Stadttheater Bielefeld: „Sunset Boulevard“

„Sunset Boulevard“ – basierend auf dem gleichnamigen Billy Wilder-Film von 1950; Musik: Andrew Lloyd Webber; Lyrics und Buch: Don Black, Christopher Hampton; Buch: Ken Ludwig; Deutsche Bearbeitung: Michael Kunze; Regie: Thomas Winter; Choreografie: Thomas Klotz; Ausstattung: Ulv Jakobsen; Lichtdesign: Peter Lorenz; Videodesign: Konrad Kästner; Sounddesign: Thomas Noack; Dramaturgie: Daniel Westen; Musikalischer Leiter: William Ward Murta. Darsteller: Brigitte Oelke (Norma Desmond), Veit Schäfermeier/Matthias Otte (Joe Gillis), Tom Zahner (Max von Mayerling), Ulrike Figgener (Betty Schaefer), Benjamin Armbruster (Cecil B. DeMille), Jonas Hein (Artie Green), Bernard Niemeyer (Sheldrake), Carlos Horatio Rivas (Manfred/Schuldeneintreiber), Fabian Kaiser (Myron), Michaela Duhme (Mary/Ärztin), Natascha C. Hill (Heather/Astrologin/Johanna), Evelina Quilichini (Larissa), Ramon Riemarzik (Schuldeneintreiber/Kellner), Lutz Laible (Torwächter), Lado Lortkipanidze (Hog Eye) u. a. Uraufführung: 12. Juli 1993, Adelphi Theatre, London. Deutschsprachige Erstaufführung: 8. Dezember 1995, Rhein-Main-Theater, Niedernhausen. Premiere: 20. März 2015, Stadttheater Bielefeld.



„Sunset Boulevard“


Das Schicksal der Stummfilm-Diva als Musical am Stadttheater Bielefeld


„Sunset Boulevard“ ist zunächst ein amerikanisches Filmdrama von Billy Wilder aus dem Jahr 1950, das die Geschichte der fatalen Begegnung zwischen der alternden Stummfilmdiva Norma Desmond und dem jungen Drehbuchautor Joe Gillis erzählt, der auf der Flucht vor Geldeintreibern zufällig in Normas Villa am Sunset Blvd. landet. Das verwilderte Anwesen stand in Wirklichkeit an der Ecke Crenshaw Street und Wilshire Boulevard. Es wurde 1924 für William O. Jenkins, einen amerikanischen Konsul, gebaut und kostete die stolze Summe von 250.000 Dollar. Der so genannte Zuckerbaron, der der reichste Mann Mexikos war, richtete die 14 Zimmer des Hauses mit allerhand Kostbarkeiten ein, importierte Kacheln aus dem Ausland und beeindruckte seine Gäste mit dem schwarzen Treppenhaus, das in einem drei Meter breiten Vestibül endete. Als Billy Wilder darauf aufmerksam wurde, befand sich das Anwesen im Besitz einer der früheren Ehefrauen des Multimillionärs J. Paul Getty. Sie war einverstanden mit den Dreharbeiten, bestand aber darauf, dass der für den Film in den Erdboden eingelassene Pool nach den Dreharbeiten wieder entfernt werden würde, falls er ihr nicht gefiele. Der Pool blieb und wurde später noch einmal für eine Szene in dem Film „Rebel Without A Cause“ genutzt. Zusätzlich zum Pool wurde das Anwesen noch mit fleckigen Glasfenstern, Palmen, stoffbezogenen Möbeln, staubigen Samtvorhängen und Orgelpfeifen ausstaffiert. Außerdem wurde eine 250.000 Dollar teure, mit Leopardenfellpolsterung und einem vergoldeten Telefon ausgestattete Isotta Fraschini Tipo 8A-Limousine in der Auffahrt geparkt. Billy Wilder und Charles Brackett versuchten mit ihrem Co-Autor Donald M. Marshman, Jr., die Handlung so lange wie möglich geheim zu halten und versahen ihre Drehbücher sorgsam mit falschen Titeln. Einer der legendären Fake-Titel war „A Can of Beans“, aber nach und nach begannen Details durchzusickern, prekäre Details, denn der Stoff zeigte das schillernde Hollywood in keinem guten Licht. Gloria Swanson und William Holden verkörperten die Rollen von Norma Desmond und Joe Gillis, Swansons Karriere weist starke Ähnlichkeit zu der der Filmfigur Norma Desmond auf. Obwohl der Film bei seiner Premiere am 10. August 1950 in der Radio City Music Hall kein Riesenerfolg war, kam er bei den Kritikern gut weg. Bei der Oscar-Verleihung 1950 wurde „Sunset Boulevard“ als Bester Film, für die Beste Regie, die Beste Hauptdarstellerin, die Beste Nebendarstellerin (Nancy Olson) und die Beste Schwarzweiß-Kamera (John F. Seitz) nominiert und in den Kategorien Bestes Szenenbild (Hans Dreier, John Meehan, Sam Comer und Ray Moyer), Beste Musik (Franz Waxman) und Bestes Originaldrehbuch ausgezeichnet.

1989 begann Andrew Lloyd Webber an der Partitur für das Musical zu arbeiten, das im September 1992 beim Sydmonton Festival mit Patti LuPone (Norma Desmond) und Kevin Anderson (Joe Gillis) erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde und am 12. Juli 1993 im Adelphi Theatre in London mit Patti LuPone (Norma Desmond), Kevin Anderson (Joe Gillis), Meredith Braun (Betty Schaefer) und Daniel Benzali (Max von Mayerling) West End Premiere feierte. In Amerika wurde eine überarbeitete Fassung erstmals am 9. Dezember 1993 am Shubert Theatre in Los Angeles mit Glenn Close (Norma Desmond) und Alan Campbell (Joe Gillis) gezeigt, die ihre Rollen auch in der Broadway-Pemiere am 17. November 1994 am Minskoff Theatre spielten. 1995 wurde „Sunset Boulevard“ mit sieben Tony Awards ausgezeichnet, u. a. als bestes Musical, für die beste Originalmusik und das beste Musicallibretto. Am 8. Dezember 1995 fand im Rhein-Main-Theater in Niedernhausen die deutschsprachige Erstaufführung mit Helen Schneider (Norma Desmond), Uwe Kröger (Joe Gillis), Norbert Lamla (Max von Mayerling) und Barbara Wallner (Betty Schaefer) statt, nachdem sich „The Really Useful Group“ von den vermeintlichen Vorteilen eines Theaters mit eigener Autobahnanschlussstelle irgendwo im Nirgendwo hatte überzeugen lassen. Das Ende am 5. Mai 1998 nach 992 Aufführungen war eher unrühmlich, nach dem letzten Vorhang begannen die Gläubiger bereits mit dem Ausbau der Beleuchtungsanlage, im September 2001 wurde schließlich der Fundus öffentlich und meistbietend versteigert. Seit 2010 darf das Musical auch an Stadttheatern gespielt werden, das Theater Magdeburg zeigte am 13. November 2010 die Premiere einer Inszenierung von Stefan Huber. Am diesjährigen Welttag des Theaters für Kinder und Jugendliche (20. März 2015) feierte schließlich auch das Theater Bielefeld seine Premiere des Musicals um den verblassten Ruhm eines großen Stars.

Brigitte Oelke (Norma Desmond) und Tom Zahner (Max von Mayerling); © Martin Becker

Zum Inhalt:
Der junge Drehbuchautor Joe Gillis landet auf der Flucht vor Geldeintreibern zufällig in Normas Villa am Sunset Boulevard. Norma Desmond engagiert Joe Gillis als Ghostwriter für ihr Skript zu „Salome“, das ihr zu einem Comeback im Tonfilm verhelfen soll. Joe willigt nach anfänglichen Bedenken ein und lässt sich bald auch von Norma aushalten, er ersetzt quasi den Schimpansen, den er bei seiner Ankunft beerdigen sollte. Von der eigens von Norma nur für sich und Joe inszenierten Sylvesterparty flüchtet er zu seinen Freunden und der jungen Autorin Betty Schaefer, um abermals zu Norma zurück­zu­kehren, als er von ihrem Selbstmordversuch erfährt. Die Vorkommnisse spitzen sich zu, als Norma Desmond von Joes Sympathie zu Betty Schaefer erfährt und ihn bei ihr als Gigolo denunziert. Als Joe Norma verlassen will, erschießt ihn die völlig konfuse Filmdiva, um sich schließlich, als Reporter eintreffen und ihre Kameras aufstellen, um über den Vorfall zu berichten, in Dreharbeiten zu „Salome“ zu wähnen. „Sunset Boulevard“ ist gleichzeitig eine sarkastische Parodie auf die Traumfabrik Hollywood, was besonders in der absurden Schlussszene deutlich wird. Andrew Lloyd Webber rekonstruierte den Filmklassiker beinahe akribisch, Joes sarkastische Abrechnung mit der verlogenen Traumwelt Hollywoods ist als Titelsong der Höhepunkt des Musicals.

Tom Zahner (Max von Mayerling) und Matthias Otte (Joe Gillis); © Martin Becker

Natürlich gibt es bei der Produktion des Stadttheaters Bielefeld keine pompöse Ausstattung wie beispielsweise in Niedernhausen zu sehen, doch hätte ich mir Norma Desmonds Villa im Bühnenbild von Ulv Jacobsen doch ein wenig luxuriöser und nicht so düster gewünscht. Während die Originalproduktion der Really Useful Group eher wie eine in Farbe umgesetzte Kopie des Schwarzweißfilms wirkte, wurde in Bielefeld offensichtlich angestrebt, die so genannte Low-Key-Beleuchtung der Filmvorlage möglichst detailgetreu in die Bühnenumsetzung zu übernehmen (Lichtdesign Peter Lorenz). Die obligatorische Treppe für die Auftritte der Diva ist zwar vorhanden, doch erinnert mich die Version in Bielefeld mit dem schnörkellosen Geländer wahrlich nicht an eine prunkvolle Hollywood-Villa. Angelehnt an die Originalproduktion hebt sich für die Silvesterparty in Artie Greens Apartment Normas Villa nach oben, so dass der Zuschauer gleichzeitig die ausgelassene Stimmung im unteren Teil der Bühne und Max von Mayerlings Besorgnis über Normas Suizidversuch in der Villa im oberen Teil der Bühne beobachten kann. Thomas Winter setzt in seiner Inszenierung sehr stark auf die Videoprojektionen von Konrad Kästner, beispielsweise wird die dramatische Auto-Ver­folgungs­jagd durch Holmby Hills über den Sunset Blvd., die sich Joe mit den Schuldeneintreibern liefert und die auf dem Anwesen von Norma Desmond endet, durch eine Folge von Strich­zeichnungen visualisiert, und wie Max von Mayerling mit der Isotta Fraschini Tipo 8A-Limousine Norma Desmond und Joe Gillis zum Gelände der Paramount Pictures chauffiert ist ebenfalls nur als Videoprojektion zu sehen, wobei auch Original-Aufnahmen aus dem Hollywood-Film verwendet werden. Auf der Bühne ist aber weder eine Nachbildung der Limousine noch die irgend eines anderen Oldtimers zu sehen. Die Rosette eines Kirchenfensters mit sakralen Motiven als Hintergrund für die Eingangshalle der glamourösen Villa erscheint mir persönlich allerdings ein wenig deplatziert, auch wenn es dort die obligatorische Pfeifenorgel zu sehen gibt, die jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Begleitung von Stummfilmen in Lichtspielhäusern eingesetzt wurde, ein klein wenig verdeckt von einem der Pfeiler in der Eingangshalle. Auf eben jene Pfeiler werden ebenfalls stellenweise Filmfetzen projiziert, wobei in dem Fall wirklich nicht mehr zu erkennen ist, was diese genau darstellen. Liebhaber fulminanter Tanzszenen kommen in „Sunset Boulevard“ schon vorlagenbedingt nicht auf ihre Kosten, in Normas Villa erinnern allein die „Fliesen“ an Rudolph Valentino, der dort Tango tanzte, erst in der letzten Szene wird der Salon von Presse, Polizei und Kamerateams bevölkert, und die ausgelassene Stimmung bei Artie Greens Silvesterparty ändert nichts an den beengten Platzverhältnissen in seinem Apartment. Die Bielefelder Philharmoniker unter der Musikalischen Leitung von Musicalkapellmeister William Ward Murta bringen Andrew Lloyd Webbers Partitur fulminant zu Gehör, wobei hier sogar mehr Musiker im Orchestergraben sitzen als in Niedernhausen.

Brigitte Oelke (Norma Desmond); © Martin Becker

Brigitte Oelke, die ab Dezember 2004 bisher in allen deutschsprachigen Produktionen von „We Will Rock You“ in Köln, Zürich, Wien, Stuttgart, Berlin, Basel, Essen, München und Frankfurt als Killer Queen aufgetreten ist, gibt in Bielefeld als Norma Desmond ihr „Sunset Boulevard“-Debüt. Glaubhaft zeichnet sie durch ihr nuanciertes Schauspiel das vehemente Bemühen des exzentrischen Stummfilmstars um ein Comeback nach, das in der Schlussszene des zweiten Aktes seinen Höhepunkt findet, in der Norma gänzlich dem Wahnsinn verfallen zu sein scheint und sich wie in einer bizarren Stummfilmszene in Filmaufnahmen zu „Salome“ wähnt. Gesanglich gestaltet die Mezzo-Sopranistin „Nur ein Blick“ und „Als hätten wir uns nie Goodbye gesagt“ zu ihren Höhepunkten. Matthias Otte hat die Rolle des Drehbuchautors Joe Gillis bereits in der Produktion des Theaters Pforzheim (Premiere 27. September 2013, Regie Kai Hüsgen) verkörpert und ist in der Premiere für den erkrankten Veit Schäfermeier eingesprungen, der in den Folgevorstellungen in dieser Rolle zu sehen sein wird. Brigitte Oelke und Matthias Otte erinnern mich ein wenig an den Film von Billy Wilder, bei dem der Regisseur während der Dreharbeiten bemerkt haben soll, dass der beabsichtigte Altersunterschied zwischen Norma Desmond und Joe Gillis mit Gloria Swanson und William Holden optisch nicht ausreichend genug zur Geltung kam. Auch Matthias Otte erscheint mir persönlich im Vergleich zu Brigitte Oelke für die Rolle des Joe Gillis zu alt, abgesehen davon verkörpert er glaubhaft den erfolglosen Drehbuchautor, der allmählich Gefallen am Leben in Reichtum findet und sich von Norma Desmond aushalten lässt. Gesanglich meistert der Tenor seinen Part mit Bravour, harmonisch gerät auch sein Duett „Viel zu sehr“ mit Ulrike Figgener als Produktionsassistentin Betty Schaefer, das der aus der erfolgreichen Zusammenarbeit an dem Drehbuch zu „Das blinde Fenster“ erwachenden Liebe entspringt. Einfühlsam gestaltet Tom Zahner die von den Autoren in ihrer Tragik zu wenig herausgearbeitete Rolle des gegenwärtig treu ergebenen Butlers, früheren Regisseurs und Normas erstem Ehemann Max von Mayerling als ebenfalls gealterten Mann, der jederzeit um Normas Wohlergehen besorgt ist. In weiteren Rollen sind Benjamin Armbruster als erfolgreicher Regisseur Cecil B. DeMille und Jonas Hein als Joes Freund und Betty Schaefers Verlobter Artie Green zu erwähnen, auch das übrige Ensemble weiß mit ansprechenden Leistungen zu überzeugen.

Am Ende gab es vom Premierenpublikum großen Applaus sowohl für die Darsteller als auch für das Kreativteam. „Sunset Boulevard“ steht in der laufenden Spielzeit bis 29. Juni 2015 auf dem Spielplan des Theaters Bielefeld und wird in der Spielzeit 2015/16 am 27. September 2015 wieder­auf­genommen.

Ulrike Figgener, Tom Zahner und Brigitte Oelke bei der Premierenfeier, im Hintergrund Operndirektorin Sabine Schweitzer