„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“ – nach dem Briefroman „Daddy-Long-Legs“ von Jean Webster (1912); Musik und Liedtexte: Paul Gordon, Buch: John Caird, Deutsche Bearbeitung: Marie-Luise Schottleitner und Martin Fischerauer; Inszenierung, Bühne: Thomas Winter; Kostüme: Yulia Lebedeva; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott), Gero Wendorff (Jervis Pendleton). Uraufführung: 17. Oktober 2009, Rubicon Theatre, Ventura County, Kalifornien. West End Premiere: 31. Oktober 2012, St. James Theatre, London. Off-Broadway Premiere: 28. September 2015, Davenport Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 25. November 2018, Stadttheater Bielefeld, Loft.



„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“


Deutschsprachige Erstaufführung im Loft am Stadttheater Bielefeld


Jean Webster (eigentlich: Alice Jane Chandler Webster, * 24. Juli 1876 in Fredonia, New York, † 11. Juni 1916 in New York City) stammte aus einer sehr gebildeten und politisch engagierten Familie. Ihre Mutter war Mark Twains Nichte und ihr Vater Mark Twains Geschäftsmanager. Ihre Urgroßmutter und Großmutter waren an der Abstinenz- und Suffragettenbewegung beteiligt. Von 1894 bis 1896 besuchte sie das Lady Jane Grey Internat in Binghamton, New York, und im Anschluss von 1897 bis 1901 das Vassar College in Poughkeepsie, New York. Ihre Erfahrungen am Vassar College verarbeitete sie in ihren Romanen „When Patty Went to College“ (1903) und „Daddy-Long-Legs“ (1912), der zu ihrem größten literarischen Erfolg geriet. Soziales Engagement und Themen der Frauenbewegung prägten ihr Romanwerk; sie starb bereits mit knapp 40 Jahren im Sloan Hospital for Women in New York City nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber.

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“, Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott) und Gero Wendorff (Jervis Pendleton). © Sarah Jonek

Unter den bisher fünf Verfilmungen von „Daddy-Long-Legs“ sticht diejenige mit Fred Astaire (Jervis Pendleton III) und Leslie Caron (Julie Andre) von 1955 heraus. In Japan erschien 1990 eine vierzigteilige Zeichentrickserie, die auf dem Roman „Daddy-Long-Legs“ basiert und unter dem Titel „Das Geheimnis von Daddy Langbein“ auch in Deutschland ausgestrahlt wurde. Am 17. Oktober 2009 fand die Uraufführung des Musicals „Daddy Long Legs“ im Rubicon Theatre im Ventura County, Kalifornien statt, gefolgt von Produktionen am Londoner West-End und in Tokyo (2012), in Kanada (2013), Off-Broadway (2015), Seoul (2016) und Buenos Aires (2018). Komponist Paul Gordon erhielt als Singer-Songwriter bereits Aufmerksamkeit, bevor er Musicals schrieb – vorzugsweise nach Romanen von Charlotte Brontë („Jane Eyre“, 1995) und Jane Austen („Emma“, 2006, „Sense and Sensibility“ (Verstand und Gefühl), 2015, „Pride and Prejustice“ (Stolz und Vorurteil), 2018). Bei „Daddy Long Legs“, für das er 2010 bei den LA STAGE Alliance Ovation Awards in der Kategorie „Lyrics/Music for an Original Musical“ ausgezeichnet wurde, arbeitete Paul Gordon mit John Caird zusammen, der schon das Buch für sein Musical „Jane Eyre“ geschrieben und es mehrfach inszeniert hatte. John Caird war als Sohn britischer Eltern 1948 in Kanada geboren worden und hatte als Regieassistent, Schauspieler und Musiker in zahlreichen Theaterstücken mitgewirkt, u. a. an der Royal Shakespeare Company. Als freischaffender Regisseur kann er mittlerweile auf eine beeindruckende Zahl von Schauspielen, Opern und Musicalproduktionen zurückblicken, die ihn mit renommierten Komponisten, Dirigenten und Darstellern zusammenbrachten. Daneben schrieb er eigene Stücke sowie Opern- und Musicallibretti – wie „Daddy Long Legs“. „Daddy Long Legs“ schrieb am 10. Dezember 2015 Geschichte, als die Inszenierung von John Caird mit Megan McGinnis (Jerusha Abbott) und ihrem Ehemann Adam Halpin (Jervis Pendleton) als erste Broadway bzw. Off-Broadway Show live im Internet übertragen wurde.

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“, Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott) und Gero Wendorff (Jervis Pendleton). © Sarah Jonek

Jerusha Abbott, ein 18-jähriges Waisenmädchen, erhält überraschend die Chance, das College zu besuchen, um Literatur zu studieren – zu Beginn des 20. Jahrhunderts in New England ein absolut ungewöhnlicher Vorgang, denn zum Studieren schickte man nur Jungen und wohlhabende „höhere Töchter“. Jerushas Gönner Jervis Pendleton möchte lieber unerkannt bleiben, als einzige Gegenleistung muss sie ihn monatlich in einem Brief über ihre Studienfortschritte informieren, darf aber seinen richtigen Namen nie erfahren, geschweige denn, ihn treffen. Da Jerusha nur einen Schatten von ihm gesehen hat, gibt sie ihrem Gönner im Scherz den Namen „Daddy Langbein“ (engl. „Daddy Long Legs“, Übersetzung für „Weberknecht“) und schreibt ihm fortan mit solch großem Charme, dass sich Jervis Pendleton genötigt sieht, seine eigenen Regeln zu hintergehen und seine Begünstigte unter dem Vorwand zu besuchen, sich mit seiner Nichte Julia zu treffen. Die Sommerferien verbringt Jerusha auf der Lock Willow Farm, wo sie ihr Talent als Schriftstellerin erkundet und herausfindet, dass Jervis Pendleton als Kind auf der Lock Willow Farm aufgewachsen ist. Sie kann diese Information aber noch nicht mit „Daddy Langbein“ in Verbindung bringen, während sich Jervis Pendleton frustriert fragt, ob er sich gegenüber Jerusha als ihr Gönner zu erkennen geben soll oder nicht, wobei ihm bewusst wird, dass er sich in sie verliebt. Im darauffolgenden Jahr bittet Jerusha in einem Brief an „Daddy Langbein“ darum, die Sommerferien mit ihrer Freundin Sallie McBride im Landhaus der McBrides in den Adirondack Mountains verbringen zu dürfen, doch sie soll die Sommerferien stattdessen wieder auf der Lock Willow Farm verbringen, weshalb Jerusha einen wütenden Brief als Antwort auf die herrschsüchtige Natur ihres Gönners schreibt. Jervis Pendleton kämpft dagegen mit sich, sich schließlich als „Daddy Langbein“ zu erkennen zu geben und seine Gefühle für Jerusha zu gestehen, da er glaubt, dass sie ihm seine Unaufrichtigkeit niemals verzeihen wird…

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“, Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott) und Gero Wendorff (Jervis Pendleton). © Sarah Jonek

Das Theater Bielefeld zeigt die Deutschsprachige Erstaufführung von „Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“ in der deutschen Bearbeitung von Marie-Luise Schottleitner (aktuell Studiengang Klassische Operette an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien; Jerusha Abbott in „Daddy Long Legs“, Österreichische Erstaufführung 14. Februar 2019, Theater im Neukloster, Wiener Neustadt, Regie Rita Sereinig) und Martin Fischerauer (aktuell Toni in „Der Opernball“, Volksoper Wien, Regie Axel Köhler) im intimen Loft. Das Loft bietet Platz für etwa 60 Zuschauer und ist der ideale Ort für kleine, außergewöhnliche Produktionen. „Daddy Long Legs“ wird häufig als Aschenputtel-Geschichte interpretiert, „Pygmalion und Galatea“ ist aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Es ist aus heutiger Sicht schon ein wenig befremdlich, dass Jerusha Abbott am Ende in die Ehe mit dem Mann einwilligt, der sie in den letzten Jahren manipuliert hat, ohne ihr gegenüber seine Identität preiszugeben. In jedem Fall ist es eine beredte Schilderung vom Heranwachsen einer jungen Frau und ihrem Streben nach Unabhängigkeit in einer Zeit, als Frauen gerade erst ihre Gleichberechtigung forderten, für die sie heute in weiten Teilen der Welt immer noch kämpfen. Jean Websters Briefroman umfasst 73 Briefe, die Off-Broadway Produktion von „Daddy Long Legs“ am Davenport Theatre 25 Szenen in zwei Akten. Folkwang-Alumnus Thomas Winter, der im Loft bereits „Songs for a New World (Lieder für eine neue Welt)“, „Zarah 47“, „The Last Five Years“ sowie „Empfänger unbekannt“ inszeniert hat, setzt in seiner Inszenierung von „Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“ auf eine stringente Erzählweise, mit dem ein oder anderen Strich bringt es die Produktion auf 1 Stunde 45 Minuten (lt. Programmfolder 1 Stunde 25 Minuten) Spieldauer, wobei ohne Pause gespielt wird. Das minimalistische Bühnenbild umfasst rechter Hand zwei schwarze Podeste mit einem Sekretär und einem Stuhl darauf, stellvertretend für Jervis Pendletons Domizil in Manhattan, linker Hand eine große Kiste mit unzähligen Büchern darin, in der in einer Szene auch die Darstellerin verschwindet, symbolisiert Jerusha Abbotts Welt, viel mehr braucht es auch nicht. Musical-Kapellmeister William Ward Murtha begleitet die beiden Darsteller großartig am Flügel, die vom Verlag zusätzlich vorgesehenen Instrumente Violoncello und Gitarre sind in Bielefeld gestrichen.

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“, Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott) und Gero Wendorff (Jervis Pendleton). © Sarah Jonek

Jeannine Michèle Wacker (Lauren in „Kinky Boots“, Operettenhaus Hamburg; Scaramouche in „We Will Rock You“), bekannt aus der Telenovela „Sturm der Liebe“, und Gero Wendorff (Fabrizio Naccarelli in „Das Licht auf der Piazza“, Landesbühnen Sachsen), zuletzt als Robert Martin in „Hochzeit mit Hindernissen (The Drowsy Chaperone)“ in Bielefeld zu sehen, sind die Protagonisten dieses herzerwärmenden Musicals. Was sonst bei der größeren Entfernung zur Bühne nicht so auffällt, im Loft war den Darstellern die Anspannung zumindest zu Beginn der Premiere anzumerken. Gero Wendorff porträtiert Jervis Pendleton sowohl glaubhaft aristokratisch als auch gleichermaßen überzeugend menschlich, während Jeannine Michèle Wacker als Jerusha Abbott ansprechend energisch, aber zu jeder Zeit höflich agiert. Durch die geringe Distanz zum Auditorium ist die durch die Mimik der Darsteller vortrefflich zum Ausdruck gebrachte jeweilige Gefühlslage der Figuren für die Zuschauer „hautnah“ mitzuerleben.

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“, Jeannine Michèle Wacker (Jerusha Abbott) und Gero Wendorff (Jervis Pendleton). © Sarah Jonek

„Daddy Langbein (Daddy Long Legs)“ ist in Bielefeld zu einer kleinen, feinen und sehenswerten Produktion geraten. Das Premierenpublikum war begeistert und spendete minutenlangen Stehapplaus. Folgevorstellungen sind am 30. November, am 2., 9. und 22. Dezember 2018 sowie am 14. und 18. Januar 2019 disponiert.

Kommentare