„Jesus Christ Superstar“ (WA) am Musiktheater im Revier


„Jesus Christ Superstar“ – nach dem Neuen Testament; Musik: Andrew Lloyd Webber; Liedtexte: Tim Rice; Buch: Tom O´Horgan; Regie: Michael Schulz; szenische Einstudierung: Rahel Thiel; Choreografie: Paul Kribbe; Bühne: Kathrin-Susann Brose; Kostüme: Kathrin-Susann Brose nach Klaus Bruns; Dramaturgie: Anna Grundmeier; Musikalische Leitung: Heribert Feckler. Darsteller: Ruud van Overdijk (Judas Iskariot), Henrik Wager/Nikolaj Alexander Brucker (Jesus von Nazareth), Dionne Wudu/Peti van der Velde (Maria Magdalena), Joachim Gabriel Maaß (Kaiphas), Ingo Schiller/Adrian Kroneberger (Annas), Sebastian Schiller/Timothy Roller (Simon Zelot), Edward Lee/Lars-Oliver Rühl (Pontius Pilatus), Tobias Glagau (Petrus), Anke Sieloff/Hedi Mohr (Herodes), Georg Hansen, John Lim (Priester), Faye Heather Anderson (Dance Captain), Ilenia Azzato, Lisandra Bardél, Sophie Blümel, Maria Einfeldt, Julia Heiser (Soul Girls). Uraufführung: 12. Oktober 1971, Mark Hellinger Theatre, New York. Deutsche Erstaufführung: 18. Februar 1972, Halle Münsterland, Münster. Premiere: 23. Dezember 2017, Wiederaufnahme 18. Oktober 2019, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„Jesus Christ Superstar“


Wiederaufnahme der Rock-Oper in Gelsenkirchen


Noch bevor „Jesus Christ Superstar“ als Rock-Oper auf die Bühne kam, produzierten Andrew Lloyd Webber und Tim Rice ein Musikalbum, das im Oktober 1970 als Doppel LP erschien und die Nummer 1 in den Billboard Charts erreichte. Darauf interpretierten Murray Head und Ian Gillan die Rollen des Judas Iskariot bzw. Jesus von Nazareth. Tom O’Horgan inszenierte 1971 die erfolgreiche Bühnenproduktion am Broadway, für die Andrew Lloyd Webber seinen ersten Drama Desk Award als „Most Promising Composer“ erhielt. Am 9. August 1972 hatte das Stück am London Palace Theatre im West End Premiere, und wurde dort bis 23. August 1980 in 3.357 Aufführungen gezeigt, zum damaligen Zeitpunkt ein Rekord in der Geschichte des West Ends, der erst am 12. Mai 1989 mit der 3.358. Vorstellung von „Cats“ am New London Theatre eingestellt wurde.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Henrik Wager (Jesus) und Ruud van Overdijk (Judas). Foto: Judith Lorenz

„Jesus Christ Superstar“ zeichnet die letzten sieben Tage im Leben von Jesus von Nazareth aus der Perspektive von Judas Iskariot nach und gipfelt in seiner Kreuzigung. Daher dürfte die Handlung wohl jedem Theaterbesucher – zumindest in Ansätzen – bekannt sein. Man darf jedoch keinesfalls eine wahrheitsgemäße Wiedergabe der Passionsgeschichte erwarten. Bereits bei der Veröffentlichung als Konzeptalbum im Jahr 1970 sorgte die Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ wegen ihrer Thematik für Aufsehen. Im Mittelpunkt steht die konflikt- und spannungsreiche Beziehung zwischen Jesus und seinem ursprünglich treuen Freund und Jünger Judas, der zum Verräter werden muss.

Die katholische Kirche hat die Gleichsetzung von Maria Magdalena mit der namenlosen Sünderin, die Jesus die Füße salbte, und mit Maria von Bethanien 1969 offiziell für irrig erklärt. Die orthodoxen Kirchenväter und die protestantische Tradition haben in Maria von Magdala, Maria von Bethanien und der Sünderin, die Jesus die Füße wäscht, immer drei verschiedene Personen gesehen. Dennoch stellt das Musical Maria Magdalena als Prostituierte dar, und trägt damit dazu bei, dass dieses „Gerücht“ erhalten bleibt. Schon Bestseller-Autor Dan Brown hat in seinem Roman „The Da Vinci Code“ (2003) behauptet, Leonardo da Vinci habe auf seinem Gemälde „Das Abendmahl“ Maria Magdalena als Jesu Frau an seiner Seite gemalt.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Henrik Wager (Jesus), Dionne Wudu (Maria Magdalena), Ruud van Overdijk (Judas), Ensemble. Foto: Judith Lorenz

Generalintendant Michael Schulz hatte sich vor zwei Jahren in verschiedenen Gesprächen (u. a. dem „Premierenfieber“ am 13. Dezember 2017) dahingehend geäußert, bereits bei seiner Inszenierung im Aalto-Theater (Premiere 9. September 2006) absolut richtig mit dem Stück umgegangen zu sein, daher verwunderte es überhaupt nicht, in Gelsenkirchen am 23. Dezember 2017 eine Wiederaufnahme der elf Jahre alten Essener Produktion auf der Bühne gesehen zu haben, mit den beiden ebenfalls um elf Jahre gealterten Protagonisten Serkan Kaya (Judas Iskariot) und Henrik Wager (Jesus von Nazareth), die im Alter kein bisschen ruhiger, gelassener oder weniger aggressiv über die Rampe kamen als elf Jahre zuvor, sich vielmehr nicht nur hitzige Wortgefechte lieferten, sondern sich sogar physisch auseinandersetzten während Jesu Jünger vorgaben, mit Bier der in der südtschechischen Gemeinde Vysoký Chlumec beheimateten Brauerei Lobkowicz das letzte Abendmahl zu feiern. Aufgrund des Erfolges der Aufführungsserie vom 23. Dezember 2017 bis 6. Mai 2018 wird die Produktion ab 18. Oktober 2019 mit einigen Umbesetzungen im Ensemble wiederaufgenommen: Serkan Kaya gehört seit der Spielzeit 2017/18 zum festen Ensemble am Düsseldorfer Schauspielhaus und kann womöglich deshalb bei der Wiederaufnahme nicht dabei sein. Für ihn hat Ruud van Overdijk (Street Chorus in „MASS: Ein Theaterstück für Sänger, Instrumentalisten und Tänzer“, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen; Roger Davis in „Rent“, diverse Spielorte) die Rolle des Judas Iskariot übernommen. Dionne Wudu (Cover Deloris van Cartier in „Sister Act“, Landestheater Linz und Ronacher Wien; Maria Magdalena in „Jesus Christ Superstar“, diverse Spielorte) bzw. Peti van der Velde (Coretta Scott King im Chormusical „Martin Luther King – Ein Traum verändert die Welt“, Maria Magdalena in „Jesus Christ Superstar“, Staatstheater am Gärtnerplatz, München und Aalto-Theater Essen) sind bei der Wiederaufnahme als Maria Magdalena zu sehen. Statt des unlängst verstorbenen Rüdiger Frank (* 17. Juni 1967 in Ludwigsburg; † 12. Juli 2019 in Markgröningen) spielt Anke Sieloff bzw. Hedi Mohr König Herodes. „Jesus Christ Superstar“ war bereits ab 11. April 1992 passend zum Osterfest (19. April 1992) mit Ulrich Wewelsiep (Jesus), Florian Schneider (Judas), Elena Batoukova (Maria Magdalena), Matthias Davids (Simon), Tom Zahner (Pontius Pilatus), Thorsten Kapphahn (Herodes) und Wolfgang Wilger (Priester) in einer Inszenierung von Wolf Widder unter der Musikalischen Leitung von Koen Schoots am Musiktheater Gelsenkirchen zu sehen.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Georg Hansen (Priester), Joachim Gabriel Maaß (Kaiphas), Ingo Schiller (Annas) und John Lim (Priester). Foto: Judith Lorenz

In der Gelsenkirchener Inszenierung ist auf den ersten Blick fast alles beim alten geblieben: Bühnen- und Kostümbildnerin Kathrin-Susann Brose lässt wie bereits in Essen Ober- und Untermaschinerie nicht zur Ruhe kommen, erstaunlich, wie ähnlich sich die Bühnenausstattungen von Aalto-Theater und Musiktheater im Revier doch zu sein scheinen. Die „Lasterhölle“, in der sich die Hohepriester beraten, wird auf einem Hubpodium auf Bühnenniveau gefahren, und nachdem Anke Sieloff in einem überdimensionalen Engelskostüm aus dem Himmel gefallen ist (aus dem Schnürboden herabgelassen wurde) und sich des Engelskostüms entledigt hat, verspottet sie in der Rolle von König Herodes als teuflische Domina mit „King Herod’s Song“ Jesus als „König der Juden“. König Herodes mit einer Frau zu besetzen ist so ungewöhnlich nicht, ich kann mich auf Anhieb an Jacqueline Braun in der Rolle bei den konzertanten Aufführungen von „Jesus Christ Superstar“ der Vereinigten Bühnen Wien erinnern. Anstelle von Henrik Wager steigt Statist Roman Pilgrim zur Kreuzigung leichenblass auf das Kreuz, und so bleiben am Ende zu „John Nineteen: Forty-One“ Ruud van Overdijk und Henrik Wager, die sich bereits vor Beginn der Vorstellung auf der Szene befanden, ratlos mit der Bibel auf der Bühne unter dem Kreuz zurück: War es womöglich nur eine Geschichte oder eine unterhaltsame Posse, die die beiden Freunde sich gegenseitig (und dem Publikum) erzählt haben? Wer die Inszenierung in Essen als Geniestreich empfunden hat, dem wird es in Gelsenkirchen ganz sicher auch nach elf bzw. dreizehn Jahren immer noch gefallen, und wem die Produktion bereits in Essen opernhaft ikonografisch überfrachtet vorgekommen ist, der wird womöglich konstatieren, dass sich daran nicht viel geändert hat. Wer die Inszenierung von Michael Schulz dagegen noch gar nicht gesehen hat, möge sich am besten seinen eigenen Eindruck verschaffen und erst danach ein Urteil fällen. In Anpassung an die heutige Zeit wird Jesus nach der Vertreibung der Händler und Weihnachtsbunnys aus dem Konsumtempel u. a. mit Smartphone-Zombies (angeblich so genannte „Smombies“) konfrontiert, die durch den ständigen Blick auf ihr Smartphone so stark abgelenkt sind, dass sie ihre Umgebung kaum noch wahrnehmen. Zur Verminderung dieser Volksseuche bedarf es m. E. keines Wunders, sondern lediglich einer wirkungsvollen Abschirmung gegen elektromagnetische Strahlung, zumindest im Auditorium eines Theaters. Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet das Musiktheater im Revier über 24 Access-Points im „Free WiFi Gelsenkirchen“ verfügt und damit der Volksseuche sogar noch Vorschub leistet.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Henrik Wager (Jesus) und Dionne Wudu (Maria Magdalena). Foto: Judith Lorenz

Paul Kribbe (Happy Man/Barney Thompson in „Pretty Woman – Das Musical“, Theater an der Elbe, Hamburg; Everyman in „Everyman (Jedermann)“, Theater Münster), der vor dreizehn Jahren noch gemeinsam mit James de Groot für die Choreografie verantwortlich zeichnete, Letztgenannter ist inzwischen bei der ZAV-Künstler­ver­mittlung der Bundesagentur für Arbeit in Köln beschäftigt, hat mit dem Tanzvokabular der Soul-Girls (Faye Heather Anderson (Dance Captain), Ilenia Azzato, Lisandra Bardél, Sophie Blümel, Milena Sophia Hagedorn und Julia Heiser) für die Gelsenkirchner Produktion eine unaufdringliche, aber dennoch eindrucksvolle Choreografie besorgt. Dance Captain Faye Heather Anderson zeichnet für die choreografische Einstudierung bei der Wiederaufnahme verantwortlich. Der Opernchor des Musiktheater im Revier (Choreinstudierung wie vor dreizehn Jahren: Alexander Eberle) sorgt in den Massenszenen für die nötige Klangfülle. Die erweiterte Rock-Band sorgt unter der bewährten Musikalischen Leitung von Heribert Feckler in der von The Really Useful Group Ltd. vorgegebenen elfköpfigen Besetzung (Woodwind I [B-Klarinette, Flöte, Tenorsaxophon], Horn, Trompete, Keyboard I, II, III, Percussion, Gitarre I, II, Bassgitarre, Drums) im Orchestergraben für den authentischen Sound, der das dramatische Geschehen auf der Bühne unterstützt. Auch die tontechnische Abmischung kann bei der Wiederaufnahmepremiere überzeugen.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Joachim Gabriel Maaß (Kaiphas), Ruud van Overdijk (Judas) und Ingo Schiller (Annas). Foto: Judith Lorenz

Ruud van Overdijk zeichnet die Entwicklung von Judas Ischariot als desillusioniertem Jünger Jesu zum Verräter, der sich in seiner Verzweifelung in dem Glauben erhängt, dass Gott ihn nie wieder lieben könne, auf der Bühne glaubhaft nach. In seinen Soli „Heaven on their minds“, „Dammed for all time” und „Superstar” kann er sich effektvoll in Szene setzen. Henrik Wager (Der Zelebrant in „MASS: Ein Theaterstück für Sänger, Instrumentalisten und Tänzer“, Musiktheater im Revier; Frank’n’Furter in Richard O’Brien’s „The Rocky Horror Show“, Theater Hagen und Musiktheater im Revier) verleiht der von menschlichen Schwächen gezeichneten Figur des Jesus von Nazareth das nötige Charisma, mit seinem fesselnden Gebet „Gethsemane (I Only Want To Say)“ im Garten Getsemani weiß er stimmgewaltig zu überzeugen. Die körperliche Auseinandersetzung zwischen Ruud van Overdijk und Henrik Wager beim letzten Abendmahl ist bei der Wiederaufnahme derartig gewalttätig umgesetzt, dass man beinahe einen Kampfchoreografen bräuchte. Dionne Wudu sorgt sich als Maria Magdalena liebevoll um Jesus von Nazareth und kann mit souliger Stimme mit ihrem gefühlvollen „I don’t know how to love him“ das Publikum auf Anhieb für sich gewinnen. Edward Lee gibt sich als Präfekt Pontius Pilatus gegenüber Jesus zunächst sebstbewusst, droht aber an der ihm von der aufgebrachten Menge abverlangten Entscheidung, Jesus zum Tod am Kreuz zu verurteilen, beinahe zu scheitern. Sebastian Schiller macht in der Rolle des Simon Zelot in „Simon Zealotes“ auf sich aufmerksam, indem er Jesus drängt, den Hass auf Rom im Volk zu schüren und die Macht zu ergreifen. Tobias Glagau kann als Petrus in „Peter’s Denial“ und im Duett mit Dionne Wudu in „Could we start again, please“ aus dem Ensemble in den Vordergrund treten. Joachim Gabriel Maaß verleiht der Figur des Hohepriesters Kajaphas mit tiefem Bass-Bariton Bedrohlichkeit. Daneben sind noch Ingo Schiller als Annas sowie Georg Hansen aus dem Opernchor und John Lim aus dem Jungen Ensemble am MiR als Priester zu erwähnen.

„Jesus Christ Superstar“ (Wiederaufnahme), Musiktheater im Revier, Henrik Wager (Jesus) und Anke Sieloff (Herodes), Faye Heather Anderson, Ilenia Azzato, Lisandra Bardél, Sophie Blümel, Maria Einfeldt, Julia Heiser (Soul Girls). Foto: Judith Lorenz

Nach 110 Minuten Aufführungsdauer (die durchkomponierte Rock-Oper wird auch im Musiktheater im Revier ohne Pause gespielt) belohnte das Publikum Darsteller*innen und Musiker mit langanhaltendem Stehapplaus. „Jesus Christ Superstar“ steht am Musiktheater im Revier bis 12. April 2020 (Ostersonntag) mit insgesamt 12 Vorstellungen auf dem Spielplan.

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