„West Side Story“ am Theater Bonn


„West Side Story“ – nach einer Idee von Jerome Robbins und nach Shakespeares „Romeo and Julia“; Musik: Leonard Bernstein; Liedtexte: Stephen Sondheim; Buch: Arthur Laurents; Deutsche Fassung: Frank Tannhäuser, Nico Rabenald; Inszenierung: Erik Petersen; Choreografie: Sabine Arthold; Bühne, Kostüme: Dirk Hofacker; Licht: Thomas Roscher; Sounddesign: Stephan Mauel; Musikalische Leitung: Daniel Johannes Mayr/Hermes Helfricht. Darsteller: Jan Rekeszus (Tony), Marie Heeschen/Sybille Lambrich (Maria), Dorina Garuci/Amani Robinson (Anita), Lucas Baier (Riff), Roy Goldman (Action), Rico Salathe (A-Rab), Paul Csitkovics (Baby John), Arvid Assarsson (Snow Boy), Denis Edelmann (Big Deal), Robert Lankester (Diesel), Roberto Junior (Gee-Tar), Beatrice Reece (Graziella), Julia Anna Friess/Karina Kettenis (Velma), Martina Vinazza (Minnie), Marina Petkov (Clarice, Dance Captain), Sybille Lambrich/Beatrice Reece (Anybodys), Andreas Wolfram (Bernardo), Reginald Holden Jennings (Chino), Domenico Poziello (Pepe), Javier Ojeda Hernandez (Indio), Romeo Salazar (Luis), Diego Federico (Anxious), Roberto Junior (Nibbles), Kara Kemeny (Rosalia), Samantha Senn (Consuela), Michelle Saget (Teresita), Marta Calandrino (Francisca), Sharon Isabelle Rupa (Estella), Josef Michael Linnek (Doc), Daniel Berger (Lt. Schrank), Stefan Viering/Mark Weigel (Officer Krupke/Glad Hand). Broadway-Premiere: 26. September 1957, Winter Garden Theatre, New York. West-End-Premiere: 12. Dezember 1958, Her Majesty’s Theatre, London. Deutsche Erstaufführung: 16. Juni 1961, Deutsches Theater, München. Deutschsprachige Erstaufführung: 25. Februar 1968, Volksoper, Wien. Premiere: 15. September 2019, Theater Bonn, Opernhaus, Bonn.



„West Side Story“


Der Broadway-Klassiker am Opernhaus Bonn


Die „West Side Story“, nicht nur die bekannteste Vertonung von William Shakespeares „Romeo und Julia“, sondern auch eines der größten Werke des amerikanischen Musiktheaters, behandelt am Beispiel zweier rivalisierender Jugendbanden die Schwierigkeiten und Gegensätze zwischen den ein­ge­wan­derten Puertoricanern (‚Sharks‘) und den Einheimischen der New Yorker West Side (‚Jets‘) um 1955. Aus diesen rivalisierenden Banden verlieben sich Tony und Maria ineinander, doch angesichts der Feindseligkeiten ist ihre Liebe zum Scheitern verurteilt. Die Produktion erlebte am 26. September 1957 ihre Broadway Premiere am Winter Garden Theatre und wurde mit zwei Tony Awards ausgezeichnet, Jerome Robbins erhielt die Auszeichnung für seine Choreografie, und Oliver Smith für das Bühnenbild. Nach 732 Vorstellungen und einer daran anschließenden Tournee kehrte das Stück am 27. April 1960 für weitere 249 Aufführungen an den Broadway zurück. Es gab bisher zwei weitere Broadway Revivals, 1980 wurde die „West Side Story“ vom 14. Februar bis 30. November am Minskoff Theatre gezeigt, und die Neuinszenierung von Arthur Laurents am Palace Theatre wurde in 748 Vorstellungen vom 19. März 2009 bis 2. Januar 2011 gespielt. Das Stück wurde 1961 verfilmt; der Film wurde für elf Oscars nominiert, wovon er immerhin zehn tatsächlich erhalten hat. Bei der „West Side Story“ verschmelzen Musik, Schauspiel und Tanz in nahezu unübertrefflicher Form, und die in der von Robert E. Griffith und Harold S. Prince produzierten Uraufführung von Jerome Robbins choreographierten Tanzsequenzen gerieten zum beinahe wichtigsten Stilmittel. Robbins erarbeitete mit jedem Tänzer ein individuelles Repertoire an Gesten und schuf damit ein stilisiertes Tanztheater, das die bedrohlichen Auseinandersetzungen der Jugendlichen überzeugender auf die Bühne brachte als jede realistische Darstellung.

Allein in der laufenden Spielzeit steht die „West Side Story“ an diversen deutschsprachigen Theatern auf dem Spielplan: Komische Oper Berlin (Wiederaufnahme 18. September 2019, Regie Barrie Kosky), Stadttheater Bad Hall (Premiere 12. Oktober 2019, Regie Daniel Morales Pérez), Staatstheater Nürnberg (Premiere 26. Oktober 2019, Regie Melissa King), Deutsches Nationaltheater Weimar (Premiere 30. April 2020, Regie Otto A. Thoß), Seefestspiele Mörbisch (Premiere 9. Juli 2020, Regie Werner Sobotka). Und dann gibt es auch noch die Tourneeproduktion der BB Promotion GmbH, die „alle Jahre wieder“ nicht nur durch die deutschsprachigen Lande tourt.

Was zeichnet nun die „West Side Story“ am Opernhaus Bonn aus, warum sollte man diese gesehen haben? Um ehrlich zu sein, kann man diese Frage erst beantworten und weiß die Bonner Produktion entsprechend zu schätzen, nachdem man bereits einige Inszenierungen gesehen hat. Natürlich unterscheidet sich die Handlung in Bonn nicht grundlegend von der anderer Inszenierungen, hier geht es nicht etwa um Kurden und Muslime, auch hier kämpfen die Einheimischen der New Yorker West Side (‚Jets’) gegen die ein­ge­wan­derten Puertoricaner (‚Sharks’) um die Vorherrschaft in ihrem Block. Auch hier tötet Bernardo in einem Kampf Tonys besten Freund Riff, woraufhin Tony Bernardo tötet und, nachdem er von Marias vermeintlichem Tod erfahren hat, seinen eigenen Tod öffentlich herausfordert. Das Unverständnis zwischen den Generationen und Migrationskonflikte sind die zentralen, zeitlosen Themen der „West Side Story“, immer und überall. Clan-Kriminalität ist auch in Deutschland insbesondere in Ballungsgebieten ein verbreitetes Phänomen.

An dieser Stelle setzt Regisseur Erik Petersen („Carmen“, Musicalsommer Winzendorf 2019; „Rebecca“, DomplatzOpenAir Magdeburg 2020) mit seiner Inszenierung an: Er hat die Handlung aus den Hinterhöfen der West Side in den 1950er-Jahren in eine heutige New Yorker Subway Station verlagert, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Ausstatter Dirk Hofacker („Der kleine Horrorladen (Little Shop of Horrors)“, Theater Bonn 2015, Regie Erik Petersen) hat hierfür das adäquate, detailverliebte Bühnenbild entworfen, das auf drei Etagen natürlich auch die bekannten Schauplätze der „West Side Story“ wie den Drugstore auf der Bahnsteigebene und die Außenfassade des Brautmodengeschäftes, in dem Anita und Maria arbeiten, auf der obersten Ebene beinhaltet. Und selbstverständlich gibt es auch zwei „U-Bahn-Züge“, die über die Bühne fahren und als Ort der Handlung für die ein oder andere Szene fungieren. Die Subway Station verschwindet in den entsprechenden Szenen vor Marias Wohnung hinter einem Bühnenprospekt, auf dem das typische Backsteingebäude mit den bekannten Feuertreppen an der Front zu sehen ist. Da Tony auf den aufgemalten Feuertreppen schlecht nach oben zu Maria klettern kann, muss sie eben zu ihm nach unten vor den Bühnenprospekt kommen. Aus dem „Dance at the Gym“ (Tanz in der Sporthalle) ist „Glad Hands New York City Subway Party“ geworden, die erste Szene im zweiten Akt („I feel pretty“) hat die Regie in die Garderobe eines Clubs verlegt, in der sich die Mädchen der ‚Sharks‘ für ihren Bühnenauftritt stylen. Die Kostümentwürfe von Dirk Hofacker reichen von heutigen „Alltagsklamotten“ bis hin zu recht auffälligen Outfits von Lt. Schrank als Alt-68er und Glad Hand als Elton John-Verschnitt. Leonard Bernsteins facettenreiche Partitur mit den bekannten und unvergesslichen Melodien „Maria“, „America“, „Somewhere“, „Tonight“ u. a. ist beim Beethoven Orchester Bonn unter der Musikalischen Leitung von Daniel Johannes Mayr bestens aufgehoben, mehr als 30 Musiker*innen im Orchestergraben sind das Pfund, mit dem diese Produktion der „West Side Story“ wuchern kann. Da sind die „aus technischen Gründen“ fehlenden Übertitel bei den Songs in englischer Sprache leicht verschmerzbar, die lenken sowieso nur vom Bühnengeschehen ab. Gibt es 62 Jahre nach der Premiere am Broadway überhaupt noch jemanden, der nicht weiß, um was es in der „West Side Story“ geht und wovon die Darsteller*innen singen?

Die 30 auf der Bühne agierenden Darsteller*innen – lediglich die Rollen von Mouthpiece, Juano und Marguerita lt. Textbuch der MUSIK UND BÜHNE Verlagsgesellschaft mbH sind in Bonn nicht besetzt, was der Sache nicht den geringsten Abbruch tut – überzeugen vom getanzten Prolog bis zum Finale, von Beginn an wird klar, dass auch in dieser Inszenierung – wie in der von Jerome Robbins choreografierten Uraufführung – besonderer Wert auf die Tanzsequenzen gelegt wird, die Sabine Arthold („Carmen“, Musicalsommer Winzendorf 2019, Regie Erik Petersen; „Sunset Boulevard“, Bühne Baden 2020, Regie Andreas Gergen) einstudiert hat und die mit beeindruckender Synchronität und Leichtigkeit umgesetzt werden. Jan Rekeszus und Marie Heeschen spielten in der Premiere die Rollen des jungen Liebespaares, Musicaldarsteller trifft auf klassische Sopranistin, wobei die Rolle der Maria mit Marie Heeschen und der Musicaldarstellerin Sybille Lambrich doppelt besetzt ist. Die Spieltermine der beiden Darstellerinnen können der Website des Theaters Bonn entnommen werden.

Jan Rekeszus (Perchik in „Anatevka“, Theater Magdeburg, Regie Erik Petersen; Ludwig in „Ludwig² – Das Musical“, Ludwigs Festspielhaus Füssen, Regie Benjamin Sahler), der 2016 sein Studium im Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste Berlin abgeschlossen hat, ist ohne Zweifel einer der herausragenden Darsteller dieser Produktion. Als jugendlicher Träumer fühlt er sich inzwischen zu alt für die ‚Jets‘ und möchte mit „seiner“ Maria in Frieden leben, ein Traum, der in einer Welt ohne Toleranz zum Scheitern verurteilt ist. Die klassisch ausgebildete Sopranistin Marie Heeschen (Papagena in „Die Zauberflöte“, Regie Jürgen Rose, Mark Daniel Hirsch; Adele in „Die Fledermaus“, Regie Aron Stiehl, Theater Bonn) ist seit der Spielzeit 2016/2017 festes Ensemblemitglied am Theater Bonn. Charmant berührt sie als Auswanderermädchen Maria das Publikum und harmoniert auch sehr gut mit Jan Rekeszus. Ihr Appell an die zwischenzeitlich zusammengelaufenen Banden gegen die Sinnlosigkeit des Kämpfens und Mordens gerät zum bewegenden Höhepunkt der Aufführung. Marias Freundin Anita wurde in der Premiere von Dorina Garuci (Gianna in „Wahnsinn! Das Musical mit den Hits von Wolfgang Petry“, Regie Gil Mehmert, diverse Spielorte; Betty Schaefer in „Sunset Boulevard“, Bühne Baden 2020, Regie Andreas Gergen) gespielt, die Marias Bruder Bernardo von den Vorzügen des Lebens in Amerika überzeugen möchte. Sie hat die Rolle der Anita bereits in der Dortmunder Produktion der „West Side Story“ (Premiere 24. November 2018, Regie Gil Mehmert) verkörpert und kommt sowohl in humorvollen als auch in den dramatischen Szenen wie der „Taunting Scene“ glaubhaft über die Rampe. Auch die Rolle der Anita ist mit Dorina Garuci und Amani Robinson doppelt besetzt. Lucas Baier (Danny Zuko in „Grease“, Luisenburg-Festspiele Wunsiedel 2019, Regie Peter Hohenecker; Nick Piazza in „Saturday Night Fever“, Gandersheimer Domfestspiele 2018, Regie Marc Bollmeyer) als Riff und Andreas Wolfram (Riff in der „West Side Story“, Oper Leipzig, Regie Mario Schröder; Malcolm X im Chormusical „Martin Luther King – Ein Traum verändert die Welt“, diverse Spielorte, Regie Andreas Gergen) als Bernado, der die Rolle des Anführers der ‚Sharks‘ bereits in den Produktionen der „West Side Story“ in der Inszenierung von Enrique Gasa Valga am Tiroler Landestheater Insbruck und von Josef E. Köpplinger an der Oper Graz gespielt hat, lassen Führungsqualitäten als aggressive Gegenspieler bei den ‚Jets‘ bzw. ‚Sharks‘ erkennen.

Das Premierenpublikum war nach knapp dreistündiger Vorstellung begeistert und feierte Darsteller und Kreativteam mit langanhaltendem Stehapplaus, der sicher noch länger ausgefallen wäre, wenn er nicht durch den Bühnenvorhang und das Licht im Auditorium beendet worden wäre. Bisher sind insgesamt 28 Vorstellungen bis zum 28. Juni 2020 disponiert, was immerhin etwa 28.000 Besuchern die Gelegenheit gibt, eine Vorstellung der sehenswerten „West Side Story“ am Opernhaus Bonn zu erleben. Für Besucher mit gutem Langzeitgedächtnis wurde bereits die Musical-Produktion der Spielzeit 2020/2021 in Aussicht gestellt: In etwa einem Jahr soll „Young Frankenstein“ von Mel Brooks (Musik, Liedtexte, Buch) und Thomas Meehan (Buch) basierend auf der Horrorfilm Parodie gleichen Namens in einer Inszenierung von Erik Petersen Premiere am Opernhaus Bonn feiern, das am 8. November 2007 am Lyric Theatre uraufgeführt und am 18. Mai 2013 an der Oper Halle als deutschsprachige Erstaufführung gezeigt wurde.

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