Bad Hersfelder Festspiele: „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“

„Hair – The American Tribal Love Rock Musical“ – Musik: Galt MacDermot; Buch/Songtexte: Gerome Ragni und James Rado; Deutsche Fassung: Frank Thannhäuser und Nico Rabenald; Regie: Gil Mehmert; Choreografie: Melissa King; Bühne: Jens Kilian; Kostüme: Dagmar Morell; Lichtdesign: Ulrich Schneider; Sounddesign: Jörg Grünsfelder; Arrangements: Jeff Frohner; Musikalische Leitung: Christoph Wohlleben. Darsteller: Christof Messner (Claude Hooper Bukowski), Riccardo Greco (George Berger), Nils Klitsch (Neil „Woof“ Donovan), Victor Hugo Barreto (Hud), Martina Lechner (Jeanie), Gina Marie Hudson (Dionne/Huds Frau), Bettina Mönch (Sheila Franklin), Ruth Fuchs (Crissy), Kerstin Ibald (Claudes Mutter u. a.), Thorsten Krohn (Claudes Vater u. a.), Jurriaan Bles (Jurriaan), Ben Cox (Ben/General), János Harót (János/Andy Warhol, Dance Captain), Marides Lazo (Marides/Napalm-Girl), Giovanni Menig (Giovanni/Jimi Hendrix), Hannah McDonagh (Hannah), Karen Müller (Karen/Electric Blues Trio), Jens Petter Olsen (Jens/General), Tamara Pascual (Tamara/Electric Blues Trio), Carolin Schönemann (Carolin/Jackie Kennedy), Jane-Lynn Steinbrunn (Jane/Supreme), Lara de Toscano (Lara/Supreme), Matteo Vigna (Matteo), Yael de Vries (Yael/Pin-up Girl), Eva Zamostny (Eva/Electric Blues Trio/Pin-up Girl). Off-Broadway Premiere: 17. Oktober 1967, Public Theatre, New York City. Broadway-Premiere: 29. April 1968, Biltmore Theatre, New York City. West End-Premiere: 27. September 1968, Shaftesbury Theatre, London. Deutsche Erstaufführung: 24. Oktober 1968, Theater in der Brienner Straße, München. Premiere: 3. August 2018, Stiftsruine, Bad Hersfeld.



„Hair – The American Tribal Love Rock Musical“


„Let the sunshine in“ bei den Bad Hersfelder Festspielen


Als James Rado und Gerome Ragni am 29. Oktober 1967 die erste Fassung ihres Stückes „Hair“ über amerikanische Hippies in Joseph Papps Public Theatre zur Aufführung brachten, leiteten sie damit die Ära des Rockmusicals ein. Der Komponist Galt MacDermot hatte die Songs geschrieben, die zu Welthits avancierten. Nach einer sechswöchigen Spielzeit wurde die Produktion in die Diskothek „Cheetah“ transferiert, wo Produzent Michael Butler darauf aufmerksam wurde, Regisseur Tom O’Horgan engagierte und „Hair“ in einer überarbeiteten Fassung an den Broadway brachte. „Hair“ startete zum Welterfolg durch, lediglich fünf Monate später kam das Stück am 24. Oktober 1968 in München am Theater an der Brienner Straße heraus, nachdem es aufgrund der Nacktszene prompt das Münchener Ordnungsamt auf den Plan gerufen hatte. „Hair“ stand zuletzt mit Jörg Walter (Claude Hooper Bukowski), Cuco Wallraff (George Berger), Jiri Sova (Neil „Woof“ Donovan), Dennis Oliver (Hud), Regine Vorhau (Jeannie), Anita Davis (Dionne), Isabel Dörfler (Sheila Franklin), Anne Fromm (Crissy), Manuela Riva (Margaret Mead/General), Frank Odjidja/Koffi Missah (Nando) u. a. in einer Inszenierung von Pavel Mikulastik bei den 43. und 44. Bad Hersfelder Festspielen 1993 und 1994 unter der Intendanz von Peter Lotschak in der Stiftsruine auf dem Programm. Regisseur Gil Mehmert hat „Hair“ zuletzt vor gut zwei Jahren zusammen mit Melissa King (Choreografie), Jens Kilian (Bühne) und Dagmar Morell (Kostüme) für das Staatstheater am Gärtnerplatz in München (Premiere 25. Februar 2016) inszeniert, aus dieser Produktion sind Bettina Mönch (Sheila Franklin), Ruth Fuchs (Crissy), Victor Hugo Barreto (Hud), Ben Cox, János Harót, Nils Klitsch, Marides Lazo, Jens Petter Olsen, Tamara Pascual, Lara de Toscano, Yael de Vries und Eva Zamostny auch in Bad Hersfeld wieder mit von der Partie.

„Hair“ entstand vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges (1955 – 1975), bei dem etwa 500.000 junge Amerikaner zum großen Teil als Wehrpflichtige eingesetzt waren, die allgemeine Wehrpflicht in den USA wurde erst 1973 abgeschafft. Der Protest gegen den Vietnamkrieg und das Establishment fiel zeitlich mit dem Aufkommen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, dem Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963, dem Civil Rights Act von 1964 und der 68er-Bewegung wie beispielsweise der Studentenorganisation „Students for a Democratic Society“ in den USA zusammen. Musikalischer Höhepunkt der Hippie-Bewegung war das Woodstock-Festival vom 15. bis 17. August 1969. Während die Bühnen-Produktion eher einem Hippie-Happening ohne stringente Dramaturgie gleicht, schildert die Verfilmung von Miloš Forman aus dem Jahr 1979 die Geschichte von Claude Hooper Bukowski aus Oklahoma, der Ende der 1960er-Jahre in den Vietnamkrieg ziehen soll, auf dem Weg zur Musterung in New York City auf eine Gruppe von Hippies trifft und sich ihnen anschließt. Kurz darauf tritt Claude seinen Wehrdienst an und wird in der Wüste von Nevada für den Kriegseinsatz ausgebildet. In der Verfilmung stirbt schließlich Berger in Vietnam und Claude, Sheila und die anderen Hippies stehen vor seinem Grab.

Zum Musical und zu seiner Inszenierung sagte Regisseur Gil Mehmert („Das Wunder von Bern“, Uraufführung: 23. November 2014, Theater an der Elbe, Hamburg; „Sunset Boulevard“, Bad Hersfelder Festspiele 2011; „Cabaret“, Bad Hersfelder Festspiele 2015/2016), dass man „Hair“ nicht mehr so spielen könne wie vor 50 Jahren. „Hair“ soll eine Bewegung sein, die langsam anfängt, immer mehr Fahrt aufnimmt und schließlich alles mitreißt. Da wundert es natürlich nicht, dass sich sogar Claudes Eltern nach dem sinnlosen Tod ihres Sohnes im Vietnamkrieg der Hippie-Bewegung anschließen. Die Inszenierung beschreibt, wie Claudes Eltern als „Alt-Hippies“ in der heutigen Zeit im geschäftigen Großstadtdschungel stranden und wie es dazu kam. Gil Mehmert: „HAIR ist und bleibt im wahrsten Sinne des Wortes: ein großer Trip!“ Die nach dem Design von Steve Cohen gefertigte, mit Segeltüchern überspannte Hauptbühne des legendenumwobenen Woodstock-Festivals mit den beiden flankierenden Lautsprecher- und Scheinwerfertürmen diente als Vorbild für das von Bühnenbildner Jens Kilian gestaltete Setting, wobei die „Woodstock-Hauptbühne“ in der Vierung der Stiftsruine das Bühnenbild nach hinten begrenzt und sich das Geschehen auf und vor eben dieser abspielt. Die beiden mit jeweils 40 Scheinwerfern ausgerüsteten Scheinwerfertürme können nötigenfalls von Hand verschoben und in das Geschehen einbezogen werden. Selbstverständlich spielt die zehnköpfige Band unter der Musikalischen Leitung von Christoph Wohlleben ebenfalls auf der Hauptbühne, so dass die Spielfläche bis an das Auditorium heranreicht. Vor der Hauptbühne entfaltet sich ein rasanter Bilderreigen der späten 1960er-Jahre in Amerika, in dem Personen des Zeitgeschehens wie Elizabeth Taylor (1932 – 2011), Jacqueline Kennedy Onassis (1929 – 1994), Andy Warhol (1928 – 1987) und Jimi Hendrix (1942 – 1970), der selbst beim Woodstock-Festival aufgetreten ist und nun die Nationalhymne der USA „The Star-Spangled Banner“ spielt, ebenso zu finden sind wie indische Gurus oder die „White Knights of the Ku Klux Klan“. Wer noch nicht vom Bilderrausch mitgerissen wird, wird dies spätestens von den temporeichen, schweißtreibenden Choreografien von Melissa King, die das Flower-Power-Happening zusammenhalten. Die ursprünglich provokante Nacktszene schockiert 50 Jahre nach der Broadway Premiere auch niemanden mehr, in dieser Produktion deutet sie Regisseur Gil Mehmert als schutzlose Auslieferung gegen exzessive Polizeigewalt in einer Anti­kriegs­demonstration („Prisoners in Niggertown“/„Three-Five-Zero-Zero“). Kostümbildnerin Dagmar Morell und Lichtdesigner Ulrich Schneider verleihen der Produktion die ansprechende Flower-Power-Ästhetik. Die Songs werden in Bad Hersfeld in englischer Sprache präsentiert, die Feinheiten der Inszenierung erschließen sich aber nur mit entsprechenden Sprachkenntnissen. Beispielhaft sei hier „White Boys“/„Black Boys“ angeführt, in dem es um die Vorzüge der schwarzen und die der weißen Jungens geht. Während „White Boys“ beinahe traditionell mit drei farbigen Frauen aus dem Stamm als „The Supremes“ inszeniert ist, wenn man von Victor Hugo Barreto als Soul Diva absieht, erklären die „White Knights of the Ku Klux Klan“, warum sie „Black Boys“ mögen…

„Hair“ ist in erster Linie eine Ensemble Produktion, der Stamm (im englischen Original Tribe) steht im Mittelpunkt des Geschehens. Christof Messner verkörpert die Rolle des Claude Hooper Bukowski auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, die vorlagenbedingt die ausgeprägteste Charakterzeichnung mit sich bringt. Die Entwicklung vom rebellischen Sohn spießiger Eltern über den Flower-Power-Hippie bis zum Soldaten, der auf dem Schlachtfeld von Vietnam sein Leben lässt, gelingt Christof Messner ausnehmend überzeugend. Riccardo Greco gibt als charismatischer, om­ni­prä­senter Anführer des Stamms George Berger den Ton an und versucht Claude erfolglos zu bewegen, den Wehrdienst zu verweigern. Sein Talent für Komik ist unverkennbar, die herzergreifende Parodie auf „Gone with the Wind“ als Ashley Wilkes gemeinsam mit Bettina Mönch als Scarlett O’Hara ist nicht zu überbieten. Bettina Mönch hält als politisch aktive, friedliebende Studentin Sheila Franklin den Stamm zusammen, ihr Song „Easy to be hard“, mit dem sie in dieser Inszenierung Huds egoistisches Verhalten gegenüber seiner Frau und seinen Kindern anprangert, gehört zu den musikalischen Höhepunkten der Aufführung. Martina Lechner ist als schwangere Jeanie zu sehen, der es herzlich egal ist, wer denn nun der Vater ihres Kindes ist. Ein möglicher Anwärter auf die Vaterschaft ist Hud, gespielt von Victor Hugo Barreto, der Frau und Kinder verlassen hat, um seinen Traum von freier Liebe in die Tat umzusetzen. Nils Klitsch hat mit „Sadomy“ als Neil „Woof“ Donovan seinen großen Auftritt. Ruth Fuchs erzählt als junge, unschuldige Crissy in „Frank Mills“ von einem Jungen, den sie vor dem Waverly Theatre getroffen hat, doch der hat längst einen Anderen. Kerstin Ibald und Thorsten Krohn verkörpern als Claudes Eltern den Idealtypus der kleinbürgerlichen Spießer, für die die Armee aus ihrem Sohn einen Mann machen soll. Der muss erst im Vietnamkrieg sein Leben lassen, damit auch sie sich der Hippie-Bewegung anschließen. Kerstin Ibalds Interpretation von „My Conviction“ in der Rolle der Elizabeth Taylor ist ebenfalls sehens- und hörenswert. Das gesamte Ensemble weiß trotz Hitze mit ausgelassener Spielfreude und tänzerischem, schweißtreibendem Einsatz zu überzeugen.

„Let the sunshine in“, das war bei der Premiere am 3. August 2018 durchaus wörtlich zu nehmen: Nach Tageshöchsttemperaturen von mehr als 34 °C wurde die Premiere mit geöffneter Überdachung des Architekten Frei Otto über dem Zuschauerraum der Stiftsruine gespielt, und auch wenn die Vorstellung erst um 21 Uhr begonnen hat, so kühlte es sich am Abend nur wenig ab. Die Stimmung bei den Premierengästen war entsprechend „aufgeheizt“ und nach etwa zweieinhalbstündiger Vorstellung wurden Darsteller*innen, Musiker*innen und Kreative mit langanhaltendem Stehapplaus begeistert gefeiert. Zur zweiten Zugabe „Let the sunshine in“ ließ sich das Publikum bereitwillig von den Darsteller*innen auf die Bühne entführen, um dort ausgelassen zu tanzen. „Hair“ steht noch bis zum 2. September 2018 auf dem Spielplan der 68. Bad Hersfelder Festspiele, allerdings waren alle Vorstellungen bereits vor der Premiere ausverkauft.

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Riccardo Greco (George Berger, Mitte), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Riccardo Greco (George Berger)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Christof Messner (Claude Hooper Bukowski)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Kerstin Ibald (Claudes Mutter), Christof Messner (Claude Hooper Bukowski) und Thorsten Krohn (Claudes Vater)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Christof Messner (Claude Hooper Bukowski), Eva Zamostny, Karen Müller und Tamara Pascual (Electric Blues Trio)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Riccardo Greco (Ashley Wilkes) und Bettina Mönch (Scarlett O’Hara)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Gina Marie Hudson (Supreme), Jane-Lynn Steinbrunn (Supreme), Victor Hugo Barreto (Soul Diva) und Lara de Toscano (Supreme)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Bettina Mönch (Sheila Franklin), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Bettina Mönch (Sheila Franklin)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Christof Messner (Claude Hooper Bukowski, Mitte), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Christof Messner (Claude Hooper Bukowski)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Christof Messner (Claude Hooper Bukowski, Mitte), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Ruth Fuchs (Crissy)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Kerstin Ibald (Elizabeth Taylor), Nils Klitsch (Neil „Woof“ Donovan), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Kerstin Ibald (Elizabeth Taylor)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Bettina Mönch (Sheila Franklin)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Eva Zamostny und Yael de Vries (Pin-up Girls)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Riccardo Greco (George Berger), Nils Klitsch (Neil „Woof“ Donovan), Christof Messner (Claude Hooper Bukowski), Bettina Mönch (Sheila Franklin), Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Bettina Mönch (Sheila Franklin) und Christof Messner (Claude Hooper Bukowski)

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Ensemble

„Hair“, Bad Hersfelder Festspiele 2018, Bettina Mönch (Sheila Franklin), Riccardo Greco (George Berger), Ensemble


Mittwoch, 15. August 2018

Aufgrund der großen Nachfrage bieten die Bad Hersfelder Festspiele am Freitag, 24. August 2018 um 20.30 Uhr eine Zusatzvorstellung des Musicals „Hair“ an, für die Tickets ab sofort im Vorverkauf erhältlich sind.

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