„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“


„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“ – nach dem Spielfilm „Kinky Boots“ von Geoff Deane und Tim Firth (2005); Musik, Liedtexte: Cyndi Lauper; Buch: Harvey Fierstein; Deutsche Übersetzung: Robin Kulisch; Inszenierung: Lilo Wanders; Co-Regie: Oliver Pauli; Choreografie: Nigel Watson; Bühne, Kostüme: Sebastian Ellrich; Dramaturgie: Julia Hoppe; Musikalische Leitung: Andreas Unsicker. Darsteller: Johannes Osenberg (Charlie Price), William Baugh (Lola/Simon), Katharina Wollmann (Lauren, eine Angestellte), Raphael Dörr (George, Werksleiter/Harold Price, Charlies Vater/Hooligan), Lara Hofmann (Nicola, Charlies Verlobte/Marge, Fabrikarbeiterin), Clemens Otto Bauer (Harry, Schuhvertreter/Angel/Ansager), Daniel Wernecke (Don, Fabrikarbeiter/Obdachloser/Stage Manager/Richard Bailey, Nicolas Vorgesetzter), Kathrin Finja Meier (Pat, Büroleiterin), Silke Dubilier (Trish, Fabrikarbeiterin), Thomas Wegscheider (Angel/Ringrichter), Oliver Pauli (Angel/Nummerngirl), J. Boltzendahl/J. Janus (junger Charlie, Charlie als sieben Jahre alter Junge), O. Wuttke/E. Wuttke (junger Simon, Simon als zehn Jahre alter Junge). Uraufführung: 2. Oktober 2012, Bank of America Theatre, Chicago. Broadway-Premiere: 4. April 2013, Al Hirschfeld Theatre, New York City. West End-Premiere: 15. September 2015, Adelphi Theatre, London. Deutsche Erstaufführung: 3. Dezember 2017, Operettenhaus, Hamburg. Premiere: 12. September 2021, Theater für Niedersachsen, Stadttheater Hildesheim, Großes Haus, Hildesheim.



„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“


Lilo Wanders inszeniert die erste Stadttheater-Aufführung des Musicals im deutschsprachigen Raum


„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“, Theater für Niedersachsen, von links: Clemens Otto Bauer (Angel), William Baugh (Lola), Oliver Pauli (Angel) und Thomas Wegscheider (Angel). Foto: buehnenfotograf.de

Die Tragikomödie „Kinky Boots“ (2005) von Geoff Deane und Tim Firth beruht auf einer wahren Begebenheit und wurde von der am 24. Februar 1999 erstmals auf BBC Two ausgestrahlten Folge der Dokumentarserie „Trouble at the Top“ inspiriert: Steve Pateman übernahm in Northampton die Schuhfabrik W.J. Brooks Ltd. von seinem Vater und spezialisierte sich auf die Herstellung von Fetisch-Schuhwerk unter dem Markennamen „Divine Footwear“, um die Firma vor dem Bankrott zu retten. In der Regie von Julian Jarrold spielten Joel Edgerton (Charlie Price) und Chiwetel Ejiofor (Lola/Simon) die Hauptrollen. Die Musicaladaption von Cyndi Lauper (Musik und Liedtexte) und Harvey Fierstein (Libretto) basiert auf eben diesem Film. Die Out-of-Town Tryouts fanden vom 2. Oktober bis 4. November 2012 im Bank of America Theatre in Chicago statt, am 4. April 2013 feierte das Musical in überarbeiteter Form seine Broadway-Premiere am Al Hirschfeld Theatre und wurde dort bis 7. April 2019 in 2.507 Vorstellungen gezeigt. „Kinky Boots“ wurde 2013 für 13 Tony Awards nominiert und gewann sechs Auszeichnungen, darunter als „Bestes Musical“ und für Cyndi Lauper in der Kategorie „Beste Originalmusik“. Vom 15. September 2015 (Previews ab 21. August 2015) bis 12. Januar 2019 wurde das Musical auch am Adelphi Theatre in London gezeigt. Die Deutsche Erstaufführung mit Gino Emnes (Lola/Simon) und Dominik Hees (Charlie Price) wurde vom 3. Dezember 2017 bis 30. September 2018 am Operettenhaus in Hamburg aufgeführt.

„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“, Theater für Niedersachsen, William Baugh (Lola). Foto: buehnenfotograf.de

Das Musical „Kinky Boots“ handelt von Charlie Price, der die heruntergekommene Schuhfabrik seines Vaters in Northampton erbt. Um die Firma zu retten, sucht Charlie nach einer Idee, die das Unternehmen zurück zu alter Größe führen kann. Als er durch Zufall die Dragqueen Lola kennenlernt, finden die beiden die Nische, die Price & Son retten soll: Schrille, modische und zugleich stabile Schuhe und Stiefel für Dragqueens – „Kinky Boots“. Die Fabrikarbeiter von Price & Son sind zunächst wenig begeistert von diesem Plan, doch Charlie und Lola nutzen ihre neu gewonnene Freundschaft, um für ihre Idee und das Vermächtnis von Charlies Vater zu kämpfen.

„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“, Theater für Niedersachsen, Ensemble. Foto: buehnenfotograf.de

Lilo Wanders (Schauspieler und Travestiekünstler Ernst-Johann Reinhardt) gibt mit „Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“ am Theater für Niedersachsen ihr Regiedebüt, Oliver Pauli, Oberspielleiter der tfn Musical Company, agiert als Co-Regisseur. Die Regie arbeitet die Charaktereigenschaften der handelnden Personen bis zu den kleinen Nebenrollen klar erkennbar heraus, wodurch dem Publikum der Gesamteindruck eines vielfältigen und lebhaften Miteinanders vermittelt wird. Choreograf Nigel Watson (Co-Choreografie „Ein Amerikaner in Paris“, Tourneeproduktion der Konzertdirektion Landgraf, Premiere 18. November 2019, Stadttheater Minden) hat für die Szenen mit Lola und ihre drei Angels furiose Tanzsequenzen erarbeitet, bei denen der Popscore von Cyndi Lauper für viel Dynamik sorgt. Zum Finale dreht schließlich das gesamte Ensemble so richtig auf, tanzt zu „Steh zu dir/Leb frei“ („Raise You Up/Just Be“) in kinky Boots und sorgt für bestes Entertainment. Die Bühne ist sehr reduziert, besteht im Wesentlichen aus einer hellen Backsteinfassade mit drei abgerundeten Fenstern und einem weißen Laufsteg, der von der Bühnenmitte nach vorne ragt und sich dann in T-Form fortsetzt. Hinzu kommen ein paar bewegliche Elemente, wie z.B. ein Schreibtisch, eine Schaufensterdekoration oder ein Firmenschild „PRICE & Son“. Die Bühne wird dominiert von Weiß und Grau. Farbe kommt einzig durch die Dragqueens Lola und ihre drei Angels ins Spiel. Sebastian Ellrich zeichnet für die Ausstattung verantwortlich und setzt zweifellos den Focus auf die Personen. Die schlichte Bühne tritt eher in den Hintergrund und repräsentiert unterschiedliche Schauplätze wie z. B. Schuhfabrik, Ladenzeile in London, Laufsteg in Mailand. Hier kommen zwei riesige Stilettos, ebenfalls in schlichtem Weiß gehalten, als Dekoration hinzu. Umso ausgefeilter fallen die Kostüme aus. Vor allem die grellen Kleider der Drag Queens und die bunten Stiefel schillern vor der weißen Fassade. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Schuhfabrik tragen hingegen graue Kleidung und treten hierdurch zunächst in den Hintergrund. Das Farbenspiel wird sehr geschickt eingesetzt und sagt schon viel darüber aus, wie das Stück in Hildesheim angelegt ist: Es geht nicht nur darum, eine Schuhfabrik mit Hilfe eines Nischenproduktes vor der Pleite zu retten, sondern vor allem darum, Geschichten über Menschen zu erzählen, denen es mit Hilfe von Toleranz und gegenseitigem Verständnis schließlich gelingt, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Dabei wird deutlich, dass unterschiedliche Lebenswelten nicht immer ganz leicht zusammenzuführen sind. Letztendlich geht es um Veränderungen, die sich ergeben, wenn man jemanden so akzeptieren kann, wie er ist. Die achtköpfige Band mit Streichern und Bläsern bringt die einfallsreiche Partitur unter der Musikalischen Leitung von Andreas Unsicker mit viel Elan aus dem Orchestergraben zu Gehör.

„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“, Theater für Niedersachsen, William Baugh (Lola) und Daniel Wernecke (Don). Foto: buehnenfotograf.de

Das 13-köpfige Ensemble in Hildesheim wird von William Baugh (Swing, Cover Raymond Hill in „Tina – das Tina Turner Musical“, Premiere 3. März 2019, Operettenhaus Hamburg) als Lola/Simon und Johannes Osenberg als Charlie Price angeführt. William Baugh füllt die Rolle der Dragqueen völlig überzeugend aus und weiß sowohl tänzerisch als auch mit sehr guter Textverständlichkeit gesanglich zu überzeugen. Lola hat ihr Glück in schillernden Frauenkleidern in London gefunden, sie weiß, was für Frauen zählt, weshalb ihr die Herzen der Fabrikarbeiterinnen zufliegen. Auch wenn sie erst an zweiter Stelle auf der Besetzungsliste genannt wird, so dreht sich „Kinky Boots“ doch um Lola als Hauptperson. William Baugh gelingen vor allem im Zusammenspiel mit Johannes Osenberg als Fabrikbesitzer Charlie Price sehr intensive und berührende Momente. Der wird anfänglich von seiner Verlobten Lauren dominiert, kann sich aber im Laufe der Handlung emanzipieren, so dass auf ihn nach zwischenzeitlichen Rückschlägen ein Happy End wartet. Folkwang Alumna Lara Hofmann weiß als Charlies Verlobte Nicola zu überzeugen, die auf eine erfolgreiche Karriere in London fixiert ist und vergeblich versucht, ihn zum Verkauf der Schuhfabrik zu drängen. Katharina Wollmann stellt als patente und sympathische Fabrikarbeiterin Lauren fest, dass sie sehr zu ihrem Leidwesen hoffnungslos in ihren Boss verknallt ist, und bringt dies in „Die richtig falschen Typen“ („The History of Wrong Guys“) mit Gespür für Komik zum Ausdruck. In hochhackigen Stiefeln und hinreißendem Kleid nutzt sie schließlich ihre Chance, Charlie auf sich aufmerksam zu machen. Daniel Wernecke fällt es in der Rolle des klassischen Machos Don zunächst schwer, andere Rollenbilder zu akzeptieren, erst als Simon ihn den Boxkampf gewinnen lässt, überdenkt er seine Einstellung und motiviert die Belegschaft, sich gemeinsam mit Charlie für den Erhalt der Schuhfabrik einzusetzen.

„Kinky Boots – ziemlich scharfe Stiefel“, Theater für Niedersachsen, von links: Silke Dubilier (Trish), Raphael Dörr (George), Johannes Osenberg (Charlie), Daniel Wernecke (Don) und Lara Hofmann (Marge). Foto: buehnenfotograf.de

Bereits das Finale „Steh zu dir/Leb frei“ macht einfach gute Laune. Am Ende der etwa zweieinhalbstündigen Premiere belohnte das Publikum alle Darsteller*innen, Musiker*innen und das Kreativteam mit langanhaltendem Applaus. Da eine Premierenfeier aufgrund der COVID-19-Pandemie nur mit limitierter Gästezahl stattfinden könnte, kam Intendant und Geschäftsführer Oliver Graf im Anschluss auf die Bühne und stellte dort alle Beteiligten namentlich vor. Die nächsten Vorstellungen stehen am 15., 23. und 26. September sowie am 25. Oktober 2021 am Stadttheater Hildesheim auf dem Spielplan.

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