„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ am MiR


„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ – nach der alten Volkssage „Der Freischütz“ von Johann August Apel; Musik und Texte: Tom Waits; Buch: William S. Burroughs; Deutsche Bearbeitung: Wolfgang Wiens; Original­in­sze­nie­rung: Robert Wilson; Inszenierung: Astrid Griesbach; Bühne: Lisette Schürer; Kostüme und Puppenbau: Atif Mohammed Nor Hussein; Dramaturgie: Olaf Roth; Musikalischer Leiter: Heribert Feckler. Darsteller: Joachim Gabriel Maaß (Erbförster Kuno), Merten Schroedter (Förster Bertram), Gloria Iberl-Thieme (Anne, seine Frau), Annika Firley (Käthchen, deren Tochter), Sebastian Schiller (Schreiber Wilhelm), Daniel Jeroma (Pegleg/Jägerbur­sche Robert), Gloria Iberl-Thieme, Marharyta Pshenitsyna *, Seth Tietze *, Daniel Jeroma, Merten Schroedter (The Devil Team). * Studierende im Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst der HfS „Ernst Busch“, Berlin. Uraufführung: 31. März 1990, Thalia-Theater, Hamburg. Premiere: 19. September 2020, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“


Das gleichermaßen schräge wie romantische Musical mit dem MiR Puppentheater


„The Black Rider“ ist eine moderne Musiktheater-Version von „Der Freischütz. Eine Volkssage“, der ersten Geschichte einer Sammlung von Geister- und Spukgeschichten, die Johann August Apel (* 17. September 1771 in Leipzig, † 9. August 1816 in Leipzig) 1811 im ersten Band des Gespensterbuches zusammen mit Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun) herausgegeben hat, Friedrich Kind hat auf dessen Grundlage in enger Zusammenarbeit mit Carl Maria von Weber das Opernlibretto zu „Der Freischütz“ geschrieben. Neben der Freischütz-Volkssage von 1810 geht „The Black Rider“ auch auf die von Otto von Graben zum Stein 1730 in „Monathliche Unterredungen von dem Reiche der Geister zwischen Andrenio und Pneumatophilo“ niedergeschriebene Sage „Der Freikugelguß des Schreibers“ zurück, angeblich eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1710, basierend auf den Gerichtsakten der böhmischen Stadt Domažlice. Hamburg hatte sich als erste „Musical-Stadt“ in Deutschland etabliert, und Thalia-Intendant Jürgen Flimm war an einem anspruchsvollen Gegenentwurf zu den beiden Lloyd-Webber-Produktionen „Cats“ (Premiere in Hamburg: 18. April 1986) und „Phantom der Oper“ (Premiere in Hamburg: 29. Juni 1990) gelegen. Er verpflichtete für die Neugestaltung der Freischütz-Sage den amerikanischen Regisseur Robert Wilson, der sich den Songschreiber Tom Waits und den Schriftsteller William S. Burroughs (Buch) ins Boot holte. Robert Wilson und Tom Waits hatten ihre eigenen Drogen-Erfahrungen gesammelt und wollten die Geschichte der Freikugeln als „Analogie zu den Verheißungen der Heroinschüsse“ verstanden wissen. William S. Burroughs war auf geradezu makabre Weise für das Thema prädestiniert, er hatte am 6. September 1951 unter Alkoholeinfluss aus Versehen bei einem mutwilligen Wilhelm-Tell-Spielchen seine eigene Frau erschossen. Dramaturg Wolfgang Wiens übersetzte die fragmentarischen Texte nur teilweise ins Deutsche und trug damit entscheidend zum witzig-schrägen Libretto bei. Nach seiner spektakulären Uraufführung am Thalia-Theater in Hamburg (Premiere: 31. März 1990) ist das gleichermaßen schräge wie romantische Musical „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ mit überwältigendem Erfolg um die Welt gegangen – am 19. September 2020 feierte es am Musiktheater im Revier mit dem MiR Puppentheater Premiere.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Musiktheater im Revier, MiR Puppentheater: v. l. n. r. Merten Schroedter, Gloria Iberl-Thieme, Seth Tietze, Marharyta Pshenitsyna und Daniel Jeroma. Foto Björn Hickmann

Die Geschichte kennt man: Der Schreiber Wilhelm hat sich in die Försterstochter Käthchen verliebt, und auch sie erwidert seine Gefühle. Doch der standesbewusste Förster Bertram besteht auf einem Jäger als Schwiegersohn, für ihn wäre der junge Jägersbursche Robert genau der richtige Kandidat: „Es muss ein Jäger sein, so will´s der Brauch!“ Doch Käthchen liebt nun einmal den Schreiber Wilhelm, so stellt der Vater schließlich eine Bedingung: Mit einem „Probeschuss“ soll Wilhelm seine Zielsicherheit unter Beweis stellen, um sich als Schwiegersohn zu qualifizieren. Doch dafür muss Wilhelm erst einmal schießen lernen. Dabei erweist er sich als ziemlich untalentiert, und nimmt nur zu gern die Hilfe des undurchsichtigen Pegleg (ein Slangausdruck für den Teufel) an, der ihm eine Handvoll „Freikugeln“ zur Verfügung stellt, mit denen man alles treffen kann, was der Schütze treffen will. Damit ist auch der untalentierte Schreiber ein treffsicherer Schütze, der leichte Erfolg macht ihn regelrecht süchtig, und so sind die Freikugeln bald aufgebraucht. Daher muss sich Wilhelm in der Wolfsschlucht neue Kugeln gießen, doch diesmal verlangt Pegleg seinen Preis: „Seven bullets. Six are yours and hit the mark. One is mine and hit the dark.“

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Musiktheater im Revier, Daniel Jeroma (Pegleg) und Sebastian Schiller (Schreiber Wilhelm). Foto Björn Hickmann

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ war bereits 1997 in einer Inszenierung von Werner Eggenhofer am Schillertheater NRW im Musiktheater Gelsenkirchen (Premiere 22. März 1997) zu sehen, aber nach mehr als 23 Jahren ist nun doch alles anders: Regisseurin Astrid Griesbach, Professorin für Puppenspielkunst im Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS „Ernst Busch“, Berlin hat „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ am Musiktheater im Revier mit dem MiR Puppentheater (Gloria Iberl-Thieme, Marharyta Pshenitsyna, Seth Tietze, Daniel Jeroma, Merten Schroedter), Joachim Gabriel Maaß (Erbförster Kuno), Sebastian Schiller (Schreiber Wilhelm) und Musicaldarstellerin Annika Firley (Käthchen) a. G. auf die Bühne gebracht und macht die Puppenspieler*innen zu den heimlichen Drahtziehern des diabolischen Geschehens. Bühnenbildnerin Lisette Schürer zeichnet in Gelsenkirchen mit Anleihen beim Rummelplatz (Geisterbahn, Schießbude, Wellenflieger) für das Bühnenbild verantwortlich. Szenograf Atif Mohammed Nor Hussein, der selbst an der HfS „Ernst Busch“ Puppenspielkunst studiert hat und in Gelsenkirchen die Kostüme und Puppen verantwortet, hat den Teufel als eine von ein bis fünf Puppenspielern geführte Ganzkörperpuppe mit roten Augen und Hörnern realisiert, Förster Bertram und seine Frau Anne sowie der Jägerbur­sche Robert sind als Kaukautzkys gestaltet, Spielfiguren mit grotesken Proportionen, bei denen die Puppenspieler ihre eigene Mimik einsetzen, Erbförster Kuno tritt als Chronos, in der griechischen Mythologie die Personifikation der Zeit, in Erscheinung. Die fünf Puppenspieler*innen des MiR Puppentheaters fungieren ebenfalls als mit dem Teufel im Bunde stehende Buffoni, die die Welt unsicher machen und anderen Schaden zufügen. Ich weiß nicht, ob und welcher bewusstseinserweiternder Substanzen sich Tom Waits bedient hat, um nachts eine derartig skurile Musik zu komponieren, während tagsüber im Thalia Theater bereits geprobt wurde, aber in jedem Fall setzen die 10 Musiker unter der Musikalischen Leitung von Heribert Feckler Tom Waits’ teilweise eigenwillige Partitur im Orchestergraben präzise um, der mitunter gewollt schräge Sound ist meilenweit von klassischen Broadway-Musicals entfernt. Die große Bandbreite an Musikstilen von Jazz über Varieté und Vaudeville zu Alternative Rock findet sich auch in der Instrumentierung wieder, beispielhaft sei hier die von Sebastian Schiller auf der Bühne gespielte Singende Säge genannt.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Musiktheater im Revier, Daniel Jeroma (Pegleg). Foto Björn Hickmann

In der Gelsenkirchener Produktion „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ steht das MiR Puppentheater im Fokus, das in dieser Spielzeit von der gelernten Puppenspielerin/Darstellenden Künstlerin Gloria Iberl-Thieme (Abschluss an der HfS „Ernst Busch“) geleitet wird. Die gelernten Schauspieler Daniel Jeroma (Abschluss an der Universität der Künste Berlin) und Merten Schroedter (Abschluss an der HfS „Ernst Busch“) ergänzen das MiR Puppentheater als feste Puppenspieler; Daniel Jeroma war bereits – gemeinsam mit Gloria Iberl-Thieme – an der Produktion „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ in der Spielzeit 2019/2020 als Puppenspieler beteiligt. Die Studierenden Marharyta Pshenitsyna  und Seth Tietze des Studiengangs Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS „Ernst Busch“ haben in ihrem letzten Studienjahr die Möglichkeit, Praxiserfahrung am MiR zu sammeln. Gemeinsam übernimmt The Devil Team für die Zuschauer mit dem Titelsong „Come on along with the Black Rider, we’ll have a gay old time, lay down in the web of the black spider, I’ll drink your blood like wine.“ die Rolle des Conférenciers, wobei Daniel Jeroma als Pegleg die leading role zufällt. Merten Schroedter hat als traditionsbewusster Förster Bertram mit Liebe nicht viel am Hut, er möchte einen Jäger für seine Tochter zum Mann: „Liebe kann man nicht essen. Es muss ein Jäger sein, so will’s der Brauch.“ Mit dem Leitsatz „Tu, was du willst“, den Joachim Gabriel Maaß ihm als Erbförster Kuno mit auf den Weg gibt, kann und will er sich einfach nicht anfreunden. Gloria Iberl-Thieme steht als seine Frau Anne dagegen auf der Seite ihrer Tochter, sie unterstützt ihre Liebe zum Schreiber Wilhelm. Das Försterehepaar erfährt durch die Kaukautzkys eine groteske Verzerrung. Folkwang Alumna Annika Firley (Bisi, Lumpi, Sängerin u. a. in „Linie 1“; Columbia in Richard O´Brien´s „The Rocky Horror Show“) wehrt sich als Naivchen Käthchen nach Kräften gegen die vom Vater geplante Hochzeit mit dem potenten Jägerburschen Robert („But he’s not Wilhelm!“), der den Wald wie seine Westentasche kennt und von Daniel Jeroma ebenfalls mittels einer Kaukautzky-Puppe dargestellt wird. Doch irgendwann beschleichen sie auch bei Wilhelm in Anbetracht des geforderten Probeschusses böse Vorahnungen, so dass sie sich selbst im Song „I’ll shoot the moon“ Mut zu machen versucht. Sebastian Schiller verkörpert den verliebten Schreiber Wilhelm, im Liebesduett „The briar and the rose“ harmoniert er auf dem Wellenflug schön mit Annika Firley. Das Gewehr ist logischerweise viel zu groß für ihn, denn er ist beileibe kein treffsicherer Schütze. Das ändert sich erst mit den richtigen Kugeln, die er von Pegleg erhält. In seiner Verzweiflung in Anbetracht des von Betram geforderten Probeschusses ist er das ideale Opfer und erliegt den Verlockungen des Bösen.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Musiktheater im Revier, Annika Firley (Käthchen). Foto Björn Hickmann

Am Ende der knapp zweistündigen, kurzweiligen Vorstellung – in Gelsenkirchen wird mit Pause gespielt – gab es verdient langanhaltenden Applaus für alle Akteure. 10 Folgevorstellungen von „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ sind augenblicklich bis 17. Januar 2021 disponiert, die nächsten Vorstellungen stehen am Donnerstag, 24. September und Sonntag, 27. September 2020 auf dem Spielplan. Abschließend ein dringender Appell an die Theaterbesucher des MiR: Bitte halten Sie im gesamten Haus den Mindestabstand von 1,50 Metern zu anderen Personen ein und tragen Sie immer – mit Ausnahme während der Vorstellung an Ihrem Sitzplatz – eine Mund-Nase-Bedeckung, also auch, wenn Sie im Auditorium am Platz auf den Vorstellungsbeginn warten oder Ihren Sitzplatz verlassen. Sie tragen damit dazu bei, dass Theatervorstellungen auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie möglich bleiben. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts lag die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz am Samstag in Gelsenkirchen bei 44,1 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen 7 Tage. Ab einem Grenzwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen 7 Tage können verschärfte Schutzmaßnahmen ergriffen werden.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Musiktheater im Revier, Annika Firley (Käthchen), Merten Schroedter, Daniel Jeroma, Gloria Iberl-Thieme, Marharyta Pshenitsyna und Seth Tietze. Foto Björn Hickmann

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