60 Jahre Musiktheater im Revier

Jubiläums-Führung mit Generalintendant Michael Schulz

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen am Kennedyplatz

Nachdem bereits am Vormittag des 15. Dezember 1959 die feierliche Übergabe des neuen Stadttheaters in Gelsenkirchen am Kennedyplatz von Architekt Werner Ruhnau (* 11. April 1922 in Königsberg, † 6. März 2015 in Essen) an General­intendant Hans Hinrich (* 27. November 1903 in Berlin, † 30. Oktober 1974 in Berlin) stattgefunden hatte, wurde am Abend im Großen Haus William Shakespeares „Ein Sommer­nachts­traum“ mit Jürgen von Manger-Koenig (* 6. März 1923 in Ehrenbreitstein, † 15. März 1994 in Herne) als Schnauz, der Kesselflicker u. v. a. in einer Inszenierung von Hans Hinrich gezeigt. Zur Feier des 60. Geburtstages wurden am 15. Dezember 2019 zwei Jubiläums-Führungen mit Generalintendant Michael Schulz angeboten, zu denen sich insgesamt etwa 50 Besucher*innen eingefunden haben. Obwohl Michael Schulz zu Beginn der Führung betonte, dass dies keine „Führung zur Baukunst“ sei, wie sie zu Lebzeiten von Werner Ruhnau angeboten wurden, blieb es natürlich nicht aus, dass er zunächst die Kunstwerke der renommierten Künstler Robert Adams (* 5. Oktober 1917 in Northampton, Großbritannien, † 5. April 1984 in Great Maplestead, Essex), Paul Dierkes (* 4. August 1907 in Cloppenburg, † 25. März 1968 in Berlin), Yves Klein (* 28. April 1928 in Nizza, † 6. Juni 1962 in Paris), Norbert Kricke (* 30. November 1922 in Düsseldorf, † 28. Juni 1984 in Düsseldorf) und Jean Tinguely (* 22. Mai 1925 in Freiburg im Üechtland, † 30. August 1991 in Bern) erläuterte, die von Anfang an bei Planung und Ausführung des vom Bauhaus beeinflussten Theaterbaus mitwirkten.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Großes Haus

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Betonrelief von Robert Addams an der Außenwand der Kassenhalle

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Kleines Haus, „Großes Relief in zwei Ebenen“ von Norbert Kricke

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Garderobenhalle im Großen Haus mit Schwammrelief von Yves Klein und Werner Ruhnau

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Rotunde im Großen Haus

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Rotunde im Großen Haus am Abend

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Putzrelief von Paul Dierkes an der Rundwand des Foyers im Großen Haus

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Westfoyer im Großen Haus mit dem Wand- und Schwammrelief von Yves Klein und Werner Ruhnau

Gemeinsam mit Werner Ruhnau entwickelte Yves Klein die „Blauen Überspannungen“ und Schwammreliefs in den beiden Garderoben (10 × 3 m) und Foyers, die eine Größe von 20 × 7 m an den Seitenwänden und 10 × 5 m an den Stirnwänden haben und zu seinen größten und bedeutendsten Arbeiten zählen. Yves Klein ist für seine monochromen Bildkompositionen bekannt, die monumentalen Wandarbeiten im Musiktheater im Revier wurden aber in von Werner Ruhnau, Ernst Oberhoff von der Wuppertaler Werkkunstschule und Yves Klein gemeinsam entwickelten „Gelsenkirchener Blau“ ausgeführt. Am Rande sei bemerkt, dass es sich bei „Gelsenkirchener Blau“ nicht um das 1960 patentierte „International Klein Blue“ (IKB) handelt. Yves Klein hatte IKB gemeinsam mit Edouard Adam entwickelt und nutzte das von dem französischen Pharma- und Chemiekonzern Rhône-Poulenc aus Ethylalkohol, Ethylacetat und Körnern aus Polyvinylacetat hergestellte „Rhodopas M60A“ – wird heute noch von Adam Montmartre unter dem Namen „Medium Adam 25“ vertrieben – als Binder für das Ultramarinblau, wohingegen in „Gelsenkirchener Blau“ Kunstharzdispersions-Binder und synthetisches Ultramarinblau von der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik eingesetzt wurde. Die Erben von Yves Klein, Rotraud Klein-Moquay, geb. Uecker (* 1938 in Rerik, Mecklenburg), die er im Sommer 1957 in Nizza kennenlernte und am 21. Januar 1962 in der Kirche Saint-Nicolas-des-Champs in Paris heiratete, und der gemeinsame Sohn Yves Armand Marie (* 1962 in Nizza) haben Werner Ruhnau wegen der Urheberschaft an den monochromen Wandreliefs verklagt, aber sieben Prozesse verloren. Yves Klein hat nicht nur in Gelsenkirchen ohne Atemschutzmaske gearbeitet, obwohl die in Bindern und Nitrozelluloselacken enthaltenen Kohlen­wasser­stoffe und Ester Dermatitis und Leukämie verursachen können, was ihm aber offensichtlich nicht bekannt gewesen ist. Er starb 1962 im Alter von nur 34 Jahren zwar an einem Herzinfarkt, aber seine inneren Organe waren zersetzt.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Wandrelief von Yves Klein und Werner Ruhnau im Ostfoyer

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Sessel von Werner Ruhnau (Trompetenfuß), Jean Tinguely (Beweglichkeit) und Franz Krause (Design)

Die „Freischwinger“ im Theatercafé waren bei der Eröffnung des Hauses noch nicht vorhanden, sondern wurden erst später beschafft und passen natürlich stilistisch sehr gut in das vom Bauhaus beeinflusste Theatergebäude. Der Architekt Mart Stam hatte 1926 einen ersten Stuhl ohne Hinterbeine entwickelt, Marcel Breuer realisierte während seiner Zeit am Bauhaus zahlreiche Varianten aus Stahlrohr.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, „Freischwinger“ im Theatercafé

Nach dem Besuch der Probenbühne 1, Schlosserei und Schreinerei wurden die Besucher*innen im Malsaal von Gloria Iberl-Thieme und Daniel Jeroma mit der Puppe Perô aus der Produktion „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ überrascht, womit auf die in der Spielzeit 2019/2020 am Musiktheater im Revier etablierte Sparte Puppenspiel aufmerksam gemacht wurde. Colombina hätte es sicherlich gut gefallen, wenn die mit einem Schokoladenweihnachtsmann bedachte erwachsene Person einem der Kinder den Vortritt gelassen hätte, aber Colombina hat’s ja nicht gesehen… Durch die Förderung im Rahmen von NEUE WEGE durch das NRW KULTURsekretariat und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW sind ab der laufenden Spielzeit vier Studierende des Studiengangs Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Berlin (Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianca Drozdik, Eileen von Hoyningen Huene und Anastasia Starodubova) und Gloria Iberl-Thieme als fest am Musiktheater im Revier engagierte Puppenspielerin zu erleben. Nebenbei war zu erfahren, dass in der Spielzeit 2020/2021 ein Puppen-Musical aufgeführt werden soll. Sofern es sich nicht um ein Kinderstück handelt, kommt da eigentlich nur eines infrage, das allerdings nicht mit fünf Puppenspielerinnen komplett zu besetzen ist, aber drei zusätzliche Darsteller*innen für die menschlichen Rollen werden sich bestimmt finden lassen… Mutmaßlich werden dafür von der Abteilung Zeit­ge­nös­si­sches Puppenspiel der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin neue Puppen gebaut, da darf man dann auf die Unterschiede zu den Original-Puppen gespannt sein, die ja nicht grundlos leihweise zur Verfügung gestellt werden.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Gloria Iberl-Thieme und Daniel Jeroma mit der Puppe Perô aus der Produktion „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ im Malsaal

Im Folgenden setzte Michael Schulz seine Führung durch den Kostümfundus, die Da­men­schnei­de­rei und die Maskenwerkstatt/Perückenmacherei/Putzmacherei fort, bevor er schließlich die von Jean Tinguely für die Stirnwände des Foyers im Kleinen Haus entwickelten beweglichen „Mechanischen Reliefs“ erläuterte. Jean Tinguely ist als einer der Hauptvertreter der kinetischen Kunst vor allem durch seine beweglichen, maschinenähnlichen Skulpturen (teilweise in Kollaboration mit seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle) bekannt. Im Ruhrgebiet kennt man den „Lifesaver“ (1991 bis 1993), wie „La Fontaine Stravinsky“ (1982/83) auf dem Place Igor-Stravinsky am Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou in Paris eine gemeinsame Arbeit von Niki de Saint Phalle (* 29. Oktober 1930 in Neuilly-sur-Seine, † 21. Mai 2002 in San Diego), die die Figuren schuf, und Jean Tinguely, der für die Brunnenfigur die rotierende Unterkonstruktion entwarf.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Kostümfundus

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Damenschneiderei, Kostüm aus „Hello Dolly“

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Foyer im Kleinen Haus, bewegliches „Mechanisches Relief“ von Jean Tinguely

„Lifesaver“ (1991 – 1993) von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely, Duisburg, Königsstraße

„La Fontaine Stravinsky“ (1982/83) auf dem Place Igor-Stravinsky am Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou in Paris

Abschließend ging es auf die Bühne im Großen Haus, wo bereits die Vorbereitungen für die heutige Vorstellung der Oper „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček in der Inszenierung von Dietrich W. Hilsdorf getroffen wurden und der Blick in den Zuschauerraum daher versperrt war, sowie in das Magazin, wo den Besucher*innen schließlich noch Das Monster aus der Oper „Frankenstein“ von Jan Dvořák begegnete.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, 4 kW-Tageslicht-Scheinwerfer auf der Bühne im Großen Haus

Nach deutlich mehr als einer Stunde endete die kurzweilige und informative Führung schließlich im Foyer im Großen Haus, wo Anita Ruhnau, die Witwe des 2015 verstorbenen Architekten Werner Ruhnau, bei speziellen Fragen zur Architektur und Baukunst Rede und Antwort stand. Anita und Werner Ruhnau hatten gemeinsam mit den beteiligten Künstlern die alte Feuerwache am heutigen Standort des Bildungszentrums Gelsenkirchen an der Ebertstraße als „Bauhütte“ genutzt, wodurch die bildenden Künstler in die Planungen und ihre Arbeiten in das Gebäude integriert werden konnten und nicht nur „bloße Dekoration“ darstellen. Einige der seinerzeit ersonnenen Projekte wie die Gestaltung des Theatervorplatzes mit Feuerwänden und Wasserbecken wurden gar nicht realisiert, und das Wissen darum dürfte über kurz oder lang auch verloren gehen.

Neben dem erwähnten Puppen-Musical steht für die Spielzeit 2020/2021 „Fidelio schweigt“ von Komponistin Charlotte Seither und Librettist und Regisseur Hermann Schneider vom 17. Dezember 2020 bis 21. Februar 2021 bereits fest, wie der Website der Beethoven Jubiläums GmbH zu entnehmen ist. Gerüchteweise soll 2020/2021 auch „Turandot“ gezeigt werden, und als zweites Musical ein Stück über zwei mutmaßliche Mörderinnen, die durch ihre gewiefte Verteidigung freigesprochen werden. Auch hier darf man auf die Inszenierung und Choreografie gespannt sein, immerhin wird das Broadway Revival bereits seit 1996 als am zweitlängsten laufende Broadway Show nach „The Phantom of the Opera“ von Andrew Lloyd Webber, Charles Hart und Richard Stilgoe gezeigt.

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