„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ an der Folkwang Universität der Künste


„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ – nach dem Drama von Frank Wedekind; Musik: Duncan Sheik; Buch/Songtexte: Steven Sater; Deutsche Bearbeitung: Nina Schneider; Regie: Nicole Claudia Weber; Choreografie: Natalie Holtom; Ausstattung: Britta Tönne; Musikalische Leitung: Patricia M. Martin. Darsteller: Florian Sigmund (Melchior Gabor), Lara Hofmann (Wendla Bergmann), Alejandro Nicolás Firlei Fernández (Moritz Stiefel), Jessica Trocha (Ilse), Nico Hartwig (Hänschen Rilow), Zoe Staubli (Martha Bessel), Frank-Leon Petzold (Ernst Röbel), Hella-Birgit Mascus (Erwachsene Frauen), Thorsten Ritz (Erwachsene Männer), Michael Berres (Georg Zirschnitz), Sophia Vivien Riedl (Thea), Myriam Akhoundov (Anna) und Lukas Mayer (Otto). Band: Patricia M. Martin (Keyboard), Nemanja Belij (Violine), Ruth Lehmann (Cello), Mark Meier (Gitarre), Servet Isik (Bass), Jonas Grätzer (Schlagzeug). Off-Broadway Premiere: 19. Mai 2006, Atlantic Theatre Company, New York City. Broadway-Premiere: 10. Dezember 2006, Eugene O´Neill Theatre, New York City. Deutsch­sprachige Erstaufführung: 21. März 2009, Ronacher, Wien. Premiere: 13. April 2019, Folkwang Universität der Künste, Neue Aula, Essen. Besuchte Vorstellung 15. April 2019.



„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“


Das diesjährige Abschlussprojekt der Studierenden im Studiengang Musical der Folkwang Universität der Künste


Als Frank Wedekind (* 24. Juli 1864 in Hannover, † 9. März 1918 in München) sein gesellschafts­kritisch-satirisches Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ im Oktober 1891 auf eigene Kosten beim Verlag Jean Groß in Zürich veröffentlichte, kümmerte sich der Autor nicht um Aufführbarkeit oder Publikumserfolg, erst 15 Jahre später wurde es am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen von Max Reinhardt (* 9. September 1873 in Baden bei Wien, † 31. Oktober 1943 in New York) uraufgeführt und sorgte mit seinem brisanten Inhalt in der Öffentlichkeit für Furore. Wedekinds Kritik an der Sexualmoral führte dazu, dass „Frühlings Erwachen“ wegen seiner angeblichen Obszönität verboten oder zensiert wurde. 1999 wandte sich der amerikanische Dramatiker Steven Sater an den Regisseur Michael Mayer (* 1960 in Washington, D.C.), um mit ihm und Songwriter Duncan Sheik (* 1969 in Montclair, New Jersey) an dem Stoff zu arbeiten. Nach diversen Workshops und Überarbeitungen erlebte das Rock-Musical „Spring Awakening“ am 19. Mai 2006 bei der Atlantic Theatre Company seine Off-Broadway Premiere, keine 7 Monate später folgte am 10. Dezember 2006 im Eugene O´Neill Theatre die Broadway Premiere. Nach nahezu einhellig positiven Kritiken wurde es 2007 für 11 Tony Awards nominiert, wovon es acht tatsächlich gewonnen hat, darunter Bestes Musical, Beste Musicalregie, Beste Choreographie, Bestes Musicallibretto, Beste Originalmusik und Bester Nebendarsteller.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, Folkwang Universität der Künste, Hella-Birgit Mascus (Frau Bergmann) und Lara Hofmann (Wendla Bergmann). © Franziska Götzen

Katrin Zechner war von der darstellerischen und musikalischen Intensität dieses Musicals überzeugt und holte es nach Wien, wo es am 21. März 2009 im Ronacher seine Deutschsprachige Erstaufführung erlebte, aber nur bis zum 30. Mai 2009 zu sehen war. Die deutsche Erstaufführung der neuen Bearbeitung der Österreicherin Nina Schneider (* 1973 in Salzburg) fand als Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding am 29. Juni 2011 am Deutschen Theater München statt, Regie führte Matthias Davids. Die Hochschule Osnabrück/German Musical Academy hat das Musical ab 30. Dezember 2011 in einer Inszenierung von Sascha Wienhausen am emma-theater in Osnabrück gezeigt, der Studiengang Musical der Folkwang Hochschule (heute Folkwang Universität der Künste) hat „Spring Awakening“ von Duncan Sheik und Steven Sater bereits 2013 in Kooperation mit dem Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen (Premiere 15. März 2013) und der Konzertdirektion Landgraf in einer Inszenierung von Wolfgang Türks gezeigt. Das Theater Hagen wird „Spring Awakening“ ab 15. Juni 2019 in einer Inszenierung von Sascha Wienhausen in Kooperation mit dem Studiengang Musical des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück im Großen Haus zeigen. Die Folkwang Universität der Künste zeigt „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ von Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch und Lyrics) in einer Inszenierung von Nicole Claudia Weber vom 13. bis 18. April 2019 in der Neuen Aula am Campus Essen-Werden.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, Folkwang Universität der Künste, Ensemble. © Franziska Götzen

Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ erzählt vom Erwachsen­werden in einer deutschen Provinzstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen drei Schulkinder auf der Suche nach ihrer Sexualität: der aufgeklärte Gymnasiast Melchior Gabor, die vierzehnjährige Wendla Bergmann, die von ihrer konservativen Mutter nie aufgeklärt wurde, und der fünfzehnjährige Moritz Stiefel, der seinem besten Freund Melchior neben seinen schlechten Schulleistungen auch seine erwachende Sexualität anvertraut. Alle drei werden letzten Endes Opfer der elterlichen Moral. Wendla, deren Schwester Ina ein Kind bekommen hat, drängt ihre Mutter um Aufklärung, erfährt aber nur, dass zur Fortpflanzung große Liebe erforderlich sei. Moritz hat Probleme mit seinen erotischen Träumen, weshalb er Melchior bittet, eine schriftliche Ausarbeitung mit Illustrationen über die Fortpflanzung anzufertigen, damit er diese in Ruhe studieren kann. Wendla vollzieht mit Melchior den Beischlaf, ohne sich der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein, und wird schwanger. Wendlas Mutter will die Schande, die aufgrund der Schwangerschaft auf die Familie fallen würde, vermeiden und schleppt ihre Tochter zu einem „Engelmacher“, stellt dies aber als eine Therapie gegen Bleichsucht (Eisen­mangel­anämie) dar. Bei der Abtreibung kommt Wendla zu Tode. Moritz muss in der Schule eine Klasse wiederholen, da nur 60 Schüler in die nächste Klasse versetzt werden können, bringt aber nicht den Mut auf, seine Eltern damit zu konfrontieren, sondern wählt als Ausweg anstelle des Ärgers und der Entrüstung der Eltern den Freitod. Nachdem Melchiors illustrierte Erläuterungen zum Beischlaf bei Moritz gefunden wurden, machen ihn seine Lehrer für den Freitod seines Freundes verantwortlich. Auch seine liberale Mutter kann ihn in dieser Situation nicht mehr schützen und gibt dem Bestreben seines Vaters nach, Melchior in eine Besserungsanstalt zu bringen. Als er schließlich auf dem Friedhof von Wendlas Tod erfährt, will er seinem Leben ebenfalls ein Ende setzen, doch die Seelen von Wendla und Moritz sprechen ihm Mut zu, so dass er von seinem Vorhaben ablässt. Steven Sater kam zu der Überzeugung, dass die Musik und der Song „Those you’ve known“ die Funktion übernommen hatten, Melchior neuen Mut zum Leben zu geben, weshalb er die Gestalt des „Vermummten Herrn“, dem Melchior in Wedekinds Vorlage am Ende auf dem Friedhof begegnet, schließlich gestrichen hat.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, Folkwang Universität der Künste, Alejandro Nicolás Firlei Fernández (Moritz Stiefel), Ensemble. © Franziska Götzen

Frank Wedekind kritisiert in seinem Drama die im Wilhelminischen Kaiserreich vorherrschende bürgerliche Sexualmoral, wobei er häufig grotesk überzogene Charaktere gebraucht, die dem Werk humoristische Züge verleihen. Seit der Entstehung des Dramas hat sich das äußere Umfeld zwar grundlegend gewandelt, doch „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ zeigt, wie authentisch sich Literaturklassiker auf der Musicalbühne umsetzen lassen. Der Musikstil mit einer Mischung aus Rock-, Pop- und Folkrock-Songs ist nicht musicaltypisch, die Songs sind auch nicht handlungstragend, fügen sich aber dennoch als Monologe und Kommentare der Schulkinder aus ihrer aktuellen Sicht hervorragend in die Handlung ein. Um das Heraustreten der Charaktere aus der Handlung im ausgehenden 19. Jahrhundert während der Songs zu unterstreichen, ließ Michael Mayer in seinen Inszenierungen die Darsteller zum Singen Handmikrofone benutzen. Regisseurin Nicole Claudia Weber verzichtet in ihrer Inszenierung gänzlich auf die Verwendung von Handmikrofonen, wodurch die klare Trennung zwischen Handlungsebene und „Song-Welt“ für mein Empfinden teilweise verloren geht. Die Songtexte machen natürlich immer noch deutlich, dass die „Song-Welt“ in der heutigen Zeit spielt. Andere Details aus der Originalinszenierung von Michael Mayer finden sich auch in Essen wieder, beispielsweise die Anwesenheit der in der jeweiligen Szene unbeteiligten Darsteller*innen auf der Bühne. Choreografin Natalie Holtom hat mit den Studierenden für „Spring Awakening“ eine Art modernes Tanztheater einstudiert. Bühnen- und Kostümbildnerin Britta Tönne spielt mit ihren Kostümen – nicht in allen Details – auf den Stil der Entstehungszeit des Dramas an, eine Quarterpipe (halbe Halfpipe) bildet die zentrale Spielfläche. Die Darsteller*innen rutschen die Transition in einigen Szenen auf dem Arsch hinunter, und Wendla und Melchior erleben ihre folgenschwere erste sexuelle Begegnung in der letzten Szene im ersten Akt („Ich vertrau“) auf der Plattform der Quarterpipe. Ein Teil des waagerechten Fahrbahnabschnitts lässt sich vom Rest des Flats abtrennen und auf Rollen verfahren, darauf wird beispielsweise Alejandro Nicolás Firlei Fernández im Song „Ich wart’ nicht mehr lang“ von Nico Hartwig, Lukas Mayer, Frank-Leon Petzold und Michael Berres über die Bühne gefahren.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, Folkwang Universität der Künste, Jessica Trocha (Ilse), Thorsten Ritz (Herr Neumann), Hella-Birgit Mascus (Frau Bessel), Zoe Staubli (Martha Bessel). © Franziska Götzen

Das Ensemble der jungen Darsteller*innen wird von Florian Sigmund als Melchior Gabor, Lara Hofmann als Wendla Bergmann und Alejandro Nicolás Firlei Fernández als Moritz Stiefel angeführt. Wie die Schicksale der drei Figuren sehr eng miteinander verbunden sind, so trägt jeder der drei Darsteller entscheidend zum Gesamtbild der Jugendlichen bei, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Sexualität sind. Florian Sigmund nimmt man die Rolle des intelligenten und fortschrittlich denkenden Gymnasiasten Melchior Gabor problemlos ab, Melchiors Verstörung und Verzweiflung, nachdem er die Kontrolle über sich verloren und auf deren Bitte wild auf Wendla eingeschlagen hat, sind ebenfalls nachvollziehbar. Glaubhaft und gesanglich überzeugend verkörpert Lara Hofmann die nicht aufgeklärte Wendla Bergmann, die nicht weiß, wie sie plötzlich schwanger geworden ist. Alejandro Nicolás Firlei Fernández ist als Melchiors bester Freund Moritz Stiefel von Zweifeln und Sehnsüchten geplagt und nimmt sich nach der gescheiterten Versetzung in die nächste Klasse und nachdem Melchiors Mutter seine verzweifelte Bitte um Hilfe ignoriert verstört das Leben. Auch die übrigen Studierenden überzeugen in ihren Rollenportraits, doch die Rollen lassen den Darstellern weniger Spielraum, sich nachhaltig ins Gedächtnis der Zuschauer zu spielen. Dies gelingt beispielsweise Nico Hartwig als Hänschen, der in dem stark von Melancholie geprägten Stück in der Masturbationsszene für Komik sorgt und auch Frank-Leon Petzold als Ernst problemlos zum einem homosexuellen Abenteuer verführen kann. Auch Jessica Trocha soll nicht unerwähnt bleiben, die als Bohémienne Ilse in der Künstlerwelt zu einem mutigen Mädchen herangewachsen ist und Moritz überreden möchte, mitzukommen. Sie hat mit ihrem solistisch dargebotenen Song „Das Lied des Windes“ ihren berührendsten Auftritt. Alle Erwachsenen sind in „Spring Awakening“ als reine Sprechrollen ausgelegt, die von Hella-Birgit Mascus und Thorsten Ritz überzeugend und klar voneinander abgegrenzt dargestellt werden. Hella-Birgit Mascus unterstreicht in den unterschiedlichen Frauenrollen die Unterwürfigkeit des weiblichen Rollenverständnisses in der damaligen Zeit. Thorsten Ritz macht beispielsweise als Lehrer Sonnenstich und Schuldirektor Knochenbruch eine gute Figur.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, Folkwang Universität der Künste, Frank-Leon Petzold (Ernst Röbel) und Nico Hartwig (Hänschen Rilow). © Franziska Götzen

Dem gesamten Ensemble ist die Spielfreude anzumerken, nicht nur bei dem emotional heftigsten Song „Völlig im Arsch“, der dem Broadway-Castalbum neben zwei weiteren Songs den Vermerk „Parental Advisory – Explicit Content“ eingebracht hat. Die sechsköpfige Band in der „Tourversion“ ist im hinteren Bereich der Bühne teilweise von der Quarterpipe verdeckt untergebracht und bringt unter der erfahrenen Musikalischen Leitung von Patricia M. Martin Duncan Sheiks Partitur mit Rock-, Pop- und Folkrock-Songs zwar versiert über die Rampe, aber das dürfte in den Rock-Songs für mein Empfinden bedeutend mehr rocken. Insgesamt trotz kleiner Schwächen eine gelungene und sehenswerte Produktion des ungewöhnlichen Musicals.

Kommentare