„Frau Luna“ am Musiktheater im Revier


„Frau Luna“ – Musik: Paul Lincke; Libretto: Heinz Bolten-Baeckers; Arrangement: Henning Hagedorn und Matthias Grimminger; Textneufassung, Inszenierung: Thomas Weber-Schallauer; Choreografie: Bridget Petzold; Bühne: Christiane Rolland; Kostüme: Yvonne Forster; Video: Volker Köster; Dramaturgie: Anna Chernomordik; Musikalische Leitung: Bernhard Stengel. Darsteller: Sebastian Schiller (Fritz Steppke, Computerenthusiast und Gründer eines Start-up-Unternehmens), Joachim Gabriel Maaß (Pannecke, Hausmeister/Theophil, Haushofmeister auf dem Mond), Patricia Pallmer (Lämmermeier, Modedesigner), Christa Platzer (Mathilde Pusebach, Fritz Steppkes Vermieterin), Ava Gesell (Marie Pusebach, genannt Mieze, Mathilde Pusebachs Nichte und Verlobte von Fritz), Anke Sieloff (Frau Luna, Herrin des Mondes), Dongmin Lee (Stella, Lunas Zofe), Martin Homrich (Prinz Sternschnuppe), Lina Hoffmann (Mondgroom), Alfia Kamalova (Venus), Vivien Lacomme (Mars), Pauline Dorra, Nele Koschany, Chiara Patronaggio, Connor Rittgen, Pia Rühland, Lara Schulte, Louisa Skowron (Space-Cops). Uraufführung: 1. Mai 1899, Apollo-Theater, Berlin. Premiere: 5. Oktober 2019, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„Frau Luna“


Die „Berliner Luft“ in Zeiten von virtueller Realität


Nach den Erfolgen der Pariser und Wiener Operetten machten sich in Berlin schon bald lokale Komponisten daran, eine typische „Berliner Operette“ zu kreieren. Der Begründer der Berliner Operette Paul Lincke (* 7. November 1866 in Berlin, † 3. September 1946 in Hahnenklee-Bockswiese) schuf „Frau Luna“ und „Im Reiche des Indra“, die beide 1899 im Berliner Apollo-Theater an der Friedrichstraße uraufgeführt wurden, wo Paul Lincke als Erster Kapellmeister tätig war. In beiden Fällen war Heinrich Bolten-Baeckers (* 10. April 1871 in Chemnitz, † 30. Januar 1938 in Dresden) als Librettist involviert, der schon 1897 das Libretto zu „Venus auf Erden“ (Uraufführung 6. Juni 1897, Apollo-Theater, Berlin) für Paul Lincke geschrieben hatte. Die Uraufführung von „Frau Luna“ ist am Montag, 1. Mai 1899 mit vier Bildern in einem Akt im Apollo-Theater über die Bühne gegangen sein, in Szene gesetzt von Direktor E. Waldmann. Schon bald wurde die ursprüngliche Fassung erweitert, die finale Neufassung mit 11 Bildern in zwei Akten mit einem Luftballett sowie den aus der Ausstattungsburleske „Berliner Luft“ eingefügten Liedern „Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe“ und „Das macht die Berliner Luft“ feierte 1922 wiederum im Apollo-Theater Premiere. Henning Hagedorn und Matthias Grimminger (ARTIVO music. Hagedorn und Grimminger GbR) haben bereits mehrere Operetten von Paul Abraham („Ball im Savoy“, „Die Blume von Hawaii“, „Roxy und ihr Wunderteam“, „Viktoria und ihr Husar“) und Ralph Benatzky („Das weiße Rössl“) aus zahllosen Originalquellen rekonstruiert und haben auch bei „Frau Luna“ für die Arrangements gesorgt, die der burlesk-phantastischen Ausstattungs­operette von Paul Lincke ihren ursprünglichen, verrucht-jazzigen Klang der Roaring Twenties zurückgeben. Mit neuen, aktualisierten Dialogen von Thomas Weber-Schallauer wird „Frau Luna“ ab 5. Oktober 2019 im Kleinen Haus am Musiktheater im Revier aufgeführt. „Frau Luna“ ist 120 Jahre nach der Uraufführung noch immer sehr beliebt und findet sich dementsprechend in den Spielplänen zahlreicher deutschsprachiger Bühnen wie TIPI AM KANZLERAMT (1. Februar bis 31. März 2019, Regie Bernd Mottl), Staatstheater Cottbus (Premiere 23. Februar 2019, Regie Steffen Piontek), Volkstheater Rostock (Wiederaufnahme 28. November 2019, Regie Dominik Wilgenbus), Staatstheater Darmstadt (Premiere 25. Januar 2020, Regie Klaus-Christian Schreiber), Staatsoperette Dresden (Premiere 3. Februar 2018, Wiederaufnahme 24. April 2020, Regie Andy Hallwaxx), Lehár Festival Bad Ischl (Premiere 18. Juli 2020, Regie Ramesh Nair) u. a.

„Frau Luna“, Musiktheater im Revier, Sebastian Schiller (Fritz Steppke) und Ava Gesell (Marie Pusebach). Foto: Björn Hickmann

Der Computerenthusiast Fritz Steppke will den Flug zum Mond in der virtuellen Realität für alle realisieren und hat hierfür ein Start-up-Unternehmen in Berlin-Mitte gegründet, doch momentan scheitern seine Pläne an der leistungsschwachen Hardware. Gemeinsam mit seinen Freunden, dem Modedesigner Lämmermeier und dem Hausmeister Pannecke, schmiedet er große Pläne, was seiner Vermieterin Mathilde Pusebach überhaupt nicht gefällt. Obendrein verdreht er ihrer Nichte Marie den Kopf, die ihn überreden möchte, doch lieber an seinen vermeintlich sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst zurückzukehren, wo er als Programmierer für die Visualisierung von Katastrophenszenarios tätig war. Als die Mondmission irgendwann aussichtsreich verläuft, haben die drei Freunde bei ihrer virtuellen Reise aus Versehen Mathilde Pusebach „mit an Bord“ und bei der Landung auf dem Mond geht auch noch Pannecke verloren. Auf dem Mond führt Haushofmeister Theophil ein strenges Regiment. Nachdem er sich bei der großen Mondfinsternis bei einem Ausflug auf die Erde in Berlin fast auf einen Seitensprung eingelassen hat, misstraut ihm seine Liebste Stella, und als er in Mathilde Pusebach seinen Fast-Seitensprung wiedererkennt, möchte er die Erdlinge verständlicherweise möglichst schnell wieder loswerden, schließlich soll Stella nichts davon erfahren. Doch mit ihrem Charme können Fritz Steppke, Lämmermeier und Mathilde die anderen Mondbewohner schnell für sich einnehmen. Prinz Sternschnuppe hofft bei seinem Werben um Frau Luna bei einer großen Mondparty auf eine günstige Gelegenheit, doch Frau Luna ist von den Besuchern aus Berliner ganz angetan, insbesondere von Fritz Steppke, und so bleibt Prinz Sternschnuppe einmal mehr erfolglos. Da kommt ihm Theophils raffinierter Plan sehr gelegen, Fritz Steppkes Verlobte Marie in seiner Sphärenblase auf den Mond zu bringen. Frau Lunas Verführungskünste verfehlen zwar bei Fritz Steppke nicht ihre Wirkung, doch als Marie auf dem Mond auftaucht und Fritz zur Rede stellt, holt sie ihn aus Wolke sieben schleunigst auf den Boden der Tatsachen zurück. Er erwacht auf seinem Sofa in der Dachgeschosswohnung in Berlin-Mitte, war alles womöglich nur ein Traum?

„Frau Luna“, Musiktheater im Revier, Joachim Gabriel Maaß (Theophil) und Martin Homrich (Prinz Sternschnuppe). Foto: Björn Hickmann

Regisseur Thomas Weber-Schallauer hat „Frau Luna“ in die Gegenwart transferiert, seine Textfassung ist kurzweilig und unterhaltsam, die Dialoge sprühen nur so vor Wortwitz und zahlreichen Anspielungen an technische und wissenschaftliche Termini. Kecke unverblümte Urberliner werden mit distanzierten Mondbewohnern konfrontiert: Hier treffen Gegensätze aufeinander und sorgen für allerlei komische und kurzweilige Momente. Designerin Christiane Rolland („Die Sternstunde des Josef Bieder“) hat den wandlungsfähigen Bühnenraum des Kleinen Hauses mit weißen Bühnenelementen und einem halbtransparenten Vorhang bestückt. Dadurch entstehen Projektionsflächen für diverse Einblendungen und Videosequenzen von Volker Köster. So lassen sich auch auf kleiner Bühne schnell Stimmungswechsel und neue Räume mit vielen Überraschungsmomenten erzeugen. Die spacigen Kostüme von Modedesignerin Yvonne Forster – insbesondere Frau Lunas aufwendige Roben – sind teilweise mit Lichtelementen ausgestattet, es blitzen Smartphones auf – man möchte ja schließlich bei InstaRgramm vertreten sein – und Theophil, Haushofmeister auf dem Mond, verfügt über einen Wearable Computer am Handgelenk. Auf dem Mond geht es steril, metallisch und technisch zu. Die Farben Weiß und Silber beherrschen das Gesamtbild. Einige Perücken der Mondbewohner bestehen aus transparenten Plastikflaschen und ähnlichen Recyclingmaterialien. Da fallen natürlich drei bzw. vier Berliner in Alltagskleidung auf wie der sprichwörtliche „bunte Hund“, zumal Mathilde Pusebach versehentlich mit Taucherflossen an den Füßen anreist. Für den passenden musikalischen Rahmen sorgt eine 11-köpfige Kammerbesetzung der Neuen Philharmonie Westfalen (Klavier, Percussion, Banjo/Gitarre, Violine 1, Violine 2, Viola, Violoncello, Kontrabass, Flöte, Trompete, Tuba) unter der Musikalischen Leitung von Kapellmeister Bernhard Stengel, die Paul Linckes oftmals hinlänglich bekannten schmissigen und eingängigen Melodien wieder aufleben lassen: das „Glühwürmchen-Idyll“, „Das macht die Berliner Luft“, „Schlösser, die im Monde liegen“, „O Theophil“, um nur einige zu nennen. Da möchte so mancher Zuschauer offenbar gerne ein wenig mitsummen.

„Frau Luna“, Musiktheater im Revier, Space-Cops, Statisterie und Opernchor. Foto: Björn Hickmann

Für den nötigen Esprit sorgt ein großes spiel- und sangesfreudiges Ensemble. Allen voran Sebastian Schiller als Berliner Tüftler Fritz Steppke, der zwar unbedingt den „Mann im Mond“ treffen will, um mit ihm über seine Geschäftsidee zu verhandeln, dann aber mit Frau Luna Bekanntschaft macht, die eher an ihm selbst interessiert ist. Anke Sieloff ist die verführerische grazile Frau Luna, die auch stimmlich voll überzeugt. Mit wenig Erfolg bemüht sich der stimmstarke Tenor Martin Hommrich als Prinz Sternschnuppe um die Mond-Chefin und sorgt dabei für einige Lacher im Publikum. In einer Doppelrolle als muffeliger Berliner Hausmeister Panneke und Haushofmeister Theophil überzeugt Joachim Gabriel Maaß. Christa Platzer hat als Mathilde Pusebach für beide Männer einiges übrig, ist erfrischend gerade heraus, schnoddrig und stets offensiv auf der Suche nach der großen Liebe. Mezzospranistin Ava Gesell, Studentin an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und diese Spielzeit im Jungen Ensemble am MiR, bezaubert in ihrem Debüt als Marie Pusebach. Der gut aufgelegte Opernchor gibt eine muntere Festgesellschaft ab. Die Rollen Mars (Vivien Lacomme), Venus (Alfia Kamalova) und Lämmermeier sind mit Sänger*innen aus dem Opernchor solistisch besetzt. Im Falle von Modedesigner Lämmermeier verbirgt sich hinter der Maske des bärtigen und burschikosen Berliners eine Sängerin: Patricia Pallmer macht ihre Sache wirklich gut und gibt einen perfekten Sparringspartner für Fritz Steppke ab. Dongmin Lee ist eine dominante Stella und Lina Hoffmann (seit dieser Spielzeit festes Mitglied des Opernensembles) ein ziemlich angeschickerter Mondgroom mit einem Faible für irdische Gepflogenheiten. Tänzerisch sehr überzeugend agieren die sieben Space-Cops Pauline Dorra, Nele Koschany, Chiara Patronaggio, Connor Rittgen, Pia Rühland, Lara Schulte und Louisa Skowron in den von Bridget Petzold einstudierten Choreografien. Erste Bühnenerfahrung haben sie bei „MOVE! 2019 – Wonderland“ (Premiere 3. Juli 2019) teilweise solistisch als das weiße Kaninchen (Pauline Dorra), Märzhase (Connor Rittgen), Haselmaus (Nele Koschany) und Schatten (Louisa Skowron, Lara Schulte) sammeln dürfen.

„Frau Luna“, Musiktheater im Revier, Anke Sieloff (Frau Luna), im Hintergrund v. l. n. r.: Lina Hoffmann (Mondgroom), Martin Homrich (Prinz Sternschnuppe), Dongmin Lee (Stella), Opernchor. Foto: Björn Hickmann

Das Publikum erlebt kurzweilige zweieinhalb Stunden und feierte Darsteller*innen und Kreativteam am Ende mit kräftigem Beifall. Folgevorstellungen am Musiktheater im Revier sind bis 13. Juni 2020 disponiert.

„Frau Luna“, Musiktheater im Revier, Anke Sieloff (Frau Luna), Space-Cops und Statisterie. Foto: Björn Hickmann

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