Theater Koblenz: „Chess – Das Musical“

„Chess“ – Musik: Benny Andersson, Björn Ulvæus; Songtexte, Buch: Tim Rice; Deutsche Fassung: Kevin Schroeder; Regie: Markus Dietze; Choreografie: Katrin Wolfram; Bühne und Kostüme: Christian Binz; Video: Georg Lendorff; Dramaturgie: Nathalie Thomann; Musikalische Leitung: Karsten Huschke. Darsteller: Marcel Rolf Hoffmann (Frederick Trumper, amerikanischer Großmeister), Monika Maria Staszak (Florence Vassy, Fredericks Geliebte/Assistentin), Markus Schneider (Anatoly Sergievsky, russischer Großmeister), Adrian Becker (Alexander Molokov, Chef der russischen Delegation), Wolfram Boelzle (Walter de Courcey, Chef der amerikanischen Delegation), Christof Maria Kaiser (Schiedsrichter), Michèle Silvestrini (Svetlana Sergievskaya, Anatolys Frau). Reporter/Pop-Chor: Raphaela Crossey, Hyunhwa Lee, Dorothee Lochner, Mario Mariano, Ian McMillan, Klaus Phillip, Michael Seifferth, Charlotte Irene Thompson. Opernchor, Extrachor, Ballett, Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Uraufführung: 14. Mai 1986, Prince Edward Theatre, London. Broadway-Premiere: 28. April 1988, Imperial Theatre, New York City. Deutsche Erstaufführung: 5. Februar 2000, Kurhaus Baden-Baden. Deutschsprachige Erstaufführung: 2. Februar 2002, Staatstheater Kassel. Premiere: 18. August 2018, Festung Ehrenbreitstein, Koblenz. Besuchte Vorstellung: 19. August 2018.



„Chess – Das Musical“


Der „Kalte Krieg“ als Musical auf der Festung Ehrenbreitstein


Im Sommer 1972 fand während des Kalten Krieges in der isländischen Hauptstadt Reykjavík die Schachtweltmeisterschaft zwischen dem amtierenden russischen Weltmeister Boris Spasski und seinem amerikanischen Herausforderer Bobby Fischer statt, die über die Schachwelt hinaus Aufsehen erregte und durch die Massenmedien zum „Match des Jahrhunderts“ und zum „Wettkampf der Systeme“ stilisiert wurde. Bobby Fischer besiegte Boris Spasski, der daraufhin in seiner Heimat in Ungnade fiel. 1976 verließ Boris Spasski aus politischen Gründen die Sowjetunion und siedelte nach Frankreich über. 2012 kehrte er nach Moskau zurück.

„Chess“, Theater Koblenz, Marcel Hoffmann (Frederick Trumper) und Monika Maria Staszak (Florence Vassy). Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

Librettist Tim Rice, der zusammen mit Andrew Lloyd Webber bereits an „Jesus Christ Superstar“ (Uraufführung 12. Oktober 1971, Mark Hellinger Theatre, New York City) und „Evita“ (Uraufführung 21. Juni 1978, Prince Edward Theatre, London) gearbeitet hatte, wollte aus dem Event ein Musical machen und fand mit Benny Andersson und Björn Ulvæus (ABBA) brillante Komponisten und Songschreiber. „Chess“ erschien – wie schon „Jesus Christ Superstar“ und „Evita“ – zunächst im Herbst 1984 als Konzeptalbum, das von Murray Head (The American), Tommy Körberg (The Russian), Elaine Paige (Florence), Denis Quilley (Molokov), Björn Skifs (The Arbiter) und Barbara Dickson (Svetlana) eingesungen worden war. Am 14. Mai 1986 feierte das Musical schließlich am Prince Edward Theatre in London seine Uraufführung, Murray Head (The American), Tommy Körberg (The Russian), Elaine Paige (Florence) standen in den Rollen auf der Bühne, die sie bereits für das Konzeptalbum eingesungen hatten, Trevor Nunn führte Regie. Für die Broadway-Produktion (Regie Trevor Nunn, Premiere 28. April 1988, Imperial Theatre, New York City) hatte Dramatiker Richard Nelson das Buch grundlegend umgeschrieben, diese geriet jedoch mit nur 68 Aufführungen zum Flop. Die deutsche Erstaufführung am Kurhaus Baden-Baden (Premiere 5. Februar 2000, Regie Maciej Korwin, deutsche Dialoge Corinna Boskovsky) orientierte sich an der Londoner Fassung von 1986, wohingegen sich die deutschsprachige Erstaufführung am Staatstheater Kassel (Premiere 2. Februar 2002, Regie Matthias Davids, deutsche Übersetzung Ulrich Brée, Markus Linder) an der Broadway-Fassung orientierte. Im Frühjahr 2018 gab es ein West End Revival im London Coliseum (Premiere 26. April 2018, Regie Laurence Connor) mit Tim Howar (Frederick Trumper), Cassidy Janson (Florence Vassy), Michael Ball (Anatoly Sergievsky), Phillip Browne (Alexander Molokov), Cedric Neal (Schiedsrichter), Alexandra Burke (Svetlana Sergievskaya) u. a., und im Februar 2018 wurde eine Pre-Broadway Tryout Produktion (Buch Danny Strong, Regie Michael Mayer) im John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington, D.C., mit Raúl Esparza (Frederick Trumper), Karen Olivo (Florence Vassy), Ramin Karimloo (Anatoly Sergievsky), Bradley Dean (Alexander Molokov), Sean Allan Krill (Walter de Courcey), Bryce Pinkham (Schiedsrichter), Ruthie Ann Miles (Svetlana Sergievskaya) u. a. gezeigt. Das Theater Koblenz spielt das Musical in der 2014 aktualisierten deutschen Übersetzung von Kevin Schroeder, die erstmals am Opernhaus Chemnitz (Premiere 10. Oktober 2015, Regie Thomas Winter) zur Aufführung kam.

„Chess“, Theater Koblenz, Mario Mariano, Markus Schneider (Anatoly Sergievsky), Charlotte Irene Thompson. Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

Bei der Schachweltmeisterschaft in Meran wird der amerikanische Titelverteidiger Frederick Trumper vom russischen Schachgenie Anatoly Sergievsky herausgefordert. In Zeiten des Kalten Krieges wird von beiden Seiten versucht, mit unlauteren Mitteln Einfluss auf das bedeutende Duell zu nehmen. Hierbei spielt die attraktive Ungarin Florence Vassy eine besondere Rolle, Fredericks Sekundantin und Geliebte, die auf der Suche nach Informationen über ihren beim Volksaufstand von 1956 verschollenen Vater ist. Aufgrund Frederick Trumpers launenhaft aggressiven Verhaltens kommt es zum Zerwürfnis zwischen den beiden, und Florence verliebt sich in Anatoly Sergievsky, der nach dem Sieg als neuer Schach­welt­meister die Gelegenheit nutzt, im Westen zu bleiben. Ein Jahr später muss Anatoly Sergievsky seinen Titel bei der Weltmeisterschaft im thailändischen Bangkok gegen den linientreuen Herausforderer Leonid Viigand verteidigen. Doch das eigentliche Spiel findet erneut jenseits des Schachbretts statt: Molokov versucht den Champion durch das Eintreffen von Anatolys Frau Svetlana und das Angebot eines Austausches von Florences Vater gegen den Sieg von Leonid Viigand aus der Ruhe zu bringen. Anatoly Sergievsky erhält unerwartet Unterstützung von Frederick Trumper, der die Schach­welt­meister­schaft als TV-Reporter verfolgt, und gewinnt erneut das Turnier, kehrt dann aber nach Russland zurück. Florence Vassy erfährt schließlich, dass niemand augenblicklich weiß, ob ihr Vater überhaupt noch lebt.

„Chess“, Theater Koblenz, Adrian Becker (Alexander Molokov), Opernchor. Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

Mit dem Filmmusical „Mamma Mia! Here We Go Again“ sind Benny Andersson und Björn Ulvæus (ABBA) seit Juli 2018 wieder in den Lichtspielhäusern präsent, die Bühnenfassung von „Mamma Mia! – Das Musical“ tourt augenblicklich schon wieder durch den deutschsprachigen Raum, doch ihr erstes Musical „Chess“ steht nach dem Mauerfall, der Auflösung der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende des Kalten Krieges eher selten auf den Spielplänen der deutschsprachigen Theater, ihr zweites Musical „Kristina från Duvemåla“ (Uraufführung 7. Oktober 1995, Malmö Opera and Music Theatre) wurde meines Wissens noch niemals in Deutschland gezeigt. Regisseur Markus Dietze hat die Produktion auf der Festung Ehrenbreitstein als Intendant des Theaters Koblenz zur „Chefsache“ gemacht und erzählt die Geschichte der Protagonisten in Anlehnung an die erfolgreiche Londoner Aufführung aus dem Jahr 1986 unter Einbeziehung des für die Broadway Fassung neu geschriebenen Songs „Someone else’s story“ in der deutschen Übersetzung „In einem anderen Leben“ von Kevin Schroeder. Ausstatter Christian Binz hat für die Aufführung einen einfachen, in Schwarz-Weiß-Tönen gehalten Bühnenraum geschaffen, der den bespielten vorderen Teil der Bühne durch eine Trennwand vom Orchester auf dem hinteren Teil der Bühne separiert. Vier zweiflüglige Schwingtüren in dieser Trennwand schaffen beliebige Auf- und Abtrittsmöglichkeiten für die Akteure. Die rückwärtige LED-Wand, auf der Videosequenzen mit bedeutungsvollen Landschaftsaufnahmen, historischen Fotos und Filmsequenzen sowie computeranimierte Schachfiguren (Video Georg Lendorff) gezeigt werden, sorgt für eine entsprechende Verortung der Szenen. Häufig kommt auch eine Handkamera auf der Spielfläche zum Einsatz, deren Bilder von den Protagonisten live – mit sichtbarer Verzögerung von Sekundenbruchteilen – in Überlebensgröße auf der LED-Wand gezeigt werden, so dass man auch in der letzten Reihe noch erkennen kann, dass die Akteure keine 20 mehr sind. (Boris Spasski war bei der Schachweltmeisterschaft 1972 25 Jahre alt, sein amerikanischen Herausforderer Bobby Fischer 19 Jahre.) Das Kostümdesign ist passend zu den 1980er-Jahren vor dem Ende des Kalten Krieges gewählt. Die von den beiden Kontrahenten auf dem Schachbrett ausgetragenen Kämpfe werden vom Ballett zu den Instrumentalstücken „Chess #1“ und „Chess #2“ tänzerisch ausdrucksstark umgesetzt (Choreografie Katrin Wolfram). Das Staatsorchester Rheinische Philharmonie hat die symphonischen Passagen der Partitur unter der Musikalischen Leitung von Karsten Huschke bestens im Griff, die rockigen Passagen dürften für mein Empfinden noch ein wenig härter ausfallen. Transparenz und Abmischung zwischen Orchester, Gesangssolisten und Chor vertragen in jedem Fall noch Feintuning, häufig überdeckt das Orchester einzelne Solisten, so dass es um die Textverständlichkeit nicht immer gut bestellt ist. Ich nehme an, dass man sich wegen der Textverständlichkeit für die deutsche Übersetzung der Songs entschieden hat, die dann aber auch akustisch dementsprechend begünstigt werden sollte.

„Chess“, Theater Koblenz, Adrian Becker (Alexander Molokov), Alexander Stumpf (Leonid Viigand), Christof Maria Kaiser (Schiedsrichter), Markus Schneider (Anatoly Sergievsky). Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

Die Darstellerriege wird von Marcel Hoffmann, Monika Maria Staszak und Markus Schneider angeführt, deren Figuren in eine tragische Dreiecksgeschichte verwickelt werden. Marcel Hoffmann (Skimbleshanks in „Cats“, Theater Koblenz) ist als egozentrischer amerikanischer Großmeister Frederick Trumper von der Suche nach Ruhm und Geld besessen, mit „Sei nie ein Kind“ („Pitty the child“) gibt er eindringlich zu erkennen, dass er von Verzweifelung getrieben ist. Seine Interpretation des bekannten Hits „One night in Bangkok“ im englischen Original zu Beginn des zweiten Aktes kann nach meinem Empfinden jedoch nicht mit der Interpretation von Murray Head konkurrieren. Monika Maria Staszak (Svetlana in „Chess“, Staatsoperette Dresden; Grizabella in „Cats“, Theater Koblenz; Mutter in „Ragtime“, Staatstheater Braunschweig und Kassel, Oper Graz) sitzt als selbstbewusste, durchsetzungsstarke Ungarin Florence Vassy zwischen allen Stühlen, zunächst als Beraterin und Partnerin an der Seite des Amerikaners Frederick Trumper, geht sie bald darauf eine Bindung zu seinem Kontrahenten Anatoly Sergievsky ein. Entschlossen geht sie als Frau mit Format und Erfahrung ihren Weg. Gesanglich kann sie mit kraftvoller, tragender Stimme in den Balladen „Jeder geht allein seinen Weg“ („Nobody’s side“) und „Hab ich eine Wahl?“ („Heaven help my heart“) auftrumpfen. Markus Schneider (Jüngerer Bruder in „Ragtime“, Staatstheater Braunschweig und Kassel, Oper Graz; Riff in der „West Side Story“, DomplatzOpenAir Magdeburg, Theater Dortmund) verleiht dem eher zurückhaltenden russischen Großmeister Anatoly Sergievsky Gestalt, der Politik und Propaganda hasst, mit der leidenschaftlichen Hymne „Mein Heimatland“ („Anthem“) bringt er die Tragik seiner Situation bewegend zum Ausdruck. Michèle Silvestrini aus dem Opernchor des Theaters Koblenz erscheint als Anatolys Ehefrau Svetlana Sergievskaya erst im zweiten Akt auf der Bildfläche und ordent sich ihrem Schicksal als verlassene Ehefrau und Mutter beinahe unter. Mit der Ballade „In einem anderen Leben“ („Someone else’s story“) und im Duett „Ich kenn ihn so gut“ („I know him so well“) hat sie gefühlvolle Momente und ergänzt sich stimmlich wunderbar mit Monika Maria Staszak. Adrian Becker (Rum Tum Tugger in „Cats“, Theater Koblenz) liefert als manipulativer Chef der russischen Delegation Alexander Molokov mit tragender, kräftiger Stimme und ausgeprägter Mimik und Gestik eine überaus überzeugende Performance ab. Um sein Ziel zu erreichen, kooperiert dieser auch mit der Gegenseite in Gestalt von Walter de Courcey, gespielt von Wolfram Boelzle aus dem Schauspielensemble des Theaters Koblenz. Christof Maria Kaiser (Bustopher Jones in „Cats“, Theater Koblenz) zeigt als Schiedsrichter mit „Ich bin der Referee“ („The Arbiter“) Bühnenpräsenz. Häufig werden die Akteure von verschiedenen Mitgliedern des Pop-Chors (Raphaela Crossey, Hyunhwa Lee, Dorothee Lochner, Mario Mariano, Ian McMillan, Klaus Phillip, Michael Seifferth, Charlotte Irene Thompson) als Reporter gefilmt und auf die rückwärtige LED-Wand übertragen, wobei die Reporterriege selbst auch in Videosequenzen mit im Vorfeld aufgenommenen Reportagen zu sehen ist. In den live übertragenden Bildern wird deutlich, dass die Einzelheiten, die durch die Kameraführung herausgehoben werden, nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden und diese überdeutlich in den Fokus rücken: Die Öffentlichkeit bekommt in den Medien nur den durch die Worte und die Kameralinse der Reporter gefilterten Ausschnitt des Ganzen präsentiert.

„Chess“, Theater Koblenz, Michèle Silvestrini (Svetlana Sergievskaya), Markus Schneider (Anatoly Sergievsky), Monika Maria Staszak (Florence Vassy), Popchor, Opernchor, Extrachor. Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

„Chess“ steht auf der Festung Ehrenbreitstein noch bis kommenden Sonntag auf dem Spielplan des Theaters Koblenz. Ob das Wetter aber so sommerlich bleibt wie am vergangenen Wochenende, das wird sich erst noch zeigen.

„Chess“, Theater Koblenz, Michèle Silvestrini (Svetlana Sergievskaya), Alexander Stumpf (Leonid Viigand), Christof Maria Kaiser (Schiedsrichter), Markus Schneider (Anatoly Sergievsky), Monika Maria Staszak (Florence Vassy), Popchor, Opernchor, Extrachor. Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz

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