„Frankenstein“ am Musiktheater im Revier


„Frankenstein“ – nach dem Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“ von Mary Shelley (1818); Musik, Libretto: Jan Dvořák; Inszenierung: Sebastian Schwab; Bühne: Britta Tönne; Kostüme: Rebekka Dornhege Reyes; Puppenbau: Ingo Mewes, Karin Tiefensee, HfS „Ernst Busch“, Abt. Puppenspielkunst; Licht: Thomas Ratzinger; Ton: Marco Brinkmann; Geräusche: Johannes Kuchta; Dramaturgie: Olaf Roth; Musikalische Leitung: Giuliano Betta. Darsteller: Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik, Eileen von Hoyningen Huene, Anastasia Starodubova, Studentinnen bei Astrid Griesbach, Professorin für Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS „Ernst Busch“ (Das Monster), Piotr Prochera (Viktor Frankenstein), Bele Kumberger/Giulia Montanari (Elisabeth Delacey, Viktor Frankensteins Verlobte), Urban Malmberg (Alois Frankenstein, Viktor Frankensteins Vater/Bauernvater/Pelzjäger), Michael Tews (Vater Delacey/Priester/Fischer/Kapitän Robert Walton), Tobias Glagau (Bauer/Ernst Frankenstein, Victors sieben Jahre jüngerer Bruder/junger Fischer/Maat), Solist des Knabenchors der Chorakademie Dortmund (Bauernkind/Wilhelm Frankenstein, Viktors jüngster Bruder), Sina Jacka (Sopran, Vogel/Dienstmädchen/Bäuerin), Rina Hirayama (Alt, Bauernmutter/1. Handwerker/Justine, Kindermädchen/Hochzeitsgast/Schiffsjunge), Benjamin Hoffmann (Tenor, Bauer/2. Handwerker/1. Matrose), John Lim (Bass, Bauer/3. Handwerker/Hochzeitsgesellschaft/2. Matrose). Uraufführung: 20. Mai 2018, Kampnagel, Hamburg. Premiere: 28. September 2019, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen. Besuchte Vorstellung: 3. Oktober 2019



„Frankenstein“


Der Schauerroman als „Gothic Opera“ am Musiktheater im Revier


Mary Shelley, geb. Godwin (* 30. August 1797 in London, † 1. Februar 1851 in London) schrieb im „Jahr ohne Sommer“ (1816) in der Villa Diodati in Cologny am Genfersee, wo sie mit ihrem zukünftigen Ehemann Percy Bysshe Shelley den Sommer verbrachte, den Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“, der am 1. Januar 1818 im Londoner Verlag Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones erstmals anonym veröffentlicht wurde. Mary Shelley hatte bereits in jungen Jahren dunkle Erfahrungen mit dem Tod gemacht: am 22. Februar 1815 brachte sie frühzeitig ihre und Percy Bysshe Shelleys gemeinsame Tochter Clara zur Welt, die nur wenige Tage lebte. In ihren Tagebüchern soll sich die Autorin gewünscht haben, Clara wieder zum Leben erwecken zu können. Die womöglich bekannteste Verfilmung des Stoffes in der Regie von James Whale mit Boris Karloff als das Monster (Premiere 21. November 1931) beruht auf einer Bühnenbearbeitung des Romans von Peggy Webling, die nur einige Motive und Personen aus Mary Shelleys Romanvorlage verwendet. 2014 zeigte das Theater Basel das Schauspiel „Frankenstein“ (Premiere 19. September 2014) in einer Adaption von Film-, Opern- und Theaterregisseur Philipp Stölzl (* 1967 in München) und Komponist Jan Dvořák (* 1971 in Hamburg, nicht verwandt mit dem tschechischen Komponist Antonín Dvořák), auf dessen Grundlage Jan Dvořák die Oper „Frankenstein“ als Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper zum 200-jährigen Jubiläum des Grusel-Klassikers schuf. Die Oper wurde im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg vom 20. bis 27. Mai 2018 als Kooperation der Hamburgischen Staatsoper mit Kampnagel, der Elbphilharmonie Hamburg und der Hochschule für Musik und Theater Hamburg auf Kampnagel (eine ehemalige Maschinenfabrik in Hamburg-Winterhude) uraufgeführt, Philipp Stölzl führte wiederum Regie. Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen zeigt „Frankenstein“ von Jan Dvořák in einer revidierten Fassung ab 28. September 2019 als erste Opernpremiere der Spielzeit 2019/2020 in einer Inszenierung von Sebastian Schwab (* 1977 in Frankfurt am Main), der am Musiktheater im Revier bereits „Klein Zaches, genannt Zinnober“ in Szene gesetzt hat.

„Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Piotr Prochera (Viktor Frankenstein), Bianka Drozdik, Evi Arnsbjerg Brygmann, Eileen von Hoyningen Huene. Foto: Monika und Karl Forster

Der junge Schweizer Viktor Frankenstein hat an der damals berühmten Universität Ingolstadt aus wissenschaftlichem Forschungstrieb aus Leichenteilen ein menschliches Wesen erschaffen, ist jedoch von den abstoßenden Zügen seiner Kreatur angewidert und überlässt das unansehnliche Monster sich selbst. Kaum dass es gelernt hat, sich selbst zu koordinieren, begibt sich das Monster auf die Suche nach Menschen, die es für seinesgleichen hält. Bald findet es Zuflucht in einem Verschlag, der zu der kärglichen Hütte Delaceys gehört, und sucht den blinden Mann regelmäßig auf, wenn seine Tochter Elisabeth sich außer Haus befindet, die gleichzeitig die Verlobte Viktor Frankensteins ist. Noch fällt dem Monster der Gebrauch der menschlichen Sprache schwer, und es weiß auch nicht, wo es eigentlich herkommt, aber es hegt gute Absichten. Bald muss das Monster aber feststellen, dass sehende Menschen auf seinen Anblick mit Abscheu und Schrecken reagieren und es sogar vernichten wollen. In seiner Not tötet es drei Handwerker. Darauf trifft es auf Viktor Frankensteins jüngsten Bruder Wilhelm und tötet auch diesen, während sein Kindermädchen Justine schläft. Justine wird für den Mord verantwortlich gemacht und zum Tode verurteilt. Allein Viktor Frankenstein ahnt, wer der wahre Täter ist. Wütend stellt er die Kreatur zur Rede und erfährt, dass sie böse und niederträchtig handelt, weil sie sich sehr einsam fühlt. Das Monster verlangt von Viktor Frankenstein, dass er ihm eine Gefährtin erschaffen und ihm zur Seite stellen soll. In einem abgelegenen Laboratorium auf den Orkney Islands – ein seit 1468 zu Schottland gehöriges Archipel – macht sich Viktor Frankenstein an die Arbeit, zerstört aber kurz vor der Vollendung sein Werk aus Furcht, dass die beiden Monster dann Nachkommen haben könnten, die zu einer Bedrohung für die Menschen werden könnten. Als Viktor Frankenstein nach Genf zurückkehrt, heiratet er seine Verlobte Elisabeth Delacey. Kaum dass er Elisabeth allein im Schlafgemach der Neuvermählten zurückgelassen hat, wird sie von dem Monster aufgesucht und aus Eifersucht ermordet. Viktor Frankenstein schwört daraufhin, das Monster auf Leben und Tod zu verfolgen, und begibt sich auf der Suche nach der Kreatur auf eine lange Reise bis in die Arktis. Völlig überanstrengt wird er von Kapitän Walton auf seinem Forschungsschiff „Prometheus“ aufgenommen, das im Packeis gefangen ist. Die Matrosen drängen Kapitän Walton, umzukehren, und als die „Prometheus“ wieder freikommt, gibt er dem Drängen schließlich nach. Viktor Frankenstein ist völlig entkräftet und stirbt bald darauf. Das Monster findet seinen leblosen Schöpfer, bittet ihn um Verzeihung und nimmt Abschied.

„Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Evi Arnsbjerg Brygmann, Eileen von Hoyningen Huene. Foto: Monika und Karl Forster

Im Gegensatz zur „Arenabühne“ bei der Uraufführung auf Kampnagel hat sich Regisseur Sebastian Schwab am Musiktheater im Revier für eine traditionelle „Guckkastenbühne“ mit Orchestergraben entschieden, für die Britta Tönne ein anatomisches Theater mit romantischer Malerei als Bühnenbild entworfen hat, die mit vier aufsteigenden Reihen an einen Hörsaal erinnert und den voyeuristischen Gedanken der anatomischen „Schaubühnen“ aufgreift. Darin entstehen die Spielorte der 16 Bilder der Oper zwischen einem Wald bei Ingolstadt, Genf, den Hängen des Mont Blanc, Orkney und dem Nordpool, die durch die der Entstehungszeit des Romans angepassten Kostüme und die gesprochenen Texte vermittelt werden. Die Darsteller*innen nehmen zuweilen eine beobachtende Position im Hörsaal ein, werden aber im nächsten Augenblick Teil der Handlung und greifen in das Geschehen ein. So sind die Ebenen zwischen den Zuschauern, den Beobachtern auf der Bühne und den Darstellern miteinander verknüpft: Regisseur Sebastian Schwab lässt das Proszenium bespielen, richtet zwei Windmaschinen auf die Zuschauer und lässt Piotr Prochera (Viktor Frankenstein) bei der Verfolgungsjagd durch das Publikum laufen. Die Bühne ist einfach und zweckmäßig ausgestattet, LED Tubes symbolisieren Holzscheite, aber auch Ruder, Schwerter oder auf Elisabeth Delaceys Kopf arrangiert eine Brautkrone. Es ist so, als setzte sich der Gedanke auch in den Bühne und Requisite fort: Am Anfang steht eine neu erschaffene Kreatur… und dann sehen wir mal, was passiert. Hier klingt eine hochaktuelle und ebenso brisante Thematik an. Was kann also geschehen, wenn wir etwas tun, weil es möglich ist, es uns aber am Ende tötet?

„Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Michael Tews (Elisabeths Vater Delacey) und das Monster. Foto: Monika und Karl Forster

Für die teilweise grotesken Kostüme der Darsteller*innen zeichnet Bühnen- und Kostümbildnerin Rebekka Dornhege Reyes (* 1984 in Münster/Westfalen) verantwortlich: Sina Jacka taucht beispielweise als menschengroße Meise auf, Viktor Frankenstein empfindet die groteske, heuchlerische Hochzeitsgesellschaft einfach nur „zum Kotzen“ und besorgt dies gleich in seinen Zylinder. Für die musikalische Gestaltung sorgt bei „Frankenstein“ am Musiktheater im Revier neben einem klassischen Orchester, E-Gitarre und Hammerklavier ein Geräuschemacher (Johannes Kuchta), so dass die atmosphärischen Klänge zuweilen an Filmmusik erinnern. Jan Dvořák springt in seiner Komposition zwischen vielen Musikgattungen hin und her, die Pluralität der Stile bezieht auch Jazzelemente, Pop und Opernrezitative mit ein. Die Erzählweise dieser aus dem Schauspiel entwickelten „Oper“ unterscheidet sich grundlegend von der eines tradierten Opernabends. Ähnlich wie bei einem Hörspiel setzt Jan Dvořák die Musik ein, um gewisse Stimmungen zu erzeugen, erzählerische Strukturen zu verstärken und Gefühle zu transportieren, und siedelt seine „Oper“ daher ganz und gar nicht in einer musikalischen Stilrichtung an. Wollte Chefdramaturg Olaf Roth in seiner fundierten Werkseinführung noch mit seiner Einschätzung beschwichtigen, die Musik sei nicht zum Davonlaufen, so waren zwei Zuschauer in der ersten Reihe im Parkett bereits vor der Pause anderer Meinung und verließen die laufende Vorstellung. Nach der Pause blieben weitere Plätze im Auditorium unbesetzt, die im ersten Akt noch besetzt waren. Die musikalische Leitung der mit vergleichsweise unkonventionellen Instrumenten besetzten Neuen Philharmonie Westfalen liegt in den Händen des Ersten Kapellmeisters des Musiktheaters im Revier Guiliano Betta. Damit auch die Sprechtexte der Darsteller*innen verständlich sind, werden ihre Stimmen mit Hilfe von Mikroports verstärkt, lediglich der Gesang bleibt operntypisch unverstärkt.

„Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Bianka Drozdik, Evi Arnsbjerg Brygmann, Piotr Prochera (Viktor Frankenstein), Eileen von Hoyningen Huene. Foto: Monika und Karl Forster

In der Oper „Frankenstein“ von Jan Dvořák steht das von Viktor Frankenstein geschaffene Monster im Mittelpunkt, das von einer Puppe dargestellt wird. Diese wurde in der besuchten Vorstellung von den drei Studentinnen Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene bei Astrid Griesbach, Professorin für Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, zum Leben erweckt. Sie bewegen die fast zwei Meter große, 15 kg schwere Puppe und leihen ihr auch ihre Stimmen. Anders als bei der Uraufführung auf Kampnagel wird das Monster nicht von einer vierten Darstellerin aus dem Off gesprochen, sondern von den Puppenspielerinnen selbst. Das Monster ist nicht in der Lage, sich singend zu artikulieren, die Puppenspielerinnen singen – und das gar nicht mal schlecht – lediglich zu Beginn den Song auf das Gedicht „Mutability“ von Percy Bysshe Shelley (1816 in der Sammlung „Alastor oder The Spirit of Solitude: And Other Poems“ erschienen), das zur Hälfte im Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“ von Mary Shelley zitiert wird. Natürlich zieht die Puppe mit ihrer Bewegung, Gestik und Mimik die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich, aber die Puppenspielerinnen „verschwinden“ nicht hinter dem Monster, sondern agieren teilweise auch ohne die Puppe auf der Bühne.

„Frankenstein“, Musiktheater im Revier, Bele Kumberger (Elisabeth Delacey) und Piotr Prochera (Viktor Frankenstein). Foto: Monika und Karl Forster

Der polnische Bariton Piotr Prochera lässt die Zerissenheit des Wissenschaftlers Viktor Frankenstein glaubhaft nachvollziehen, der mit seinem unbändigen Wissensdrang sein engstes Umfeld ins Verderben stürzt und schlussendlich im Zweikampf mit seiner Schöpfung unterliegt. Viktor Frankensteins Verlobte Elisabeth Delacey wurde in der besuchten Vorstellung von der deutsch-italienischen Sopranistin Giulia Montanari (* 1993 in den Niederlanden) verkörpert, die im Juli 2019 ihr Operngesangsstudium an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar mit einem Master of Music abgeschlossen hat, seit der Spielzeit 2019/2020 Mitglied im Opernstudio NRW ist und nach der Rolle der Elisabeth Delacey in der laufenden Spielzeit auch die Rolle der Ottilie in „Im weißen Rössl“ an der Oper Dortmund (Premiere 18. Januar 2020, Regie Thomas Enzinger) spielen wird. Gesanglich weiß sie in dem melancholischen Briefmonolog „Mein lieber Viktor“ für sich einzunehmen. Daneben rücken wenige Sänger*innen dem Monster in zahlreichen Rollen zu Leibe und unterstützen Viktor Frankenstein: Sina Jacka (Opernchor) unter anderem als Vogel und als kesses Dienstmädchen bei den Frankensteins, Rina Hirayama (Junges Ensemble am MiR) als Bauernmutter und als Kindermädchen Justine, Michael Tews a. G. als Elisabeths Vater Delacey und Kapitän Robert Walton, Tobias Glagau als Victor Frankensteins sieben Jahre jüngerer Bruder Ernst wie auch als mitfühlender junger Fischer, Urban Malmberg als Viktors Vater Alois Frankenstein und nicht zuletzt Benjamin Hoffmann und John Lim (beide Junges Ensemble am MiR) in verschiedenen namenlosen Partien.

Folgevorstellungen von „Frankenstein“ stehen bis 5. Januar 2020 auf dem Spielplan. Als weitere Produktionen mit Beteiligung des MiR Puppentheaters steht ab 6. Dezember 2019 mit „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ von Guus Ponsionen eine Puppentheater-Produktion für Kinder ab 8 Jahren auf dem Spielplan, und ab 20. März 2020 mit der „Winterreise“ von Wilhelm Müller und Franz Schubert in der Fassung von Dramaturgin Anna Chernomordik eine Puppentheater-Produktion für Erwachsene.

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