Störmer zum festen Opernensemble am Theater Dortmund gehören, wie Opernintendant Heribert Germeshausen während der Premierenfeier verriet. Leopolds Konkurrent um die Gunst von Rössl-Wirtin Josepha und ihr Lieblings-Stammgast Rechtsanwalt Dr. Otto Siedler wird von Fritz Steinbacher (Graf Gustav von Pottenstein in „Das Land des Lächelns“, Theater Dortmund, Premiere 12. Januar 2019, Regie Thomas Enzinger; Capitain Stone in „Die Blume von Hawaii“, Theater Dortmund, Premiere 21. Januar 2017, Regie Thomas Enzinger; Bobby in „Roxy und ihr Wunderteam“, Theater Dortmund, Premiere 29. November 2014, Regie Thomas Enzinger) sympathisch und in jungenhaft optimistisch wirkender Manier verkörpert. An Steffen Schortie Scheumann (Hermann Harburg in „Beck is back“) als Berliner Trikotagenfabrikant Wilhelm Giesecke kommt man in dieser Aufführung nicht vorbei: Seine Darstellung des auf Krawall gebürsteten knurrigen Ur-Berliners mit rauer Stimme und rüdem Tonfall gerät wunderbar komisch: „Det Jeschäft is richtich!“ Gänzlich gegensätzlich ist Ottilie, Wilhelm Gieseckes attraktive Tochter. Mit junger schlanker Stimme versteht sie, nicht nur Dr. Siedler für sich einzunehmen. Ottilie wird in Dortmund von der deutsch-italienischen Sopranistin Giulia Montanari (Barbarina in „Die Hochzeit des Figaro“, Aalto-Theater Essen, Premiere 23. Mai 2020, Regie Floris Visser; Elisabeth Delacey in „Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Regie Sebastian Schwab) verkörpert, die im Juli 2019 ihr Operngesangsstudium an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar mit einem Master of Music abgeschlossen hat und seit der Spielzeit 2019/2020 Mitglied im Opernstudio NRW ist. Morgan Moody (Gabriel John Utterson in „Jekyll & Hyde“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert; Artie Green in „Sunset Boulevard“, Theater Dortmund, Premiere 8. Oktober 2016, Regie Gil Mehmert) fährt als „schöner Sigismund“, Sohn von Giesekes Konkurrenten Sülzheimer, mit einer Parodie auf Elvis Presley im mondänen roten Oldtimer vor, und sofort liegen ihm seine Fans zu Füßen. Folkwang Alumna Karen Müller (Tänzerin in „Jekyll & Hyde“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert; Karen/Electric Blues Trio in „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“, Bad Hersfelder Festspiele 2018 & 2019, Regie Gil Mehmert) reagiert als lispelndes Klärchen Hinzelmann zunächst schüchtern auf die Annäherungsversuche von Sigismund Sülzheimer, lässt aber nach seinem Outing ihren Gefühlen freien Lauf. Die beiden geben ein wunderbares Buffopaar ab und harmonieren auch tänzerisch bestens miteinander. Mit gekonnter Zurückhaltung verkörpert Frank Voß (Theophil in „Frau Luna“, Lehár Festival Bad Ischl 2020, Regie Ramesh Nair; Wilhelm Giesecke in „Im weißen Rössl“, Lehár Festival Bad Ischl 2019, Regie Thomas Enzinger; Baron Szatmary in „Roxy und ihr Wunderteam“, Theater Dortmund, Premiere 29. November 2014, Regie Thomas Enzinger) Klärchens bescheidenen genügsamen Vater Prof. Dr. Hinzelmann. Folkwang Alumnus Tomas Stitilis (A-Rab in der „West Side Story“, Theater Dortmund, Premiere 24. November 2018, Regie Gil Mehmert) sorgt als seinem Oberkellner treu ergebener Piccolo Gustl besonders anfangs für Heiterkeit, als der Unglückliche mit einem riesigen Stapel Teller blind mit einem Tischtuch auf dem Kopf sehr bemüht ist, ohne zu stolpern eine Treppe zu bewältigen. Zu spontanen Heiterkeitsausbrüchen des Premierenpublikums trägt Ks. Hannes Brock (Max von Mayerling in „Sunset Boulevard“, Theater Dortmund, Premiere 8. Oktober 2016, Regie Gil Mehmert) als Karikatur von Kaiser Franz Joseph I. bei. Da der betreffende Kaiser bereits knapp 14 Jahre vor der Uraufführung der Operette gestorben war, war es in gewisser Weise passend, dass der angeklebte Kaiserschnauzbart Fluchttendenzen aufwies (auch wenn dies möglicherweise eher dem Zufall geschuldet war). Chorsolitin Johanna Schoppa (Lady Beaconsfield in „Jekyll & Hyde“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert) ergänzt das Geschehen durch ein paar Rap-Einlagen, die dem Stammpublikum in Dortmund offensichtlich viel Spaß bereiten, andererseits aber schräg daherkommen und leider auch nicht immer gänzlich verständlich sind.

Operetten gelten in der „traditionellen“ Aufführungspraxis gemeinhin eher als bieder und angestaubt, wofür vor mehr als 80 Jahren mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten der Grundstein gelegt wurde. Das Theater Dortmund beweist mit der vorliegenden „Im weißen Rössl“-Produktion erneut das Gegenteil: Die Aufführung unterhält glänzend, arbeitet mit Brüchen und Widersprüchen. Nichts will so richtig zueinander passen und harmoniert trotzdem, es gibt Anspielungen auf das aktuelle Tagesgeschehen, spritzige revuehaft getanzte Balletteinlagen, zuweilen sehr farbenfrohe Lichtstimmungen, Darsteller, die im Publikum auf- und abtreten, häufig das Proszenium bespielen, bis hin zu der bereits erwähnten direkten Einbindung der Zuschauer. Das Premierenpublikum erweist sowohl den Darstellern als auch dem Kreativteam langanhaltenden Stehapplaus, da wirkt nichts bieder oder angestaubt. Von der eindrucksvollen Vorstellung könnte sich die ein oder andere Operetten- und auch Musicalproduktion eine gehörige Portion abschneiden. „Im weißen Rössl“ steht am Theater Dortmund noch bis 4. April 2020 mit insgesamt 15 Vorstellungen auf dem Spielplan.

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