„Doktor Schiwago“


„Doktor Schiwago“ – nach dem gleichnamigen Roman von Boris Leonidowitsch Pasternak (1957); Musik: Lucy Simon; Liedtexte: Michael Korie und Amy Powers; Buch: Michael Weller; Deutsche Fassung: Sabine Ruflair (Gesangstexte) und Jürgen Hartmann (Buch); Regie: Ulrich Wiggers; Choreografie: Zoltán Fekete; Bühne: Ulrich Wiggers (Konzeption), Jens Janke (Realisierung); Kostüme: Karin Alberti; Musikalische Leitung: Tjaard Kirsch. Darsteller: Jan Ammann (Dr. Jurij Andréitsch Schiwago, Arzt und Dichter), Milica Jovanović (Larissa Fjodorowna Guichard, genannt Lara), Bernhard Bettermann (Viktor Ippolitowitsch Komarovskij, Rechtsanwalt), Wietske van Tongeren (Antonina Alexándrowna Gromeko, genannt Tonia), Kevin Tarte (Alexander Alexandritsch Gromeko, Tonias Vater/Gints, Kommandant), Bettina Meske (Anna Iwanowna Gromeko, Tonias Mutter), Dominik Hees/Fabio Diso (Pawel Pawlowitsch Antipov, genannt Pascha/Strelnikow), Nicolai Schwab (Janko, ein 15-jähriger Soldat), Florian Soyka (Liberius Averkievich Mikulitsyn, genannt Livka, Soldat, später Partisan), N. N. (Jurij als Kind/Sascha, Tonias und Jurijs Sohn), N. N. (Tonia als Kind/Katharina, Laras und Jurij Schiwagos Tochter), N. N. (Lara als Schülerin), Jenny Wienecke (Olga, Krankenschwester, Solistin „Lara’s theme“), Florian Albers, Jan Altenbockum, Dominique Aref, Sophie Blümel, Zoltán Fekete, David Hammann, Andrew Hill, Alexandra Hoffmann, Eva Kewer, Jennifer Kohl, Esther-Larissa Lach, Mathias Meffert, Jörg Neubauer, Tamara Peters, Celena Pieper, Wolfgang Postlbauer, Julian Schier, Bosse Vogt. Uraufführung: 10. Mai 2006, La Jolla Playhouse, San Diego, Kalifornien. Broadway Premiere: 21. April 2015, Broadway Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 27. Januar 2018, Musikalische Komödie Leipzig. Premiere: 26. Juli 2019, FreilichtSpiele Tecklenburg.



„Doktor Schiwago“


Boris Pasternaks Roman als Musical bei den FreilichtSpielen Tecklenburg


„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Dominik Hees (Pavel Antipov, genannt Pascha) und Milica Jovanović (Larissa Guichard, genannt Lara). Foto Stefan Drewianka

1956 stellte der russische Dichter und Schriftsteller Boris Leonidowitsch Pasternak (* 10. Februar 1890 in Moskau, † 30. Mai 1960 in Peredelkino bei Moskau) seinen Roman „Doktor Schiwago“ fertig, der im November 1957 erstmals in italienischer Übersetzung beim Mailänder Verlag Giangiacomo Feltrinelli Editore erschien. Am 23. Oktober 1958 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt, den er jedoch aus politischen Gründen nicht annehmen konnte. Erst 1989 nahm sein Sohn Jewgeni den Preis in Stockholm stellvertretend für seinen Vater entgegen. In der Sowjetunion erschien „Doktor Schiwago“ offiziell erst 1988 nach Beginn der Perestroika. 1965 wurde der Roman in der Regie von David Lean mit Omar Sharif (Dr. Jurij Schiwago), Julie Christie (Larissa „Lara“ Antipowa) und Geraldine Chaplin (Tonya Gromeko) in den Hauptrollen verfilmt, der Film wurde mit fünf Academy Awards ausgezeichnet. Lucy Simon (Musik), Michael Korie, Amy Powers (Liedtexte) und Michael Weller (Buch) adaptierten den Stoff für die Musicalbühne, das Musical wurde unter dem Titel „Zhivago“ erstmals vom 10. Mai bis 9. Juli 2006 im La Jolla Playhouse in San Diego, Kalifornien mit Ivan Hernandez in der Titelrolle in einer Inszenierung von Des McAnuff aufgeführt. Die Broadway Produktion (Premiere 21. April 2015) mit Tam Mutu (Yurii Zhivago) in einer Inszenierung von Des McAnuff wurde nicht einmal für einen Tony Award nominiert und wurde am 10. Mai 2015 nach 26 Previews and 23 regulären Vorstellungen geschlossen. Die deutsche Erstaufführung wurde am 27. Januar 2018 an der Musikalische Komödie Leipzig mit Jan Ammann (Jurij Schiwago) in einer Inszenierung von Cush Jung gezeigt.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Ensemble. Foto Stefan Drewianka

Boris Pasternaks Roman und dementsprechend auch das Musical „Doktor Schiwago“ thematisieren die Lebensgeschichte des russischen Arztes und Dichters Jurij Andréitsch Schiwago im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im raschen Wandel: Am 1. August 1914 wurde Russland durch die deutsche Kriegserklärung in den Ersten Weltkrieg hineingezogen, die Februarrevolution 1917 beendete die Zarenherrschaft in Russland, bei der Oktoberrevolution 1917 übernahmen die kommunistischen Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin (*22. April 1870 in Simbirsk, † 21. Januar 1924 in Gorki bei Moskau) gewaltsam die Macht, und nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg wurde am 30. Dezember 1922 schließlich die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wächst der junge Jurij Schiwago nach dem Tod seines Vaters gemeinsam mit der nahezu gleichaltrigen Cousine Antonina „Tonia“ Gromeko bei den Gromekos auf. Der verschlagene Rechtsanwalt Viktor Ippolitowitsch Komarovskij macht Teenager Larissa „Lara“ Guichard zu seiner Geliebten; da er sie aber wie sein Eigentum behandelt, beschließt sie, ihn zu töten. Lara lässt sich auf den Revolutionär Pavel „Pascha“ Antipov ein, der in sie verliebt ist und sie bittet, seine Waffe zu verstecken. Im August 1914 versucht Lara bei der Hochzeit von Jurij Schiwago und Tonia Gromeko, Viktor Komarovskij zu erschießen, verfehlt aber ihr Ziel. Als sie Pascha ein paar Wochen später in ihrer gemeinsamen Hochzeitsnacht von ihren Beweggründen erzählt, eilt dieser wütend davon. Lara läuft ihm hinterher und begegnet erneut Jurij Schiwago. Als Jurij und Lara 1915 als Arzt und Krankenschwester zusammen in einem Lazarett an der ukrainischen Kriegsfront arbeiten, kommen sich die beiden näher. Im Januar 1918 kehrt Jurij nach Moskau zurück und findet das Haus seiner Familie beschlagnahmt vor.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Ensemble. Foto Stefan Drewianka

Jurij Schiwago entscheidet sich, mit seiner Familie in den Ural zu fliehen, wo sein Schwiegervater in der Nähe von Jurjatino ein Anwesen besitzt. 1919 trifft er bei der Ankunft auf dem Bahnhof in Jurjatino auf Pascha, der unter dem Decknamen „Strelnikow“ für die Bolschewiki militärische Aufgaben übernommen hat. In der Bibliothek von Jurjatino trifft Jurij schließlich wieder auf Lara, die dort arbeitet. Er wird von Partisanen, die einen Arzt brauchen, verschleppt und kann sich nicht einmal von seiner Familie verabschieden. Als ihm nach zwei Jahren endlich die Flucht gelingt und er nach Jurjatino zurückkehrt, erfährt er von Lara, dass seine Ehefrau Tonia mit dem gemeinsamen Sohn nach Paris geflüchtet ist und sie von seiner Beziehung zu Lara weiß. Lara ist für Jurij da und wird von ihm schwanger. Doch auch diese Liebe endet unglücklich, denn als Viktor Komarovskij auftaucht und sie bittet, mit ihm aus Russland zu fliehen, willigt Lara schließlich ein, nachdem Jurij sie angelogen und versprochen hat, sich ihnen später anzuschließen. Am nächsten Morgen taucht Strelnikow auf, um nach Lara zu suchen. In der Gewissheit, sie für immer verloren zu haben, erschießt er sich.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Jan Ammann (Jurij Andréitsch Schiwago) und Wietske van Tongeren (Antonina Gromeko, genannt Tonia). Foto Stefan Drewianka

Man liest häufig Vergleiche von „Doktor Schiwago“ mit „Les Misérables“ von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Libretto), das 2006 und 2018 bei den FreilichtSpielen Tecklenburg gezeigt wurde. Es brauche in seiner Art den Vergleich nicht zu scheuen, aber die Musik von Lucy Simon („The Secret Garden“) sei „nicht so einzigartig und herausragend wie die von Michel Schönberg“ und das Buch von Michael Weller habe „nicht ganz die Klasse eines Alain Boublil“. Das mag jeder für sich selbst entscheiden. Doch was ist dann das Besondere an „Doktor Schiwago“, dass die Besucher den FreilichtSpielen Tecklenburg quasi die Bude einrennen, man kurzfristig keine Tickets mehr für gute Plätze bekommt und sich lediglich zwischen freien Plätzen ganz hinten oder ganz außen entscheiden kann? Ist es die Verfilmung von David Lean, die Oscar-prämierte Filmmusik von Maurice Jarre mit dem romantischen „Somewhere, my love“, besser bekannt als „Lara’s theme“, die Sehnsucht nach der großen Liebe oder die Riege der renommierten Hauptdarsteller mit Jan Ammann (Wotan in „Der Ring – Das Musical“, Ludwigs Festspielhaus Füssen; Ludwig II. in „Ludwig²“, Ludwigs Festspielhaus Füssen; Graf von Krolock in „Tanz der Vampire“, diverse Spielorte), Milica Jovanović (Lisa Carew in „Jekyll & Hyde“, Theater Dortmund; Eleonore Schikaneder in „Schikaneder – Die turbulente Liebesgeschichte hinter der Zauberflöte“, Raimund Theater, Wien), Bernhard Bettermann (Dr. Martin Stein in der Fernsehserie „In aller Freundschaft“), Dominik Hees (Rum Tum Tugger in „Cats“, Ronacher, Wien; Charlie Price in „Kinky Boots“, Operettenhaus Hamburg), Wietske van Tongeren (Betty Schaefer in „Sunset Boulevard, diverse Spielorte; Adrian in „Rocky“, Oprettenhaus Hamburg und Palladium Theater, Stuttgart), Kevin Tarte (Schattenmann in „Ludwig²“, Ludwigs Festspielhaus Füssen; Graf von Krolock in „Tanz der Vampire“, diverse Spielorte) und Bettina Meske (Joanne in „Company“, Theater für Niedersachsen, Hildesheim; Börsenspekulantin Woolf in „Der Tunnel“, Theater Fürth)? Womöglich von allem ein bisschen.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Wietske van Tongeren (Antonina Gromeko, genannt Tonia) und Milica Jovanović (Larissa Guichard, genannt Lara). Foto Stefan Drewianka

Folkwang-Alumnus Ulrich Wiggers, der bei den FreilichtSpielen Tecklenburg seit 2015 jedes Jahr als Regisseur engagiert ist und im vergangenen Jahr für die Neuinszenierung von „Les Misérables“ verantwortlich zeichnete, hat „Doktor Schiwago“ auf der weiträumigen Bühne eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Handlung ist vorlagengemäß von den Beerdigungen von Jurijs Vater 1903 und Laras Vater sechs Monate später auf einem Moskauer Friedhof und am Ende Jurijs Begräbnis im Winter 1930 in Moskau eingerahmt, bei der Lara und Katharina, ihre gemeinsame Tochter mit Jurij Schiwago, an seinem Grab stehen. Es ist durchaus zu empfehlen, sich vorab zu informieren, denn ohne jegliches Vorwissen dürfte die verschlungene Handlung doch etwas verworren erscheinen, zumal sich das Buch von Michael Weller auf eine stark reduzierte Version von Boris Pasternaks umfänglichem Roman beschränkt und durchaus wichtige Details teilweise in aller Kürze abhandelt. Man erfährt beispielsweise auch, dass Jelenka, eine junge Frau in Jurjatino, Jurij Schiwago sowohl bei seiner Frau Tonia als auch – gegen Bezahlung – bei den Partisanen „verpfiffen“ hat. Wer sich lieber überraschen lässt, steht dann womöglich da wie der sprichwörtliche Ochs vor dem Berg. Ulrich Wiggers hat auch das Bühnenbild mit den vier leicht ansteigend aufeinander zulaufenden Stegen im Burghof konzipiert, die am Ende zu Grabsteinen umgenutzt werden. Musicaldarsteller Jens Janke zeichnet für die Realisierung verantwortlich, ein gutes Dutzend „schneebedeckter“ Bäume versetzt die Zuschauer in Verbindung mit dem passenden Licht in den russischen Winter. Die links vom Brunnen verortete Kirche aus „Don Camillo & Peppone“ ist in „Doktor Schiwago“ dem Feldlazarett an der ukrainischen Kriegsfront gewichen. Karin Alberti – seit 1996 Kostümbildnerin an der Freilichtbühne Tecklenburg – zeichnet für die zeitgemäßen Kostüme verantwortlich. Das Orchester bringt Lucy Simons lyrische Partitur unter der Musikalischen Leitung von Tjaard Kirsch fulminant zu Gehör, und auch „Lara’s theme“ von Maurice Jarre erklingt in Tecklenburg auf Russisch (Любовь Моя, Есть песни ещë у нас) und Deutsch („Einst kommt der Tag“).

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Milica Jovanović (Larissa Guichard, genannt Lara) und Jan Ammann (Jurij Andréitsch Schiwago). Foto Stefan Drewianka

Jan Ammann scheint seine Rolle als Arzt und Dichter Dr. Jurij Andréitsch Schiwago seit der deutschen Erstaufführung an der Musikalischen Komödie in Leipzig beinahe verinnerlicht zu haben, so glaubhaft verleiht er dem selbstlosen Arzt Gestalt, der zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist und aus Loyalität zu seiner Ehefrau mit seiner Geliebten bricht, um schließlich doch wieder in ihren Armen zu landen. In Milica Jovanović als Larissa „Lara“ Guichard findet er seine ideale Bühnenpartnerin, die lange mit ihren Selbstzweifeln in ihrer Liebe zu Jurij Schiwago kämpft, um ihr letzten Endes ebenfalls zu erliegen. Zurückhaltend und mit Verständnis reagiert Wietske van Tongeren als Jurij Schiwagos Ehefrau Antonina „Tonia“ Gromeko, das Duett „Trotzdem wundert es mich nicht“ der beiden glänzend miteinander harmonierenden Darstellerinnen, als sie in der Bibliothek von Jurjatino aufeinandertreffen, stellt einen der Höhepunkte des Abends dar. Zwei weitere Hauptfiguren in dem komplexen Beziehungsgeflecht stellen Bernhard Bettermann und Dominik Hees dar. Bernhard Bettermann ist als opportunistischer Rechtsanwalt Viktor Komarovskij stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht, auch wenn er vorgibt, anderen helfen zu wollen, bei seinen Gesangssoli „Komarovskijs Trinkspruch“ und „Komarovskijs Klage“ kann er allerdings nicht mit den Musicaldarsteller*innen mithalten. Dominik Hees porträtiert den Revolutionär Pavel „Pascha“ Antipov, der zum terrorisierenden Bolschewisten „Strelnikow“ mutiert und sich am Ende, nachdem er Jurij Schiwago seine Beweggründe erläutert hat, aus Verzweiflung selbst richtet. Als Jurij Schiwagos Zieheltern Anna Iwanowna Gromeko und Alexander Alexandritsch Gromeko sind Bettina Meske und Kevin Tarte zu sehen, der auch als Kommandant Gints die Einheit befehligt, in der Pavel „Pascha“ Antipov zunächst dient. In kleineren Rollen stehen weiterhin Nicolai Schwab als 15-jähriger Soldat Janko und Florian Soyka als Liberius auf der Bühne, der sich als Soldat später den Partisanen unter „Strelnikow“ anschließt.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Jan Ammann (Jurij Andréitsch Schiwago) und Bernhard Bettermann (Viktor Komarovskij). Foto Stefan Drewianka

Generell ist zur Ausstattung der Freilichtbühne Tecklenburg anzumerken, dass die Holzbänke im Zuschauerraum extrem unbequem und anatomisch nicht angepasst sind, daran hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Um das 190-minütige Epos einigermaßen unbeschadet zu überstehen, sollte man sich auf jeden Fall entsprechende Sitzpolster mitbringen, da helfen nämlich auch die von den FreilichtSpielen Tecklenburg zur Verfügung gestellten Papiertaschentücher nicht weiter.

„Doktor Schiwago“, FreilichtSpiele Tecklenburg, Dominik Hees („Strelnikow“) und Jan Ammann (Jurij Andréitsch Schiwago). Foto Stefan Drewianka

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