„Songs for a New World (Lieder für eine neue Welt)“


„Songs for a New World (Lieder für eine neue Welt)“ – Buch, Musik und Gesangstexte: Jason Robert Brown; Deutsch von Wolfgang Adenberg; Inszenierung, Bühne: Gil Mehmert; Kostüme Falk Bauer; Choreografie Jörn-Felix Alt; Dramaturgie: Laura Knoll; Musikalische Leitung: Christoph JK Müller. Darsteller: Sybille Lambrich (Frau 1), Bettina Mönch (Frau 2), David Jakobs (Mann 1) und Rob Pelzer (Mann 2). Uraufführung: 11. Oktober 1995, WPA Theater, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 6. März 2010, Kurt-Weill-Fest, Dessau. Premiere: 27. September 2020, Theater Dortmund, Opernhaus.



„Songs for a New World (Lieder für eine neue Welt)“


Jason Robert Browns Erstlingswerk am Opernhaus Dortmund


Der amerikanische Musicalkomponist und -texter Jason Robert Brown (* 1970 in Ossining, New York) begann seine Karriere als Arrangeur, Dirigent und Pianist und spielte in diversen Nachtclubs und Pianobars in New York City. „Songs for a New World“ ist seine erste größere Produktion mit eigenen Songs. Nach einem Workshop in Toronto wurde das Stück Off-Broadway am WPA Theater in 28 Aufführungen gezeigt (Uraufführung: 11. Oktober 1995), Regie führte Daisy Prince, Tochter des amerikanischen Musical-Produzenten Harold Prince. Am 6. März 2010 präsentierten die Absolventen 2010 des Studiengangs Musical/Show der Universität der Künste Berlin unter der Leitung von Peter Kock beim Kurt-Weill-Fest in Dessau erstmalig das gesamte Stück in einer deutschen Fassung von Wolfgang Adenberg als Auftragswerk für das Kurt-Weill-Fest. In Zeiten der COVID-19-Pandemie haben in der aktuellen Spielzeit neben dem Theater Dortmund auch noch weitere Spielstätten die für vier Darsteller*innen und fünf Musiker*innen konzipierte Produktion im Spielplan (Theater Lüneburg, Regie Friedrich von Mansberg, Premiere 14. November 2020; Landestheater Linz, Regie Simon Eichenberger, Premiere 27. November 2020; Pfalztheater Kaiserslautern, Premiere 12. Juni 2021). Weitere bekannte Werke von Jason Robert Brown sind „Parade“ (Uraufführung 17. Dezember 1998, Vivian Beaumont Theater, Regie Harold Prince; Deutschsprachige Erstaufführung der Fassung von Wolfgang Adenberg (2020) 27. März 2021, Landesbühnen Sachsen, Regie Sebastian Ritschel), „The last five years“ (Off-Broadway Premiere: 3. März 2002, Minetta Lane Theatre, Regie Daisy Prince; Deutsche Erstaufführung 18. Juni 2005, Rex-Theater Wuppertal, Regie Christoph Drewitz, Daniel Witzke), „13“ (Broadway Premiere 5. Oktober 2008, Bernard B. Jacobs Theatre, Regie Jeremy Sams; Deutsche Erstaufführung 7. Juli 2012, Opernhaus Halle, Regie Hansjörg Zäther), „The Bridges of Madison County“ (Broadway Premiere 20. Februar 2014, Gerald Schoenfeld Theatre, Regie Bartlett Sher; Deutsche Erstaufführung 18. März 2017, Theater Trier, Regie Ulrich Wiggers).

Opernhaus Dortmund (August 2020)

„Songs for a New World“ bewegt sich an der Grenze zwischen Musical und Songzyklus, es hat keine zusammenhängende Handlung, sondern jeder Song erzählt für sich eine kleine Geschichte. „Songs for a New World“ handelt von Momenten im Leben, an denen Menschen an einem Wendepunkt angekommen sind, an dem sie sich entscheiden müssen. Jason Robert Brown hat sein Stück folgendermaßen kommentiert: „Es geht um solche Momente, in denen man gezwungen ist, eine Mauer zu zertrümmern, Stellung zu beziehen oder sich umzudrehen und zurückzugehen.“ Einige wagen den Schritt in eine neue Welt, andere lassen den Moment verstreichen… eine Frau droht ihrem Ehemann, sich in den Abgrund zu stürzen, wenn sie keinen Nerzmantel bekommt („Nur ein Schritt“/„Just One Step“), ein junger Mann aus ärmlichen Verhältnissen möchte als berühmter Basketballspieler der Armut entkommen („Der Dampfzug“/„The Steam Train“), die Ehefrau von Santa Claus will sich von ihrem Mann trennen, weil sie Weihnachten allein verbringen muss („Surabaya-Santa“ als Parodie auf „Surabaya Johnny“ aus „Happy End“ von Kurt Weill und Bert Brecht). Die Stilrichtung der 16 Songs von Jason Robert Brown erstreckt sich von Swing über Gospel und Funk bis zu Rhythm and Blues.

Erster Akt
• Ensemble: „Die neue Welt“ („The New World“)
Mann 1, Ensemble: „Auf dem Deck eines spanischen Segelschiffs, 1492“ („On the Deck of a Spanish Sailing Ship, 1492“)
Frau 2: „Nur ein Schritt“ („Just One Step“)
Frau 1: „Ich hab nie Angst“ („I’m Not Afraid of Anything“)
Mann 1, Mann 2, Ensemble: „Es sprudelt kein Fluss“ („The River Won’t Flow“)
Frau 1: Überleitung zu „Sterne und Mond“ („Stars and the Moon“)
Frau 2: „Sterne und Mond“ („Stars and the Moon“)
Mann 2: „Sie weint“ („She Cries“)
Mann 1, Ensemble: „Der Dampfzug“ („The Steam Train“)

Zweiter Akt
Mann 2, Frau 1, Ensemble: „Die Welt tanzte“ („The World Was Dancing“)
Frau 2: „Surabaya-Santa“
Frau 1: „Wiegenlied zur Weihnacht“ („Christmas Lullaby“)
Mann 1: „König der Welt“ („King of the World“)
Mann 2, Frau 1: „Das alles gäb’ ich her“ („I’d Give It All For You“)
Mann 1: Überleitung zu „Die Flaggenmacherin, 1775“ („The Flagmaker, 1775“)
Frau 2: „Die Flaggenmacherin, 1775“ („The Flagmaker, 1775“)
Mann 1, Ensemble: „Ich fliege heim“ („Flying Home“)
• Ensemble: Letzte Überleitung „Die neue Welt“ („The New World“)
• Ensemble: „Hör mein Lied“ („Hear My Song“)

Regisseur Gil Mehmert („Grand Hotel“, Folkwang Universität der Künste, Essen, Premiere 19. November 2020; „Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz, Köln, Premiere 29. Oktober 2020; „Die letzten fünf Jahre“, Stiftsruine Bad Hersfeld, Premiere 31. Juli 2020; „Wüstenblume“, Theater St. Gallen, Uraufführung 22. Februar 2020, Wiederaufnahme 20. November 2020; „Jekyll & Hyde“, Opernhaus Dortmund, Premiere 12. Oktober 2019, Wiederaufnahme 28. Februar 2021; „Das Wunder von Bern“, Theater an der Elbe, Hamburg, Uraufführung: 23. November 2014), der auch für das überzeugende Bühnenbild verantwortlich zeichnet, hat gemeinsam mit Kostümbildner Falk Bauer („Jekyll & Hyde“, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere 12. Oktober 2019, Wiederaufnahme 28. Februar 2021; „Cabaret“, Volksoper Wien, Regie Gil Mehmert, Premiere: 14. September 2019, Wiederaufnahme 22. Oktober 2020; „West Side Story“, Regie Gil Mehmert, DomplatzOpenAir Magdeburg, Premiere 16. Juni 2017, Opernhaus Dortmund, Premiere 24. November 2018) einen ansprechenden Rahmen für jede der 16 Kurzgeschichten geschaffen, in denen die Darsteller*innen dank ausgeklügelter Personenführung genügend Abstand halten und dementsprechend auf alternative Schutzmaßnahmen wie Schutzmasken, Mund-Nase-Bedeckungen oder flüssigkeitsundurchlässige Visiere verzichten können. Das mag sich für den ein oder anderen bei lediglich vier Darsteller*innen auf der großen Bühne des Opernhauses zunächst trivial anhören, aber bekanntlich steckt der Teufel im Detail: Für Sängerinnen und Sänger ist es nämlich mit 1,50 m Abstand beileibe nicht getan, und daher will jede Bewegung, jede Weitergabe von Requisiten oder Kostümen sorgfältig bedacht sein. Ich kann versichern, die Mühe hat sich gelohnt, die leidenschaftliche Inszenierung sieht nicht ansatzweise nach einer „Behelfslösung“ aus, sondern besticht durch Ideenreichtum und ein überaus spielfreudiges Ensemble. Das Bühnenbild besteht aus einem großem Podest, auf das eine Windrose gemalt ist, die in der See- und Luftfahrt zur Orientierung dient, und dahinter ein Systemgerüst (Arbeitsgerüst). In Windeseile verwandeln sich Podest und Systemgerüst in ein Segelschiff, ein Penthouse in der Park Avenue, eine Bar usw. In jedem Fall sehr viel mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Zu jeder Szene gibt es natürlich auch das passende, stimmungsvolle Lichtdesign. Musicaldarsteller Jörn-Felix Alt (Clifford Bradshaw in „Cabaret“, Volksoper Wien, Regie Gil Mehmert, Wiederaufnahme 22. Oktober 2020) zeichnete bereits für die Choreografie in „Go Trabi Go – Eine musikalische Road-Komödie“ (Regie Katja Wolff, Comödie Dresden, Premiere 14. September 2018, Wiederaufnahme 19. Mai 2021) verantwortlich, für die er mit dem Deutschen Musical Theater Preis 2019 ausgezeichnet wurde. „Songs for a New World“ wird mitunter auch als Musical-Revue bezeichnet, aber niemand wird ernsthaft eine Revue wie im Friedrichstadt-Palast Berlin erwarten, vielmehr unterstreicht die Choreografie/das Staging von Jörn-Felix Alt das Bühnengeschehen einfühlsam ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die fünfköpfige Combo bringt Jason Robert Browns Partitur unter der Musikalischen Leitung von Kapellmeister Christoph JK Müller ganz wunderbar zu Gehör. Die Orchesterbesetzung mit Piano, Keyboard, Drums, Percussion und Bass hat herzlich wenig mit den Einschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie zu tun, sondern entspricht vollumfänglich den Vorgaben der Musik und Bühne Verlagsgesellschaft.

David Jakobs (Henry Jekyll/Edward Hyde in „Jekyll & Hyde“, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere 12. Oktober 2019, Wiederaufnahme 28. Februar 2021; Luigi Lucheni in „Elisabeth“, Ehrenhof von Schloss Schönbrunn, Wien, Regie Gil Mehmert, Premiere 5. Juli 2019, Wiederaufnahme 1. Juli 2021; Frank Abagnale Jr. in „Catch me if you can“, Staatstheater Nürnberg, Regie Gil Mehmert, Premiere 6. Oktober 2018; Quasimodo in „Der Glöckner von Notre Dame“, Regie Scott Schwartz, Theater des Westens, Premiere: 9. April 2017, Deutsches Theater München, Premiere 12. November 2017, Apollo Theater Stuttgart, Premiere 18. Februar 2018) verkörpert in „Auf dem Deck eines spanischen Segelschiffs“ den Kapitän des Schiffs, auf dem vermutlich Juden das Land verlassen, die durch das Alhambra-Edikt zum 31. Juli 1492 aus allen Territorien der Krone von Kastilien und der Krone von Aragón vertrieben wurden, sofern sie bis dahin nicht zum Christentum übergetreten waren. Ebenso könnte es sich um eines der drei Schiffe Santa Maria, Niña und Pinta handeln, mit denen sich Christoph Kolumbus am 3. August 1492 von Palos de la Frontera im Auftrag der kastilischen Krone auf den Weg machte, um eine Westroute nach Indien zu erschließen. Tatsächlich erreichten die Schiffe am 12. Oktober 1492 Guanahani, eine Insel im Bereich der heutigen Bahamas, wo Christoph Kolumbus erstmals amerikanischen Boden betrat. Die sogenannte „Entdeckung Amerikas“ dürfte womöglich geläufiger sein als das Alhambra-Edikt. Auch als entschlossener junger Mann aus der Bronx, der von einem Leben als berühmter Basketballstar träumt („Der Dampfzug“), und als verzweifelter Mann in einer Gefängniszelle, der nicht versteht, warum er eingesperrt wurde, obwohl er nur versucht hatte, Gutes zu tun („König der Welt“), weiß David Jakobs für sich einzunehmen. Bettina Mönch (Hexe in „Into the Woods“, Premiere 13. März 2021, Volksoper Wien, Regie Olivier Tambosi; Cathy Hiatt in „Die letzten fünf Jahre“, Stiftsruine Bad Hersfeld, Regie Gil Mehmert, Premiere 31. Juli 2020; Lucy in „Jekyll & Hyde“, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere 12. Oktober 2019, Wiederaufnahme 28. Februar 2021; Sally Bowles in „Cabaret“, Stiftsruine Bad Hersfeld, Regie Gil Mehmert, Premiere 19. Juni 2015, Wiederaufnahme 12. August 2016, Volksoper Wien, Regie Gil Mehmert, Premiere: 14. September 2019, Wiederaufnahme 22. Oktober 2020, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere September 2021; Sheila Franklin in „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“, Staatstheater am Gärtnerplatz München, Regie Gil Mehmert, Premiere 25. Februar 2016, Stiftsruine Bad Hersfeld, Regie Gil Mehmert, Premiere 3. August 2018, Wiederaufnahme 16. August 2019) kann bei „Nur ein Schritt“ komödiantisches Talent beweisen, wenngleich sie gegen Ende des Songs beteuert, es mit ihrer Drohung, sich in den Abgrund zu stürzen, ernst zu meinen. In „Sterne und Mond“ stellt sie zu spät fest, dass Geld im Leben nicht alles bedeutet. Als Ehefrau von Santa Claus liebt und braucht sie ihren Ehemann. Es reicht ihr aber nicht, lediglich mit ihm verheiratet zu sein, und daher beendet sie die Beziehung ein für allemal. Als Frau oder Mutter eines amerikanischen Soldaten kann sie im Song „Die Flaggenmacherin“ zum Erfolg des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges beitragen, indem sie Flaggen näht, und kann sich damit gleichzeitig davon ablenken, was ihr der Krieg genommen hat und dass sie nachts nicht schlafen kann. Rob Pelzer (Carl Hanratty in „Catch me if you can“, Staatstheater Nürnberg, Regie Gil Mehmert, Premiere 6. Oktober 2018, Staatstheater Darmstadt, Regie Gil Mehmert, Premiere 21. September 2019; Dufayel/Collignon in „Die fabelhafte Welt der Amélie“, WERK7 – Theater im Werksviertel, München, Regie Christoph Drewitz, Premiere 14. Februar 2019; von 2012 bis 2018 Mitglied des Musicalensembles am Landestheater Linz und dort in fast allen Produktionen in einer Hauptrolle besetzt) bringt in „Sie weint“ die Gefühlswelt der Frauen auf den Punkt: „Wenn Du eine Frau weinen siehst, sieh’ zu, dass Du Leine ziehst!“ Was ihm aber in letzter Konsequenz auch nicht gelingt. In „Die Welt tanzte“ erzählt er von seinem Vater und seiner Verlobten Amy, die er am Ende verlässt, ohne sich von ihr zu verabschieden, da er kein Risiko eingehen möchte. Sybille Lambrich (Annette in „Marguerite“, Saarländisches Staatstheater Saarbrücken, Regie Pascale Chevroton, Premiere 7. Dezember 2019; Maria/Anybodys in „West Side Story“, Opernhaus Bonn, Regie Erik Petersen, Premiere 15. September 2019; Maria in „West Side Story“, DomplatzOpenAir Magdeburg, Regie Gil Mehmert, Premiere 16. Juni 2017, Opernhaus Dortmund, Regie Gil Mehmert, Premiere 24. November 2018) porträtiert die junge Frau, die entschlossen beteuert, während sie sich für ihre Hochzeit ankleidet, niemals Angst zu haben, wohingegen ihr Verlobter kalte Füße bekommt. Im „Wiegenlied zur Weihnacht“ vertraut sie als Schwangere darauf, dass ihr Leben durch das Kind einen Sinn haben wird. Auch im Duett „Das alles gäb’ ich her“ kann sie gemeinsam mit Rob Pelzer überzeugen, einem der wenigen Songs, die bereits auf „Die letzten fünf Jahre“ hindeuten. Die vier Darsteller*innen harmonieren gesanglich sehr gut miteinander, was insbesondere bei „Die neue Welt“ und „Hör mein Lied“ zum Tragen kommt. So wie „Die neue Welt“ eine wundervolle Einführung in des Thema gibt, bietet „Hör mein Lied“ die perfekte Zusammenfassung. Keiner von uns ist jemals allein, keiner durchlebt eine bestimmte Krise als einzige Person. Durch die Geschichten anderer finden wir die Kraft, weiterzumachen: „Hör mein Lied. Es erklingt gerade dann, wenn du deinen Weg verlierst. Hör auf das Lied, das ich sing. Es wird gut.“

Opernhaus Dortmund

Am Ende der knapp neunzigminütigen Vorstellung – „Songs for a New World“ wird in Dortmund ohne Pause gespielt – gab es verdient langanhaltenden Stehapplaus für Darsteller*innen und das Kreativteam, das mit Mund-Nase-Bedeckung auf die Bühne kam. Ein Kleinod als ganz großes Kino, es lohnt sich. Tickets für Folgevorstellungen bis 8. November 2020 sind aktuell bereits im Verkauf, weitere Termine am 12. und 27. Dezember 2020 sind dem Spielzeitheft zu entnehmen.

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