„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“ am Aalto-Theater


„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“ – Musical-Revue von Heribert Feckler und Marie-Helen Joël. Inszenierung und Bühne: Marie-Helen Joël; Farb- und Formgebung Bühnenbild: Marie Joel; Kostüme: Ulrich Lott; Dramaturgie: Svenja Gottsmann, Sandra Paulkowsky; Musikalische Leitung: Heribert Feckler. Solisten: Christina Clark (Penny), Marie-Helen Joël (Bärbel), Brigitte Oelke (Gunda), Thomas Hohler (Alexander), Albrecht Kludszuweit (Lutz), Alexander Franzen/N. N. (Rolf), Henrik Wager (Kenneth). United Rock Orchestra: Heribert Feckler (Klavier und Keyboard), Roger Schaffrath (Gitarre 1), Leonard Küppers (Gitarre 2), Gero Gellert (Bass), Oliver Kerstan (Schlagzeug). Premiere: 8. Februar 2020, Aalto-Theater, Essen.



„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“


Musical-Revue von Heribert Feckler und Marie-Helen Joël


Am 25. Oktober 1958 wurde die Grugahalle in Rüttenscheid durch den Essener Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt offiziell eröffnet, am 28. Oktober 1958 spielten „Bill Haley & His Comets“ dort das erste Konzert. Weitere bekannte Bands folgten, am 12. September 1965 traten die Rolling Stones in der Grugahalle auf, am 25. Juni 1966 traten die Beatles im Rahmen der BRAVO-Beatles-Blitztournee bei zwei Konzerten dort auf. Die beiden Auftritte dauerten jedesmal nur 30 Minuten, jeweils rund 8.000 Zuschauer sorgten aber dafür, dass die Fans die Pilzköpfe kaum sehen und erst recht nicht hören konnten. Am 29. August 1966 fand das letzte Konzert der „Fab Four“ im Candlestick Park von San Francisco statt. Die Internationalen Essener Songtage 15 Monate nach dem Monterey Pop Festival und 11 Monate vor dem Woodstock-Festival vom 25. bis 29. September 1968 mit Auftritten von Frank Zappa, Tangerine Dream u. v. a. werden als die Geburtsstunde der eigenständigen deutschen Rockmusik angesehen. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden die Rockpalastnächte in der Grugahalle live im Radio und Fernsehen übertragen.

„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“, Aalto-Theater, v. l. n. r. Henrik Wager (Kenneth), Thomas Hohler (Alexander), Brigitte Oelke (Gunda), Albrecht Kludszuweit (Lutz), Marie-Helen Joël (Bärbel), Alexander Franzen (Rolf), Christina Clark (Penny). Foto: Matthias Jung

Vor diesem realen historischen Hintergrund entfaltet sich in „Yesterdate“ die fiktive Geschichte einer Clique, die 1966 bei einem der Beatles-Konzerte in der Grugahalle dabei war und nach 30 Jahren für ein gemeinsames Benefizkonzert ihrer Band „Dropping Softice“ zugunsten unverheirateter, minderjähriger Mütter wieder zusammenfindet, auch wenn man sich in der Zwischenzeit aus den Augen verloren hatte. Man denkt an alte Zeiten zurück, schwelgt in Erinnerungen an die gemeinsame Musik, an die Blumenkinder und Pilzköpfe, die Miniröcke und an die Ausflüge im gelben VW-Bus, in dem man Musik gehört hat und „abgetaucht“ ist. Es begegnen sich Menschen, die unterschiedlicher kaum sein können: das Ehepaar Bärbel und Lutz, er Chefarzt, sie Haus- und Ehefrau, die irgendwie in den 1960er-Jahren stecken geblieben sind, der Hippie Kenneth, der 1966 als Austauschschüler in Essen war und 30 Jahre später eine Boutique an der Londoner Carnaby Street betreibt, die Unternehmensberaterin Gunda, die vor 30 Jahren die B.M.V.-Schule in Essen besucht hat, damals ein katholisches Mädchengymnasium in der Trägerschaft der Augustiner Chorfrauen der Congregatio Beatae Mariae Virginis, und aus erst im Laufe des Abends verständlichen Gründen abgetaucht ist, Rolf, der in Übersee die Jazzsängerin Penny aus Wallkill, New York, kennengelernt, geheiratet und ihr zuliebe seine Karriere als Schlagersänger aufgegeben hat, um sie zu managen. Und dann ist da noch Gundas 29 Jahre alter Sohn Alexander, der 1966 gar nicht geplant war. Wie war das noch gleich mit den unverheirateten, minderjährigen Müttern…

„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“, Aalto-Theater, Vorne: Henrik Wager (Kenneth), im Hintergrund (v. l. n. r.): Marie-Helen Joël (Bärbel), Christina Clark (Penny), Brigitte Oelke (Gunda), Thomas Hohler (Alexander), Albrecht Kludszuweit (Lutz). Foto: Matthias Jung

Marie-Helen Joël hat sich von der in den 1960er-Jahren im Ruhrgebiet angesiedelten Inszenierung der Oper „Hans Heiling“ am Aalto-Theater (Regie Andreas Baesler, Premiere 24. Februar 2018) zu „Yesterdate“ inspirieren lassen und mit den Beatles-Konzerten in der Grugahalle und den Internationalen Essener Songtagen Ereignisse in der Essener Stadtgeschichte gefunden, vor deren Hintergrund sie den Zeitgeist der 1960er-Jahre auf der Bühne wieder aufleben lässt. Heribert Feckler hat als Komponist und Arrangeur versucht, möglichst viele Songs aus den 1960er-Jahren in dem Stück unterzubringen, nicht nur von den Beatles, auch „Pinball Wizard“ von The Who, „Return to sender“ von Winfield Scott und Otis Blackwell, „Strangers in the Night“ von Bert Kaempfert (Musik), „Schuld war nur der Bossa Nova“ („Blame It on the Bossa Nova“) von Cynthia Weil und Barry Mann, Georg Buschor, „Percolator“ („Ich will keine Schokolade“) von Jack Morrow, „Les Champs-Élysées“ von Joe Dassin, „Marmor, Stein und Eisen bricht“ von Christian Bruhn und Günter Loose, „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef, „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“ von Gerry Goffin und Carole King, „Bridge over troubled water“ von Simon & Garfunkel, „Aquarius“ und „The Flesh Failures (Let the Sunshine In)“ von Galt MacDermot (Musik), Gerome Ragni und James Rado (Lyrics) und noch weitere fanden ihren Platz in der Musical-Revue, teilweise in Arrangements, die weit vom Original entfernt sind. Die Musik zu „I need you, Girl“ und der Zollverein-Hymne hat Heribert Feckler komponiert, erstere eine Stilkopie der Beatles, letztere erinnert ein wenig an „Solange ich lebe“ aus „Kennst du den Mythos…?“

„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“, Aalto-Theater, Alexander Franzen (Rolf) und Christina Clark (Penny). Foto: Matthias Jung

Das Bühnenbild im ersten Teil des Abends beschränkt sich auf einige gemusterte „Trennwände“ (Farb- und Formgebung Marie Joel), wie sie auch in den 1960er-Jahren als Raumteiler hätten Verwendung finden können. Das Wohnzimmer ist mit bereits in den 1950er-Jahren typischen Cocktailsesseln ausgestattet, ein Marshmallow Sofa und die Ball Clock von Designer George Nelson.(* 29. Mai 1908 in Hartford, Connecticut; † 5. März 1986 in New York City) stechen sofort ins Auge, natürlich hatte man einen Fernsehschrank, der inzwischen zur Bar recycled wurde. Ein Steg überspannt den „mit Blumen bepflanzten“ Orchestergraben und schafft eine direkte Verbindung von der Bühne zum Publikum. Der „Bulli“ taucht im zweiten Teil des Abends auch auf, allerdings hört sich das Motorengeräusch selbst mit viel Phantasie nicht nach einem luftgekühltem Vierzylinder-Boxermotor an. Ulrich Lott zeichnet für das zeitgemäße Kostümdesign verantwortlich und wartet mit so ziemlich allem auf, was die 1960er-Jahre zu bieten hatten, teilweise auch an Space-Age-Entwürfe des französischen Modeschöpfers Pierre Cardin (* 1922 in San Biagio di Callalta, Italien) angelehnt, der auch die kragenlosen Anzüge der Beatles entworfen hatte. Das United Rock Orchestra begleitet unter der Musikalischen Leitung von Heribert Feckler bestens aufgelegt den Abend. Souverän trifft die fünfköpfige Band den Sound der Zeit und erweckt so manchen Oldie wieder zum Leben. Bei dem zu einem Quodlibet (lat. ‚wie es beliebt‘) kombinierten Beatles Songs „I want to hold your hand“, „Let it be“ und „Yesterday“ und dem Song „Bridge over troubled water“ begleitet Heribert Feckler die Sänger*innen am Flügel.

„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“, Aalto-Theater, v. l. n. r. Thomas Hohler (Alexander), Henrik Wager (Kenneth), Alexander Franzen (Rolf), Albrecht Kludszuweit (Lutz). Foto: Matthias Jung

Im ersten Teil des Abends schwelgt die Gruppe von alten Freunden in Erinnerungen. Relikte aus einer bewegten Zeit, die die Gastgeber Bärbel und Lutz nie ganz losgelassen haben, zeugt doch ihre stilechte 60er-Jahre-Einrichtung davon, dass sie gewissermaßen die Zeit festhalten. Wie war das damals Mitte der 60er in Essen? Christina Clark, Marie-Helen Joël und Albrecht Kludszuweit aus dem Opernensemble bilden zusammen mit Brigitte Oelke, Thomas Hohler, Alexander Franzen und Henrik Wager a. G. das Septett der in die Handlung involvierten Personen auf der Bühne. Steht in der ersten Hälfte das Schauspiel im Vordergrund, sind im weiteren Verlauf des Abend vor allem sängerische Fähigkeiten gefragt, auch diesbezüglich wissen die Sieben zu überzeugen. Christina Clark (Aschenputtel in „Die Märchenwelt zur Kur bestellt“, Aalto-Theater Essen), eigentlich als Opernsängerin am Aalto-Theater verpflichtet, unternimmt einmal mehr einen Ausflug in die sogenannte leichte Muse und macht als Jazzsängerin Penny eine ausgesprochen gute Figur. Marie-Helen Joël (Schneewittchen in „Die Märchenwelt zur Kur bestellt“, Aalto-Theater Essen) ist erneut in mehrfacher Funktion als Teil des Leitungsteams und als Bärbel auf der Bühne zu erleben. Bärbel ist die Hausherrin und im doppelten Sinne Gastgeberin des Abends, schließlich zeichnet sie auch für die Konzeption verantwortlich. Brigitte Oelke (Justice in „Rock of Ages“, Schlossfestspiele Zwingenberg 2020; Norma Desmond in „Sunset Boulevard“, Stadttheater Bielefeld; Der Tod in „Jedermann – Die Rockoper“, DomStufen-Festspiele Erfurt; Killer Queen in „We Will Rock You“, diverse Veranstaltungsorte) wird als Gunda ihrem Image als stimmstarke Rockröhre in jeder Hinsicht gerecht. Thomas Hohler (Carl Bruner in „Ghost – Das Musical“, Palladium Theater Stuttgart; Tobi in „Wahnsinn! Das Musical mit den Hits von Wolfgang Petry“, Theater am Marientor, Duisburg) vertritt als Gundas Sohn Alexander die nachfolgende Generation und überzeugt mit starker klarer Stimme. Der Tenor Albrecht Kludszuweit überrascht als Lutz nicht nur mit einer wohlklingenden Singstimme und Hang zur Selbstironie, sondern auch mit einer ausgesprochenen Beweglichkeit: Einen Spagat hätten ihm wohl die wenigsten Besucher*innen zugetraut. Alexander Franzen (Professor Henry Higgins in „My fair Lady“, Stadttheater Bielefeld) fällt als Rolf vor allem mit seiner sehr eigenwilligen Interpretation von „A Hard Day’s Night“ auf, die er gemeinsam mit Christina Clark zu einer Spielszene ausbaut. Henrik Wager (Jesus von Nazareth in „Jesus Christ Superstar“, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und Aalto-Theater Essen; Kaiser ohne Kleider in „Die Märchenwelt zur Kur bestellt“, Aalto-Theater Essen) gelingt als Kenneth im Duett mit Thomas Hohler „Father and Son“ von Cat Stevens ein emotionaler Höhepunkt des Abends.

„Yesterdate – Ein Rendezvous mit den 60ern“, Aalto-Theater, v. l. n. r. Henrik Wager (Kenneth), Brigitte Oelke (Gunda), Thomas Hohler (Alexander), Marie-Helen Joël (Bärbel), Christina Clark (Penny), Alexander Franzen (Rolf), Albrecht Kludszuweit (Lutz). Foto: Matthias Jung

„Yesterdate“ baut gewissermaßen eine Brücke zwischen den Generationen, ältere Besucher*innen erinnern sich gern zurück - die jüngeren Zuschauer*innen erhalten einen Einblick in die Sehnsüchte und Träume ihrer Eltern und Großeltern. Am Premierenabend zunächst noch etwas verhalten, steht am Ende doch das gesamte Publikum. Einige mit Blumen in den Händen, andere ihre Handy-Taschenlampen schwenkend, über ihnen schwebt ein Meer von kunterbunten Luftballons. Final fliegen bunte Konfetti und Luftschlangen in den Zuschauerraum. So endet der Abend regenbogenbunt und vielleicht auch ein bisschen anarchisch. Am Ende hat das Gefühl von damals wohl viele erreicht, eine sichtlich gut gelaunte Besucherschar lässt ein buntes Chaos im Innenraum zurück. „Yesterdate“ ist in der laufenden Spielzeit mit insgesamt 8 Vorstellungen bis 1. Juni 2020 am Aalto-Theater disponiert.

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