Schauspiel Essen: „Cabaret“

„Cabaret“ – nach dem Schauspiel „I am a Camera“ von John van Druten auf der Grundlage der Berliner Episoden-Romane „Mr. Norris Changes Trains“ (1935), „Goodbye to Berlin“ (1939) von Christopher Isherwood; Musik: John Kander; Gesangstexte: Fred Ebb; Buch: John Masteroff; Deutsche Bearbeitung: Robert Gilbert; Inszenierung: Reinhardt Friese; Choreografie: Stephan Brauer; Bühne: Günter Hellweg; Kostüme: Annette Mahlendorf; Lichtdesign: Michael Hälker; Sounddesign: Reinhard Dix, Markus Schmiedel; Dramaturgie: Vera Ring; Musikalische Leitung: Hajo Wiesemann. Darsteller: Jan Pröhl (Conférencier), Janina Sachau (Sally Bowles, Cabaretsängerin), Thomas Meczele (Clifford Bradshaw, Schriftsteller), Ingrid Domann (Fräulein Schneider, Pensionswirtin), Rezo Tschchikwischwili (Herr Schultz, Gemüsehändler), Marieke Kregel (Fräulein Kost, Pensionsgast), Stefan Diekmann (Ernst Ludwig, Nazi-Funktionär); „Kit-Kat-Club“-Girls: Alina Grzeschik (Rosie), Stefanie Köhm (Helga/„Two Ladies“), Florentine Kühne (Texas), Eva Löser (Lulu), Karen Müller (Hildegard), Miriam Anna Schwan (Fritzi/Gorilla-Mädchen/„Two Ladies“); „Kit-Kat-Club“-Boys: Philipp Nowicki (Bobby), Jan Rogler (Victor). „Kit-Kat-Club“-Band: Florian Esch (Trompete, Flügelhorn), Natalie Hausmann (Tenor-Saxophon, Flöte, Klarinette), Alex Morsey (Kontrabass, Tuba), Evgeny Ring (Alt-Saxophon, Flöte, Klarinette), Bastian Ruppert (Gitarre, Posaune, Banjo), Tobias Schütte (Posaune), Hajo Wiesemann (Klavier), Philipp Zdebel (Schlagzeug, Percussion). Uraufführung: 20. November 1966, Broadhurst Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 14. November 1970, Theater an der Wien, Wien. Premiere: 13. Dezember 2014, Grillo-Theater, Essen.



„Cabaret“


„Willkommen, Bienvenue, Welcome“ im Grillo-Theater


„Cabaret“ ist nach „Flora, the Red Menace“ (Premiere: 11. Mai 1965, Regie: George Abbott) – in der Liza Minnelli als Flora ihr Broadway Debüt gab – das zweite gemeinsame Werk des kongenialen Duos John Kander und Fred Ebb, und es sollte ihr größter Erfolg werden. Harold Prince hatte die Rechte an „I am a Camera“ von John van Druten auf der Grundlage der Berliner Episoden-Romane „Mr. Norris Changes Trains“ (1935) und „Goodbye to Berlin“ (1939) von Christopher William Bradshaw Isherwood erworben und adaptierte das bereits 1951 erfolgreich am Broadway aufgeführte und 1959 verfilmte Drama zum Musical. Er beauftragte John Masteroff mit der Bearbeitung des Stoffes, John Kander verfasste die Musik und Fred Ebb schrieb die Songtexte. „Cabaret“ feierte am 20. November 1966 seine Uraufführung am Broadhurst Theatre, wurde 1967 mit acht Tony Awards ausgezeichnet und in 1.165 regulären Vorstellungen bis 6. Oktober 1969 aufgeführt. Allein am Broadway gab/gibt es drei Revival-Produktionen (22. Oktober 1987 bis 4. Juli 1988, 19. März 1998 bis 4. Januar 2004 und 24. April 2014 bis 29. März 2015), am 9. Oktober 2012 feierte in London die vierte West End Revival Produktion am Savoy Theatre ihre Premiere. Als Rolf Kutschera „Cabaret“ am 14. November 1970 im Theater an der Wien als Deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne brachte, reagierten Presse und Publikum mit Ablehnung darauf, nationalsozialistische Verbrechen im Rahmen des unterhaltenden Musiktheaters darzustellen. Hilfreich dürfte sich die Verfilmung des Musicals in der Regie von Bob Fosse mit Liza Minnelli in der Rolle der Sally Bowles erwiesen haben, die 1972 in die Kinos kam und mit insgesamt acht Oscars ausgezeichnet wurde.

Thomas Meczele (Clifford Bradshaw) und Janina Sachau (Sally Bowles); Foto Birgit Hupfeld

Christopher Isherwood schildert in seinen Erzählungen seine Bekanntschaften und Erlebnisse während seines Aufenthalts in Berlin in den Jahren 1929 bis 1933. Eine seiner Episoden handelt von seiner Begegnung mit der britischen Schau­spielerin Jean Ross, die zu der Zeit als Nacht­klub­sängerin gearbeitet hat und der er den Namen Sally Bowles gab. Bereits im Schauspiel „I am a Camera“ lag der Fokus auf dieser Episode, das Musical übernimmt diesen und stellt ihm die erfundene Liebes­ge­schichte der Pensionswirtin Fräulein Schneider mit dem jüdischen Obsthändler Herr Schultz gegenüber. Für die Musicalfassung wurde der „Kit-Kat-Club“, ein anrüchiger Nachtclub, hinzugefügt, dessen Conférencier die Episoden zwischen Alltag und Nachtleben durch seine Kommentare zusammenführt. Das Musical reduziert den aufkommenden Nationalsozialismus zwar auf den Antisemitismus, dennoch schildert es eindringlich das Scheitern der Protagonisten an den gesellschaftlichen Umständen der damaligen Zeit.

Nach dem Theater Hagen (Inszenierung Thilo Borowczak, Premiere 1. September 2012), Theater Oberhausen (Inszenierung Roland Spohr, Premiere 26. Oktober 2012) und dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (Inszenierung Sandra Wissmann, Premiere: 15. September 2013) zeigt das Schauspiel Essen in Kooperation mit der Folkwang Universität der Künste ab 13. Dezember 2014 die vierte Produktion des Erfolgs-Musicals in Folge in der Metropole Ruhr. Im Zusammenhang mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 sicher kein schlecht gewählter Zeitpunkt, aber für die „Metropolen-Bewohner“ womöglich auch nicht besonders abwechslungs­reich. Doch offensichtlich ist eine derartig globale Orientierung lediglich ein Hirngespinst, Wunschtraum im Zusammenhang mit der „Kulturmetropole Ruhr“ oder der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Was nutzt die dichteste Theaterlandschaft Europas, wenn sie von innen überhaupt nicht wahrgenommen wird?

Rezo Tschchikwischwili (Herr Schultz) und Ingrid Domann (Fräulein Schneider); Foto Birgit Hupfeld

Der amerikanische Schriftsteller Clifford „Cliff“ Bradshaw fährt für Recherchen Ende 1929 nach Berlin und lernt im Zug den politisch engagierten Ernst Ludwig kennen. Auf dessen Empfehlung wendet er sich bei der Suche nach einer Bleibe an die Pensionswirtin Fräulein Schneider, die ihm schließlich mit der Miete entgegenkommt. Am Silvesterabend besucht Cliff den „Kit Kat Klub“, wo die britische Nachtclubsängerin Sally Bowles auftritt. Sally bittet Cliff später zu sich an den Tisch und lässt sich seine Adresse geben. Am nächsten Tag erscheint Sally unerwartet bei Cliff, der Ernst Ludwig Englisch-Unterricht erteilt. Noch bevor Cliff Einwände erheben kann, hat sich Sally mitsamt Gepäck bei ihm einquartiert und ihn überzeugt, wie wundervoll alles sein wird. Im „Kit Kat Klub“ kommentiert der Conférencier mit seiner großen Nummer „Two Ladies“ die ungewöhnlichen Lebens­umstände von Cliff und Sally. Herr Schultz, ein älterer, jüdischer Obst- und Gemüsehändler, der ebenfalls in der Pension am Nollen­dorf­platz wohnt, hofiert Fräulein Schneider. Derweil deuten sich erste Tendenzen des Nationalsozialismus an. Monate später wohnt Sally immer noch mit Cliff zusammen, und sie eröffnet ihm, dass sie ein Kind erwartet. Um Geld zu verdienen, nimmt Cliff das von Ernst Ludwig unterbreitete Angebot an, Devisen von Paris nach Berlin zu schmuggeln. Als Fräulein Kost, Cliffs freizügige Nachbarin, die zuvor wegen häufiger Männerbesuche von Fräulein Schneider gerügt wurde, Herrn Schultz beim Verlassen des Zimmers der Pensionswirtin ertappt, versucht dieser die Ehre von Fräulein Schneider zu retten, indem er ankündigt, sie in drei Wochen heiraten zu wollen. Bei der Verlobungsfeier singt Herr Schultz im Überschwang ein jiddisches Lied, woraufhin Ernst Ludwig, der nun eine Hakenkreuz-Armbinde trägt, augenblicklich die Feier verlässt, nicht ohne Fräulein Schneider zuvor vor den Konsequenzen der Hochzeit mit einem Juden gewarnt zu haben. Die nationalsozialistischen Tendenzen werden immer deutlicher: Der erste Stein fliegt in das Fenster von Herrn Schultz´ Obst- und Gemüseladen, und Fräulein Schneider löst aus Angst ihre Verlobung mit Herrn Schultz. Der Conférencier stellt im „Kit Kat Klub“ sein „Mädchen“ vor, einen Gorilla, sein Song endet mit den Worten „if you could see her through my eyes … she wouldn´t look Jewish at all.“/„säht ihr sie mit meinen Augen, dann würde sie gar nicht so jüdisch aus­se­hen.“ Cliff möchte mit der schwangeren Sally nach Amerika zurückkehren, doch sie träumt weiter von ihrer Karriere als Showgirl beim Cabaret. Am nächsten Morgen packt Cliff seine Koffer, als Sally ohne ihren Pelzmantel zurückkehrt und erklärt, dass sie ihre Schwangerschaft abbrechen lassen hat. Cliff gibt ihr wut­ent­brannt eine Ohrfeige, hinterlässt ihr aber eine Zugfahrkarte, für den Fall, dass sie sich doch noch entschließen sollte, mit ihm gemeinsam nach Amerika zu fahren. Er verlässt Berlin und man hört noch einmal die Stimmen von Sally, Fräulein Schneider, Herrn Schultz und den anderen, die im Dunkeln verschwinden.

Jan Pröhl (Conférencier) und die „Kit-Kat-Club“-Girls Stefanie Köhm (Helga) und Miriam Anna Schwan (Fritzi); Foto Birgit Hupfeld

Nach „Shockheaded Peter“ (Premiere 16. Oktober 2010) und „The Black Rider“ (Premiere 3. Dezember 2011) hat Reinhardt Friese, seit der Spielzeit 2012/2013 Intendant des Städtebundtheaters Hof, gemeinsam mit dem identischen Kreativteam „Cabaret“ am Grillo-Theater inszeniert. Offensichtlich hat er Gefallen an der rauen Art gefunden, denn er wollte, dass seine Musical-Fassung „ein bisschen rauher, ein bisschen dreckiger, ein bisschen mehr „Tom Waits“ als großer Broadway wird.“ (Programmheft Schauspiel Essen, Dezember 2014). Glücklicherweise klingt „Cabaret“ auch in seiner Strichfassung in Essen eher nach John Kander/Fred Ebb (und in einem Fall nach Abraham „Abe“ Ellstein), und weniger nach Tom Waits, und ob die Situation der Menschen zur Zeit der Weltwirtschaftkrise und deren Scheitern an den gesellschaftlichen Umständen bei Tom Waits besser aufgehoben wäre als bei John Kander/Fred Ebb, mag jeder für sich selbst entscheiden. Mit seinem Bühnenbildentwurf, in dem es weder ein heruntergekommenes Berliner Nachtlokal noch Fräulein Schneiders Pension am Nollendorfplatz gibt, sieht Günter Hellweg von einer realistischen Darstellung der Schauplätze ab und stellt stattdessen einen großen Zylinder auf die Bühne, in dem es Treppen mit integrierten Glasbausteinen gibt, als Zeichen für Berlin, ein durch Glühlampen gesäumter Steg über den Orchestergraben und die „Show-Treppe“ stellen bei angehobenem Zylinder die Bühne des „Kit Kat Klubs“ dar, ein paar Stühle symbolisieren bei auf die Bühne abgesenktem Zylinder ein Zugabteil und die Pension am Nollendorfplatz. Ein Scheinwerfer hinter dem Zylinder sorgt in Kombination mit den Öffnungen in selbigem für interessante Lichteffekte (Lichtdesign Michael Hälker), blendet die Zuschauer bei ungünstigem Blickwinkel allerdings auch beträchtlich. Annette Mahlendorf hat eine zeitgemäße Kostümauswahl getroffen, mit sexy Dessous unterstreicht sie die ausgelassene Atmosphäre im verruchten „Kit-Kat-Club“. Sally Bowles trägt außerhalb des „Kit-Kat-Clubs“ einen hellen Hosenanzug, der tatsächlich in den 1930er-Jahren aufkam, aber nur von einigen Künstlerinnen wie Marlene Dietrich getragen wurde. Erst Ende der 1960er-Jahre wurden Frauenhosen gesellschaftlich akzeptiert und der Hosenanzug für Damen kam in Mode. Hajo Wiesemann führt seine achtköpfige Band als Musikalischer Leiter am Flügel mit Verve durch die facettenreiche Partitur in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker.

Stefan Diekmann (Ernst Ludwig), Janina Sachau (Sally Bowles) und Thomas Meczele (Clifford Bradshaw); Foto Birgit Hupfeld

Die Hauptrollen sind am Grillo-Theater vollständig aus dem Schauspiel-Ensemble besetzt, die von zwei ehemaligen Studierenden und sechs Studierenden im Studiengang Musical der Folkwang Universität der Künste als „Kit-Kat-Club“-Girls und -Boys unterstützt werden. Jan Pröhl ist in der Rolle des diabolischen Conférenciers als aalglatte Adolf Hitler-Karikatur während der gesamten Handlung allgegenwärtig, zuweilen lediglich als Beobachter, dann schlüpft er auch schon mal in eine andere Rolle, die für den weiteren Fortgang der Handlung entscheidend ist, um beispielweise als Beamter des Zollgrenzdienstes die Ein- und Ausreise zu kontrollieren. Janina Sachau besticht mit ihrer emotionalen Darstellung des Möchtegern-Starlets Sally Bowles, deren Welt das Cabaret ist, sowohl gesanglich, um die bekannten Ohrwürmer wie „Cabaret“ oder „Mein Herr“ zur Geltung zu bringen, auch tänzerisch macht sie neben den „Kit-Kat-Club“-Girls und -Boys eine gute Figur. Thomas Meczele überzeugt als sympathischer, bislang erfolgloser Schriftsteller Clifford Bradshaw. Ingrid Domann (Fräulein Schneider) und Rezo Tschchikwischwili (Herr Schultz) haben als älteres Liebespaar mit überzeugendem Schauspiel bewegende Momente. Ingrid Domann, die bereits als 17-jähriges Mädchen in der Verfilmung des Musicals in der Regie von Bob Fosse als junges Zimmermädchen für 100 Deutsche Mark Gage mitgespielt hat, legt ihre Rolle gegenüber Herrn Schultz betont distanziert an, so dass es überhaupt nicht überrascht, dass Fräulein Schneider später ihre Verlobung wieder löst. Rezo Tschchikwischwili kann in der Rolle des jüdischen Obst- und Gemüsehändlers besonders mit dem jiddischen Song „Abi gezunt“ („So lang Du gesund bist“, von Abraham Ellstein für den jiddischen Film „Mamele“ (1938) geschrieben, Lyrics Molly Picon) begeistern, der ihn bei der Verlobungsfeier als Juden zu erkennen gibt und in Essen den Song „Meeskite“/„Miesnick“ ersetzt. In den weiteren Hauptrollen sind Stefan Diekmann als politisch engagierter Ernst Ludwig und Marieke Kregel als Fräulein Kost zu sehen, die ihre „vaterländische Pflicht erfüllt“. Die Studierenden im zweiten Jahrgang des Studiengangs Musical Alina Grzeschik (Rosie), Florentine Kühne (Texas), Eva Löser (Lulu), Karen Müller (Hildegard), Philipp Nowicki (Bobby) und Jan Rogler (Victor) sowie Stefanie Köhm (Helga) und Miriam Anna Schwan (Fritzi/Gorilla-Mädchen), die bereits im Dezember 2010 bzw. Februar 2012 ihr Musical-Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen abgeschlossen haben, überzeugen in den Ensembleszenen im „Kit-Kat-Club“, wobei Stephan Brauer in seinen Choreografien auf Anspielungen auf den charakteristischen Tanzstil von Bob Fosse verzichtet hat.

Das Premierenpublikum bedachte Darsteller und Kreative nach gut zweieinviertelstündiger Vorstellung mit lang anhaltendem Applaus. „Cabaret“ steht am Grillo-Theater bis zum 5. Juni 2015 auf dem Spielplan.

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