„Puppet Masters“

Diplom-Inszenierungen Studierender der HfS „Ernst Busch“ am Musiktheater im Revier

In der Spielzeit 2019/2020 waren die vier Puppenspielerinnen Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik, Eileen von Hoyningen Huene und Anastasia Starodubova, seit 2016 Studierende des Studiengangs Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Berlin, als Mitglieder des MiR Puppentheaters fester Bestandteil des Ensembles am Musiktheater im Revier, wo sie in der Opernproduktion „Frankenstein“ von Jan Dvořák (Premiere 28. September 2019, Regie Sebastian Schwab) das Monster spielten. Ursprünglich sollten sie ab 21. März 2020 in der „Winterreise“ als Puppentheater für Erwachsene zu sehen sein, doch daraus wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie bekanntlich nichts. Ob sie im kommenden Jahr bei den geplanten Aufführungen der „Winterreise“ (Premiere 13. Februar 2021, Inszenierung Annette Dabs) nochmals am Musiktheater im Revier zu sehen sein werden, kann augenblicklich nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Am Theater St. Gallen haben sie mit den übrigen Studierenden des vierten Studienjahrgangs der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst im Schauspiel „Der Prozess“ von Anita Augustin nach dem Roman von Franz Kafka (Uraufführung 10. Januar 2020, Regie Jonas Knecht) als Koproduktion mit der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin mitgespielt. Das Musiktheater im Revier ist seit der Spielzeit 2019/2020 die erste deutsche Oper mit einer Puppenspielsparte, wobei am Musiktheater im Revier ja auch Ballett gezeigt wird und man dementsprechend von einem Mehrspartentheater sprechen kann. Als Mehrspartentheater verfügen aber beispielsweise auch das Theater Chemnitz, das Anhaltische Theater Dessau, das Theater Koblenz, das Meininger Staatstheater u. a. über ein eigenes Puppenspiel-Ensemble, was bei den Theatern in den Neuen Bundesländern auf die Tradition des Puppentheaters in der DDR zurückzuführen sein dürfte.

Puppenspiel kann man in Deutschland im Bachelorstudiengang „Figurentheater“ an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und im Diplomstudiengang „Zeitgenössische Puppenspielkunst“ an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin studieren, die in der DDR als Kaderschmiede galt. Nach einer Regelstudiendauer von acht Semestern schließt das Studium in Stuttgart mit einem Bachelor of Arts ab, in Berlin mit einem Diplom als Puppenspieler/Darstellender Künstler bzw. Puppenspielerin/Darstellende Künstlerin. Warum das Studium in Berlin im Rahmen des Bologna-Prozesses nicht auf einen Bachelor­studien­gang umgestellt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Zu den Studieninhalten an der HfS „Ernst Busch“ gehören u. a. Schauspiel, Gesang, Sprechen, Puppenspieltechniken in traditionellen und modernen (hybriden) Formen, Bewegung, Pantomime, Akrobatik, Fechten, Beatboxen und Stepptanz.


„Disconnect“

Mit: Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene; Komposition: Anais Nanour Benlachhab; Regiebetreuung: Karin Herrmann; Künstlerische Beratung: Barbara Theobaldt

„Disconnect“, Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene. Foto Björn Hickmann

Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene erzählen in „Disconnect“ die Geschichte zweier Menschen, die sich in jungen Jahren kennenlernen und im Laufe der Zeit ineinander verlieben, die erste gemeinsame Wohnung beziehen und es irgendwann zum Wendepunkt in ihrer Beziehung kommt, als sie in Form einer Krebserkrankung mit dem Sterben konfrontiert werden. Sie wurden bei ihrer Inszenierung von Karin Herrmann betreut, die von 2013 bis 2017 ebenfalls den Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS „Ernst Busch“ absolviert hat, und von Barbara Theobaldt künstlerisch beraten.


Ausschnitt aus „Amorph“

Mit: Evi Arnsbjerg Brygmann, Emanuele Cefali und Laura Stefanidis; Musik: Emanuele Cefali

Ausschnitt aus „Amorph“. Evi Arnsbjerg Brygmann, Emanuele Cefali und Laura Stefanidis. Foto Björn Hickmann

Der Begriff „amorph“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „ohne Gestalt“, in amorphen Materialien besitzen die Atome keine regelmäßigen Strukturen. In ihrer Eigenarbeit „Amorph“ widmet sich Evi Arnsbjerg Brygmann dem Thema der bereuten Mutterschaft, seit „Regretting Motherhood“ sicher kein Tabuthema mehr. (Die wichtigsten Gründe für Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein, sollen Einschränkungen in der persönlichen Entfaltung und beruflicher Natur sein.) Die drei Puppenspieler*innen Evi Arnsbjerg Brygmann, Emanuele Cefali und Laura Stefanidis sind während des gezeigten Ausschnitts gemeinsam unter einer weißen Stoffhülle verborgen, lediglich ein zerknautschter Puppenkopf schaut irgendwann aus dem anfänglich völlig geschlossenem Gebilde ohne feste Gestalt heraus. Die Koordinierung der gemeinsamen Bewegungen, um der Stoffhülle die gewünschte Gestalt zu verleihen, dürfte nicht trivial sein. Die wimmernden Laute des Wesens vermischen sich mit den treibenden Beats von Emanuele Cefali, der die Musik zu „Amorph“ beigesteuert hat.


„Sauerstoff“

Mit: Josephine Buchwitz, Lilith Naxion und Anastasia Starodubova; Regie: Petra Ratiu; Komposition: Erik Siefken; Choreografie: Daniel Drabek

„Sauerstoff“, Anastasia Starodubova. Foto Björn Hickmann

Das Theaterstück „Sauerstoff“ („Kislorod“) des russischen Autors Iwan Alexandrowitsch Wyrypajew (* 1974 in Irkutsk, Sowjetunion) (UA Staatsschauspiel Moskau, 2003) wurde im Mai 2004 im Rahmen der Wiener Festwochen in der Moskauer Originalinszenierung am Kosmos-Theater vorgestellt. Im Programm der Festwochen hieß es dazu: „Aus Versatzstücken kommunistischer Moral und Ethik, christlicher Heilsverkündigung und dem einfachen Grundsatz, dass jeder Mensch zum Überleben Sauerstoff braucht, entfaltet er (Anm. Iwan Wyrypajew) eine Gedankenwelt, in der die Suche nach moralischem Halt einer Generation in den ‚Wogen des Übergangs’ erfahrbar wird.“ In den Episoden werden christliche Gebote abgehandelt, die nicht mehr die Hilfe bieten, die sie bieten sollten. Das Theaterstück handelt von einer Gesellschaft, deren Werte sich zusehends auflösen. Und es schreit nach Freiheit: „Um auf der Erde leben zu können, muss man lernen, mit einfacher Luft auszukommen. Und Geld haben, um sich diese Luft leisten zu können. Und vor allem musst du dich vom Sauerstoff weghalten. Denn wenn du einmal auf Sauerstoff bist, nützt dir kein Geld, keine Medizin und nicht einmal der Tod, den Durst nach Freiheit zu löschen, von dem du befallen wirst.“ In Anbetracht der momentanen Entwicklungen in Weißrussland ein hochaktuelles Thema, dem sich Josephine Buchwitz, Lilith Naxion und Anastasia Starodubova mit den Mitteln der Zeitgenössische Puppenspielkunst widmen. Die beiden Lungenflügel, mit denen Menschen Sauerstoff aufnehmen und Kohlenstoffdioxid abgeben, sind durch zwei großformatige „Drahtgittermodelle“ stilisiert, die durch Schnüre von den Seiten zum „Tanzen“ gebracht werden können.

„Sauerstoff“, Anastasia Starodubova, Josephine Buchwitz und Lilith Maxion. Foto Björn Hickmann

Die drei am 5. und 6. September 2020 am Musiktheater im Revier im Kleinen Haus vorgestellten Diplom-Inszenierungen zeigen eindrucksvoll die vielfältigen Erscheinungsformen des zeitgenössischen Puppentheaters, das sich der Aufgabe widmet, auf der Bühne etwas über den Menschen zu erzählen, und sehr viel mehr ist als nur Märchen- und Kindertheater.

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