„Kindheit im Ruhrgebiet“

Galerieausstellung im Ruhr Museum vom 7. September 2020 bis 25. Mai 2021

Die Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“ wurde als Erinnerungsausstellung unter partizipativer Beteiligung der Bevölkerung des Ruhrgebiets konzipiert. „Die persönlichen Erinnerungen der Menschen sind der Ausgangspunkt für ein großes Panorama der Kindheit im Ruhrgebiet über vier Jahr-zehnte, welches die individuellen Erinnerungen der Leihgeber*innen und ihren durch die Objekte vermittelten Geschichten mit der in der Fotografischen Sammlung des Ruhr Museums beheimateten kollektiven Erinnerung zum Ruhrgebiet verbindet. So entsteht ein höchst persönliches und gleichzeitig zu verallgemeinerndes Bild einer historischen Kindheit in einer besonderen Region“, skizziert Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums.

Plakat zur Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“. © Ruhr Museum, Gestaltung: Uwe Loesch

Die Galerieausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund Ortsverband Essen e. V. entstanden. Sie zeigt auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein 66 Objekte mit den persönlichen Geschichten ihrer Besitzer*innen. Die Einzelobjekte stammen aus der Zeit von 1945 bis 1989 und kommen aus allen Lebensbereichen: von der Schule über Feste, Familienfeiern und Hobbies bis hin zu Spiel und Sport, drinnen wie draußen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Blick in die Ausstellung

Die Auseinandersetzung mit den Exponaten soll Besucher*innen anregen, die eigenen Kindheitserinnerungen zu wecken und zu vergleichen. Ergänzt wird die Ausstellung durch fünf Spielinseln, die alte Erinnerungen hervor holen oder zu neuen Erinnerungen beitragen möchten. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm mit vielen Highlights rundet die Ausstellung ab.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Schlittschuhe mit Riemen, Fa. Hermann Becker, Remscheid, 1946/47

Das Ruhr Museum setzt mit dieser Galerieausstellung die Reihe seiner Präsentationen zu populären Themen der Ruhrgebietsgeschichte fort, die 2019 mit der erfolgreichen Ausstellung „Mensch und Tier im Revier“ begonnen wurde. Sie präsentiert Themen, die tief im Alltag des Ruhrgebiets verwurzelt sind und viel über seine spezifische Struktur und Besonderheit aussagen und damit im Selbstverständnis der Ruhrgebietsbevölkerung eine große Rolle spielen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Spielzeugauto „Examico 4001“, Fa. Schuco, Nürnberg, 1947/48

Das partizipatorische Konzept

„Das Interesse dem Ruhr Museum Gegenstände aus der Kindheit zu überlassen, war im Ruhrgebiet überwältigend. Schon nach dem ersten Aufruf im März 2018 war aber auch das Bedürfnis erkennbar, zu den Objekten auch die persönlich erlebte Geschichte mitteilen zu wollen. Dieses Bedürfnis wurde aufgegriffen und in den Mittelpunkt der Ausstellung gestellt“, erklärt Michaela Krause-Patuto, Kuratorin der Ausstellung. Mit dem Fokus auf den persönlichen Geschichten schloss die Ausstellung aber gleichzeitig den Anspruch aus, die Geschichte der Kindheit im Ruhrgebiet lückenlos darzustellen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Sandmann-Puppe, Deutsche Demokratische Republik, 1960er-Jahre

Im Sommer 2019 startete ein zweiter Aufruf, der sich explizit an potentielle Leihgeberinnen und Leihgeber wendete, die ihre Kindheit in den 1960er bis 1980er Jahren erlebt hatten. Die Resonanz war erneut überwältigend. In der Summe waren es etwa 300 Anrufe und E-Mails, die das Museum innerhalb von zwei Wochen erhielt.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Barbie-Camper mit Zubehör, Fa. Mattel, Frankfurt am Main, 1974/76

Für die Ausstellung ausgewählt wurden solche, die entweder stellvertretend für die Erinnerung Vieler stehen oder derartig einzigartig sind, dass sie spezifisch für die Kindheit im Ruhrgebiet erscheinen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“; Spielpferd Ferdy, MargaretheSteiff GmbH, Giengen an der Brenz, 1971

Der Kindheitsbegriff

„Kindheit“ betrifft zunächst die eigenen Erinnerungen und Erfahrungen, denn jeder Mensch hatte seine ganz individuelle Kindheit, die ihn in ganz unterschiedlicher Weise geprägt hat. Aber Kindheit ist mehr. Kindheit ist eine wichtige Phase in der Entwicklung des Menschen, die ihren eigenen Wert hat und zugleich die weitere Ausprägung der Lebenswege in besonderer Weise bestimmt. Insofern kommt der Kindheit im gesellschaftlichen Zusammenhang eine besondere soziale, psychologische und kulturelle Bedeutung zu. Kindheit ist dabei nichts Statisches. Sie verändert sich im Laufe der Geschichte in ihrer Wahrnehmung, ihrer Einschätzung und ihrer materiellen Gestalt, vor allem in Regionen, die wie das Ruhrgebiet großen Veränderungen unterworfen sind.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Blechtrommel, 1970er-Jahre

Die bewusste Erinnerung eines Kindes setzt mit dem vierten Lebensjahr ein. Dieses Alter wurde als früheste Marke gesetzt, da sich die Ausstellung ausschließlich mit persönlichen Erinnerungen befassen wollte und nicht mit solchen, die man durch Erzähltes bewahrt. Als Endpunkt gilt das 14. Lebensjahr, in dem in den meisten Biografien die Pubertät und damit der sukzessive Abschied von der Kindheit einsetzen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Playmobil-Piratenschiff, Fa. geobra Brandstätter, Zirndorf, 1989; Spielekosole „tele-ball“, MBO Schmidt & Niederleitner GmbH & Co. KG, Deisenhofen (Oberhaching), 1977; tragbares Fernsehgerät Universum „SK27612“, Versandhaus Quelle, 1975/76

Der Zeitraum

Der Zeitraum der Ausstellung umfasst die Epoche des „alten“ schwer-industriellen Ruhrgebiets von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in den Strukturwandel der 1980er-Jahre. Damit bildet die Ausstellung einen deutlichen Kontrast zur heutigen Kindheitserfahrung.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Seifenkiste, Bernd und Nils Hausberg, 1983

Die älteste in einem Objekt vermittelte Kindheitserinnerung stammt aus dem Jahr 1945 und wurde dem Museum in Form von Schlittschuhen von Ilse Noll (* 1935) überlassen. Die jüngste Leihgeberin wurde 1985 geboren und stellte dem Ruhr Museum mit einer Schaukel eine Erinnerung zur Verfügung, mit der inzwischen ihre eigenen Kinder spielen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Kommunionkleid, Ende 1970er-Jahre

Die Leihgeber*innen

Mit jedem*r Leihgeber*in der 66 ausgewählten Objekte wurde ein persönliches Interview geführt. Neben den persönlichen Geschichten zu den Leihgaben stellte sich auch immer die Frage, warum ein Objekt aufbewahrt worden war. Die Motivationen dafür lassen sich in drei große Kategorien einteilen: Es gibt entweder die regelrechten Sammler*innen, die Dinge aufbewahren, weil sie sich gern mit Erinnerungsstücken umgeben. Dann gibt es diejenigen, die nur wenige ausgewählte und dann häufig kleine und wenig raumgreifenden Dinge, vorzugsweise in besonderen Schachteln oder Kisten, aufbewahren. Schließlich gibt es Leihgeber*innen, die etwas nicht selbst oder nur unbewusst aufbewahrt hatten, jenen Gegenstand irgendwann zufällig wiederfanden und sich dann freudig an bestimmte Erlebnisse erinnerten.

Die Fotografien

Die Fotografien, die die Erinnerungsstücke begleiten, sind keine persönlichen Erinnerungen. Die 120 Bilder stammen aus dem Fotoarchiv des Ruhr Museums, das Fotografien professioneller Fotografen zur Geschichte und Gegenwart des Ruhrgebiets sammelt. Die gezeigten Bilder stammen von Presse-, Werks-, Dokumentar- und freien Fotograf*innen, die eigenständig Projekte verfolgten. Die meisten der Aufnahmen waren für Veröffentlichungen gedacht, aber es sind auch wenige Aufnahmen aus dem privaten Umfeld der Berufsfotograf*innen darunter.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, „Schlittenfahren, Schloßpark“, Essen-Borbeck, Januar 1979. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Manfred Scholz

Die in der Ausstellung gezeigten Fotografien sind Teil eines kollektiven Gedächtnisses des Ruhrgebiets geworden. Dieses kollektive Bildgedächtnis wird in der Ausstellung mit den konkreten subjektiven Erinnerungen der Leihgeber*innen kombiniert, so dass die Besucher*innen der Ausstellung eigenständig Querbezüge zwischen Objekten und Bildern herstellen können. Die Bilder der Berufsfotograf*innen rahmen die Exponate auf der Ausstellungsfläche quasi ein. Sie formen einerseits mit Motiven, wie sie nur im Ruhrgebiet vorkommen – dem Spielen auf der Halde, in der Siedlung, vor dem Werkstor, am Kanal –, und andererseits mit allgemeingültigen Bildern von Schule, Freizeit und Familie einen „Bezugsrahmen“ zur ausgestellten Erinnerung im Inneren der Ausstellungsfläche.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Abwasserkanal der Zeche Sterkrade, Oberhausen 1965. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Rudolf Holtappel

Was auffällt: Schauplätze der Kindheit sind neben dem elterlichen Zuhause und der Schule die Straße, die Siedlung oder die Industriebrache. Bis in die 1980er Jahre haben Kinder in Deutschland, vor allem im Ruhrgebiet, weitestgehend draußen gespielt. Das Phänomen der „unsichtbaren“ Großstadtkinder, deren soziales Leben in geschlossenen Räumen stattfindet, ist jüngeren Datums und mit ein Grund, die Ausstellung mit den späten 1980er-Jahren enden zu lassen.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Spielinsel Zauberwürfel

Die Spielinseln

Fünf Spielinseln möchten in der Ausstellung an alte Erinnerungen anknüpfen oder neu entstehen lassen. Zu bespielen sind eine elektrische Eisenbahn, eine Station mit Legosteinen, eine „Carrera-Bahn“ (Autorennbahn), eine Videospielinsel „Pong“ und ein Zauberwürfel.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, Spielinsel „Carrera-Bahn“ (Autorennbahn), Carrera Evolution, Carrera Revell GmbH, Grünberg

Die Kooperationspartner

Die Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“ ist in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund Ortsverband Essen e. V. entstanden, der seit über 30 Jahren auf Zollverein in seinem Kinder- und Familienzentrum BLAUER ELEFANT den Nachwuchs aus den umliegenden Stadtteilen aktiv fördert und 2018 den Grundstein eines weiteren Kinderförderzentrums auf dem Welterbe Zollverein legte. Unter einem Dach befinden sich hier die Kindertageseinrichtung Kleiner Pütt®, eine Erziehungsberatungsstelle und ein lernHAUS. Das Kinderförderzentrum wurde vor einem Jahr eröffnet und gehört nicht nur zu den Vorzeigeprojekten von Zollverein, sondern stellt auch eine enorme Bereicherung des Essener Nordens und der Zollverein-Stadtteile dar.

Thomas Grotenhöfer, Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes Ortsverband Essen e. V. sagt dazu: „ Mit vielen Bildungsbausteinen fördern wir Zukunft auf dem Weltkulturerbe Zollverein, denn wir hier geben Kindern hier einen optimalen Rahmen für ihr Aufwachsen, stärken ihre Potenziale und treiben Teilhabe und Chancengerechtigkeit voran.“
Und schließlich trat der Kinderschutzbund mit der Bitte an das Ruhr Museum heran, ob es eine Ausstellung zur historischen Dimension der Kindheit entwickeln könnte.

Prof. Dr. Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes Ortsverband Essen e. V., ergänzt: „Frühe Kindheitserlebnisse prägen jede Lebensbiographie nachhaltig. Positiven Kindheitserinnerungen schenkt diese Ausstellung einen Rahmen. Für uns Kinderschützer ist der Brückenschlag vom historischen Rückblick zum Augenmerk auf die gegenwärtige Lebenssituation von Kindern entscheidend.“
Das Ruhr Museum nahm diesen Vorschlag gerne auf, zumal es sich schon vor Jahren als Ruhrlandmuseum mit der Ausstellung „Maikäfer flieg … Kindheitserfahrungen 1940 – 1960“ mit der Kindheit im Ruhrgebiet befasst hat und regelmäßig sehr erfolgreiche Fotokalender zum Thema herausbringt.

Als Ergebnis der Aufrufe nach Kindheitserinnerungen musste konstatiert werden, dass sich im großen „Schmelztiegel“ Ruhrgebiet kein Bürger und keine Bürgerin mit Migrationshintergrund darauf gemeldet hatte. Auch die gezielte Ansprache in einer italienischen Gemeinde und einem muslimischen Verband führte nicht zum Ziel: So freundlich und interessiert man dem Ausstellungsvorhaben des Ruhr Museums gegenüberstand, so ergab sich doch keine persönliche Leihgeberschaft. Aus diesem Grund wurde ein gemeinsames Projekt mit der Universität Duisburg-Essen vereinbart, die im Rahmen des Studiengangs „Geschichtspraxis interkulturell“ die in der Ausstellung gezeigten Exponate von Leihgebern mit Migrationshintergrund recherchierten.

„Kindheit im Ruhrgebiet“, „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Rudolf Holtappel

Das Ergebnis

Obwohl nicht jede Kindheit eine rein glückliche gewesen sein muss, stellte sich heraus, dass es vor allem die positiven, glücklichen und fröhlichen Erlebnisse waren, an die sich die Bürger*innen des Ruhrgebiets erinnern konnten und wollten. Das galt sowohl für Menschen, die in den Nachkriegsjahren ihre Kindheit erlebt hatten, als auch für solche, die in Zeiten des Wirtschaftswunders Kind sein durften, und auch für Menschen, die zur Zeit des Kalten Krieges beziehungsweise während des Falls des Eisernen Vorhangs zwischen vier und 14 Jahre alt waren. Gleiche politische, gesellschaftliche und/oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen führen weder zu vorhersehbaren noch zu gleichen Erinnerungen an Kindheit; die eigenen Kindheitserinnerungen lassen sich mit anderen Erinnerung zwar vergleichen, bleiben aber individuell.

Der Katalog

Der Exponatskatalog mit allen Objekten und Fotografien, einem Vorwort von Prof. Heinrich Theodor Grütter sowie Aufsätzen von Till Kössler (Kindheit im Ruhrgebiet), Anissa Finzi, Michaela Kraus-Patuto, Anke Seifert-Paß, Niklas Steinkamp (Die erinnerte Kindheit. Zum Konzept der Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“), Thomas Dupke, Thomas Morlang („Gleich kommt das Vögelchen!“ Die fotografierte Kindheit) umfasst 208 Seiten und 200 Abbildungen. Er erscheint im Klartext Verlag, Essen, 2020, ISBN 978-3-8375-2340-9 zum Preis von 24,95 €.

Hinweis zum Besuch des Ruhr Museums

Alle Veranstaltungen werden unter den jeweils geltenden Sicherheits- und Hygienestandards der Coronaschutz-Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalens stattfinden. Für den Besuch der Ausstellung gelten zahlenmäßige Zugangsbeschränkungen, aktuell dürfen sich maximal 21 Personen auf der Galerie aufhalten. Änderungen sind jederzeit möglich.
Aktuelle Informationen unter www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/hygiene-und-vorsorgemassnahmen/.

Die Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“ ist vom 7. September 2020 bis 25. Mai 2021 täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, am 24., 25. und 31. Dezember geschlossen. Der Eintritt beträgt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schüler und Studierende unter 25 Jahren haben freien Eintritt.

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