Auf einen „Mr. Devils Knockout“ am Elefantenbrunnen mit Gil Mehmert

Nachgefragt beim Regisseur des Folkwang Musicals „Grand Hotel“

Die Folkwang Universität der Künste zeigt im April diesen Jahres das Musical „Grand Hotel“ von Robert Wright und George Forrest (Musik und Liedtexte), Maury Yeston (zusätzliche Musik und Liedtexte) und Luther Davis (Buch) nach dem Roman „Menschen im Hotel“ von Vicky Baum (1929) und der Oscar-prämierten MGM-Verfilmung „Grand Hotel“ (1932) von Edmund Goulding mit Greta Garbo (Elisaweta Grusinskaja), John Barrymore (Baron Felix von Gaigern) und Joan Crawford (Flämmchen) als Abschlussprojekt im Studiengang Musical. Gil Mehmert („Goethe! – Das Musical“, Uraufführung 10. Juli 2020, Bad Hersfelder Festspiele; „Wüstenblume“, Uraufführung 22. Februar 2020, Theater St. Gallen; „Das Wunder von Bern“, Uraufführung 23. November 2014, Theater an der Elbe, Hamburg) führt Regie, Marie-Christin Zeisset zeichnet für die Choreografie verantwortlich, Britta Tönne für die Ausstattung, und Patricia M. Martin hat die Musikalische Leitung übernommen.

Im März 1928 begegnen wir im Berliner „Grand Hôtel“ der alternden russischen Primaballerina Elisaweta Grusinskaja mit „zwei Narben der Eitelkeit im Gesicht“ und ihrer Vertrauten Raffaela Ottanio, die heimlich in sie verliebt ist, dem morphiumabhängigen Oberst Doktor Otternschlag mit einem „Souvenir aus Flandern“ aus dem Ersten Weltkrieg, der seit 10 Jahren jährlich für ein paar Monate im „Grand Hôtel“ wohnt und täglich in der Lobby auf Post und menschliche Zuwendung wartet, dem jungen, verarmten Baron Felix von Gaigern, der seinen Unterhalt durch Diebstahl bestreitet, was aber niemand von ihm erwarten würde, den vor dem geschäftlichen Zusammenbruch der Saxonia Baumwoll AG, Fredersdorf, stehenden Fabrikdirektor Hermann Preysing und dessen todkrankem Buchhalter Otto Kringelein sowie der Aushilfssekretärin Fräulein Frieda Flamm, genannt „Flämmchen“, als Hotelgäste.

The Ritz-Carlton Berlin

Die Geschichte spielt in den vom wirtschaftlichen Aufschwung der weltweiten Konjunktur geprägten Goldenen Zwanziger Jahren, auch als Roaring Twenties und années folles bezeichnet, die mit dem Wall Street Crash am sogenannten Black Tuesday (29. Oktober 1929) endeten. „Babylon Berlin“ ist der Quotenhit, „Berlin Berlin“ tourt als Bühnenproduktion durch die Lande, „Chicago“-Produktionen schießen wie Pilze aus dem Boden, augenblicklich ist das Musical am Staatstheater Braunschweig, am Theater Koblenz und am Theater Kassel zu sehen. Das Broadway Revival von 1996 kann nach „The Phantom of the Opera“ mit der zweitlängsten Laufzeit am Broadway aufwarten und ist das am häufigsten gespielte Revival. Zeitzeugen werden langsam rar, und irgendwie hat das Ganze etwas von Glorifizierung der „Guten Alten Zeiten“. Was macht die Goldenen Zwanziger Jahre augenblicklich nicht nur für Theaterproduktionen so interessant?

Gil Mehmert: Ich bin nicht sicher, ob der Begriff „die guten alten Zeiten“ hier passt, es waren ja eher unruhige Zeiten und das kulturelle Leben hat entweder versucht offensiv darauf hinzuweisen, dass alles in Bewegung ist oder auch mit allen Extremen versucht, Räusche des Vergessens herbeizuführen. Nun ist die Zeit zwar von Menschen definiert, zumindest das Zählen in Jahrzehnten und Jahrhunderten und doch wirkt unsere Welt 100 Jahre später an einem ähnlichen Punkt der Überhitzung. Und man kann nur hoffen, dass die kommenden 30iger Jahre die aktuellen wilden 20iger besser verarbeiten. Die Faszination liegt meines Erachtens also in der Rückbesinnung eines Jubiläums und dem sich ähnelndem Lebensgefühl einer gewissen Dekadenz. „Chicago“ als einen versierten Klassiker wollten jahrelang alle Stadttheater spielen, nur eben jetzt wurden die Rechte wieder frei, auch deswegen häufen sich die Neu-Inszenierungen.

Der Mythos der Goldenen Zwanziger Jahre zeigt das hoffnungsvolle Gesicht der Weimarer Republik: Ein „Tanz auf dem Vulkan“ kurz vor der Weltwirtschaftskrise und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, bei dem Armut und Reichtum dicht beieinander lagen. Die von Vicky Baum in ihrem Roman beschriebenen, aus der Bahn geworfenen Menschen im Hotel kämpfen um ihr Dasein, aber am Ende gibt es – beinahe im Gegensatz zum vermeintlichen Glamour des Nobelhotels – fast nur Verlierer. Will das Theaterpublikum heutzutage Verlierer sehen? Ist das Thema beim musikalischen Unterhaltungstheater wirklich gut aufgehoben? Und warum wird das Musical „Grand Hotel“ dann so selten gespielt? In den letzten 10 Jahren wurden im deutschsprachigen Raum meines Wissens lediglich vier Produktionen am Staatstheater am Gärtnerplatz in München (Premiere 3. Februar 2011, Regie Pavel Fieber), bei den Schlossfestspielen Ettlingen (Premiere 26. Juni 2014, Regie Udo Schürmer), am Landestheater Linz (Premiere 16. Januar 2016, Regie Andy Hallwaxx) und am Stadttheater der Bühne Baden (Premiere 28. Juli 2017, Regie Werner Sobotka) gezeigt.

Gil Mehmert: Ich hoffe, dass sich inzwischen etabliert hat, dass Musical nicht ausschließlich für oberflächliche Unterhaltung zuständig ist. Natürlich bietet sich die Palette der hier möglichen Erzählformen für Unterhaltung mit Happy End an, aber nicht wenige erfolgreiche Musicals wie „West Side Story“, “Evita“, „Les Misérables“, „Miss Saigon“, „Jekyll & Hyde“ oder auch „Elisabeth“ nutzen diese Formensprache des Musicals für Themen ohne Happy End. Und diese Stoffe interessieren mich persönlich mehr.

Beinahe wären die 1920er-Jahre bereits 2019 Thema des Folkwang Musicals gewesen, nun ist die Wahl dieses Jahr auf „Grand Hotel“ gefallen. Was spricht für „Grand Hotel“ als Folkwang Musical, neben der Tatsache, dass es in 30 Jahren Folkwang Musical noch niemals an der Folkwang Universität der Künste gezeigt wurde?

Gil Mehmert: Unabhängig vom Inhalt gibt es systembedingt auch noch andere zwingende Kriterien für unsere Werkauswahl: können wir einen Abschlussjahrgang gut präsentieren, haben wir also für 5 bis 6 Solisten, für ihr jeweiliges Fach und Geschlecht spielbare und interessante Rollen? Und damit fallen viele Werke schon raus. Auch Stücke, die ein gewisses Grundniveau an Ausstattung verlangen mit vielleicht noch vielen Kostümwechseln, sind für uns nicht immer gut zu bewältigen und bringen eine Universität an ihre Grenzen.

„Menschen im Hotel“ verfügt über derartig viele Figuren, dass Vicky Baum ihr Werk zunächst für nicht inszenierbar erachtete. Also sicher genügend Rollen für 12 Darsteller*innen. Unter der Annahme, dass „Grand Hotel“ an der Folkwang Universität ohne Gäste auskommt und ausschließlich mit Studierenden des vierten und dritten Jahrgangs des Studiengangs Musical besetzt ist, wie kann es gelingen, dass auch ältere Figuren auf der Bühne glaubwürdig erscheinen? Was können Sie den Darsteller*innen als Regisseur mit auf den Weg geben, dass beispielsweise eine Studentin Anfang 20 (die älteste Studentin des Abschlussjahrgangs 2021 ist 24 Jahre alt) eine alternde Primaballerina glaubhaft darstellt, eine Diva, die mit ihrem zunehmenden Alter und der Einsamkeit außerhalb der Bühne hadert und ein wenig an Norma Desmond in „Sunset Boulevard“ erinnert? Sona MacDonald (* 1961 in Wien), die 2017 die Primaballerina am Stadttheater der Bühne Baden gespielt hat, wird daselbst im Sommer diesen Jahres als Norma Desmond zu sehen sein. Im Gegensatz dazu war Greta Garbo (* 18. September 1905 in Stockholm, † 15. April 1990 in New York City) bei den Dreharbeiten zu „Grand Hotel“ (Dezember 1931 bis Februar 1932) erst 26 Jahre alt und damit für einige Kritiker zu jung und zu gutaussehend, um die alternde Primaballerina am Ende ihrer Karriere darzustellen. John Barrymore (* 14. Februar 1882 in Philadelphia, Pennsylvania, † 29. Mai 1942 in Los Angeles, Kalifornien), der im Film den jüngeren Baron Felix von Gaigern spielte, war 23 Jahre älter als Greta Garbo. Die Besetzung im Film dürfte wohl dem Bestreben geschuldet sein, alle Rollen mit namhaften Stars zu besetzen. Music Theatre International gibt das Spielalter für Elisaweta Grusinskaja mit 40 bis 50 Jahren an, für Baron Felix von Gaigern mit 25 bis 35 Jahren.

Gil Mehmert: Das ist sicher ein kritischer Punkt, den wir hier bewusst in Kauf nehmen müssen, da wir andere Aspekte an dieser Stückauswahl sehr passend für unsere Studenten empfinden. Es ist nun mal eine Produktion im studentischen Rahmen und damit überwiegen pädagogische Aspekte. Mit diesem Problem hat die Opernausbildung oft noch mehr zu kämpfen.

Die Figuren in „Grand Hotel“ sind allesamt als Stereotype charakterisiert. Haben die Darsteller*innen in ihren Rollen dementsprechend zu agieren, oder lassen Sie ihnen als Regisseur Entfaltungsmöglichkeiten?

Gil Mehmert: Das kann ich so theoretisch vor dem eigentlichen Probenbeginn gar nicht benennen. Jeder Probenprozess und jede Begegnung mit Darstellern hat seine eigene Dynamik, die im besten Falle zu einem schönen Ergebnis führt, das seinen Rahmen durch die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Beteiligten absteckt. Inklusive der Möglichkeiten des Regisseurs und des ganzen Leadingteams, aber auch der Technik und des Etats. Was theoretisch richtig oder falsch wäre für eine Spielweise oder szenische Umsetzung, wird in der Praxis davon eingeschränkt, was in dieser Konstellation gut oder schlecht wirken könnte.

„Menschen im Hotel“ trug anfänglich den ironischen Untertitel „Kolportageroman mit Hintergründen“, wobei selbige nicht nur bloße Staffage sind. Doktor Otternschlag sagt im Roman zu sich: „Nichts geschieht. Es geht nichts vor. Langweilig.“ In der Metro-Goldwyn-Mayer-Verfilmung resümiert Lewis Shepard Stone: „Grand Hotel. Always the same. People come. People go. Nothing ever happens.“ Auch das Musical mit seiner montageartigen Erzählweise verfügt über keine lineare Handlung, Doktor Otternschlag übernimmt für das Publikum die Aufgabe eines Kommentators. Wie gehen Sie als Regisseur an diese Erzählweise heran, damit sie die Zuschauer nicht als langweilig empfinden?

Gil Mehmert: Das ist nun mal die gleiche Problematik wie bei „Leonce und Lena“: Ein Protagonist langweilt sich, das soll aber das Publikum nicht langweilen. In „Grand Hotel“ passiert ja genug, von dem der Doktor gar nichts mitbekommt und was eben nicht langweilig ist. Das ist vielleicht auch sein Missverständnis, nur weil sein Leben stagniert, bedeutet das nicht, dass die gleiche Zeit für die anderen Hotelgäste nicht vielleicht doch Aufregendes bereit hält.

Britta Tönne („Frankenstein“, Premiere 28. September 2019, „Die lustige Witwe“, Premiere 16. Dezember 2016, „Klein Zaches, genannt Zinnober“, Uraufführung 14. November 2015, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen) zeichnete bereits bei den letzten Folkwang Musicals „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ und „Knockin’ On Heaven’s Door – Das Rock’n Road Musical“ für Bühne und Kostüme verantwortlich. Was kann/darf der Zuschauer bei „Grand Hotel“ auf der Bühne erwarten, provokant gefragt: das luxuriöse Ambiente eines Fünf-Sterne-Hotels mit stilisiertem Elefantenbrunnen wie im Hotel Adlon, das leicht den Etat von fünf Jahren verschlingen könnte, oder eine sachliche Drehtür, durch die die Hotelgäste kommen und gehen?

Gil Mehmert: Natürlich können wir nicht mit großer Ausstattung protzen. Und es ist immer unser Anliegen, dass eher die Studenten und ihre Arbeit im Mittelpunkt stehen. Das wird immer der Spagat bei einer Musical-Ausbildung sein, die Stücke sind in der Regel auf Prunk ausgelegt, aber wir müssen den Fokus auf andere Qualitäten lenken, so dass sich trotzdem noch das Stück erzählt. Da gibt es letztlich auch ein stilles Einvernehmen mit unserem Uni-Publikum, dass uns eine einfache Ausstattung nicht allzu übel nimmt.

Die Berliner Stepptänzerin, Pädagogin und Choreografin Marie-Christin Zeisset („Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“, Uraufführung: 23. Juni 2016, Neuköllner Oper, Berlin) choreografierte für das MDR Fernsehballett und ist seit dem Wintersemester 2016/2017 Stepp-Dozentin im Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste Berlin, ist aber meines Wissens als Choreografin für „Grand Hotel“ zum ersten Mal für die Folkwang Universität tätig. Wie kam die Zusammenarbeit zustande? Steppt im Essener „Grand Hotel“ beim „Grand Charleston“ der sprichwörtliche Berliner Bär?

Gil Mehmert: Marie-Christin Zeisset kennt sich in den Tanzstilen der Zeit gut aus, und wir versuchen natürlich immer wieder neue Impulse für die Studenten zu setzen. Damit bot sich eine Zusammenarbeit hier gut an.

Im Hinblick auf Erfahrungen für die Studierenden im „normalen“ Theateralltag: Die letztjährige Produktion „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ wurde meines Wissens nur an der Folkwang Universität der Künste gezeigt. Wird „Grand Hotel“ nach den Aufführungen an der Folkwang Universität auch noch an anderer Stelle zu sehen sein?

Gil Mehmert: Wir arbeiten gerne mit Partnern zusammen, aber das muss sich auch immer wieder ergeben und dann für beide Seiten passen. Manche Möglichkeiten zerschlagen sich dann auch wieder, weil es eben nicht für beide Seiten optimal ist. „Spring Awakening“ wurde als Material schon 2014 von uns optimal ausgewertet, indem es sowohl mit dem MiR in Gelsenkirchen als auch mit Landgraf zur Zusammenarbeit kam. Das ließ sich in diesem recht kurzem Abstand nicht wiederholen. Die neue Qualität war hier gerade, dass wir das Stück nun auf dem Campus zeigen. „Grand Hotel“ bietet sich tatsächlich nicht für eine Auswertung an, weil es eben – wie oben angeklungen ist – in einem studentischen Rahmen gelöst wird.

In 30 Jahren Folkwang Musical ist viel passiert, 148 Studierende haben seit der Gründung des Studiengangs ihr Studium erfolgreich abgeschlossen, der „Broadway an der Ruhr“ ist gescheitert, der Marktführer zieht sich vollständig aus dem Ruhrgebiet zurück, da es nicht gelungen sei, den Spielbetrieb hier profitabel zu gestalten. Wohin wird die Reise gehen? Ist das Genre durch die Kommerzialisierung schon derartig verrufen, dass sich das Publikum anderen Formen der Unterhaltung zuwendet, oder befinden wir uns augenblicklich nur in einem Umbruch? Hat die Situation auch Auswirkungen auf die Musical-Ausbildung?

Gil Mehmert: Wo etwas stirbt, wird anderes neues Leben entstehen. Das ist die Natur der Dinge und so ist es eben auch im Theater. Schade, dass es das Ruhrgebiet gerade so geballt trifft, aber wir hoffen, dass es vielleicht auch wieder zu positiven Entwicklungen kommt. Unsere Studenten und damit auch der Studiengang sind davon akut nicht betroffen, der Markt ist weiter groß und unsere Studenten finden ihren Platz.

Schon jetzt viel Erfolg für die Probenarbeit und die Premiere am 18. April 2020.


Samstag, 14. März 2020

Absage aller öffentlichen Hochschulveranstaltungen der Folkwang Universität der Künste aufgrund der COVID-19-Pandemie bis zunächst 20. April 2020



Dienstag, 24. März 2020

Alle öffentlichen Veranstaltungen, Workshops oder Tagungen der Folkwang Universität der Künste sind bis voraussichtlich Ende Mai abgesagt. Dies betrifft auch die Folkwang Sommeroper, deren Premiere für den 13. Juni geplant war.


Sonntag, 27. September 2020

Als neuer Termin für die Premiere ist der 19. November 2020 in Planung.


Dienstag, 3. November 2020

An der Folkwang Universität der Künste können bis einschließlich 30. November 2020 gemäß der aktuell gültigen Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen keine Veranstaltungen mit Publikum stattfinden. Daher entfallen die beiden Vorstellungen von „Grand Hotel“ am 19. und 20. November 2020.

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