Musiktheater im Revier: „Cabaret“

„Cabaret“ – nach dem Schauspiel „I am a Camera“ von John van Druten auf der Grundlage der Berliner Episoden-Romane „Mr. Norris Changes Trains“ (1935), „Goodbye to Berlin“ (1939) von Christopher Isherwood; Musik: John Kander; Gesangstexte: Fred Ebb; Buch: John Masteroff; Deutsche Bearbeitung: Robert Gilbert; Inszenierung: Sandra Wissmann; Choreografie: Sean Stephens; Bühne: Dirk Becker; Kostüme: Uta Meenen; Dramaturgie: Anna Grundmeier; Musikalische Leitung: Wolfgang Wilger. Darsteller: E. Mark Murphy (Conférencier), Judith Jakob (Sally Bowles), Alen Hodzovic (Clifford Bradshaw), Christa Platzer (Fräulein Schneider), Joachim Gabriel Maaß/Klaus Brantzen (Herr Schultz), Jeanette Claßen (Fräulein Kost), Michael Dahmen/Vasilios Manis (Ernst Ludwig), Isabell Classen (Helga), Daniela Günther (Rosie), Theano Makariou/Tina Podstawa (Lulu), Julia Schukowski (Frenchie), Stefan Preuth (Hermann/Max), Markus Schneider/Frank Wöhrmann (Bobby), Nico Stank (Victor), Felix Fröhlich/Nicolas Groß/Jan Christoph Meier/Nico Schlutt (Sohn von Fräulein Kost). Uraufführung: 20. November 1966, Broadhurst Theatre, New York City. Deutsch­sprachige Erstaufführung: 14. November 1970, Theater an der Wien, Wien. Premiere: 15. September 2013, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Kleines Haus.



„Cabaret“


„Willkommen, Bienvenue, Welcome“ im „Kit Kat Klub“ aka Kleines Haus


Werbung über dem Eingang zum Kleinen Haus

„Cabaret“ ist nach „Flora, the Red Menace“ (Premiere: 11. Mai 1965, Regie: George Abbott) – in der Liza Minnelli als Flora ihr Broadway Debüt gab – das zweite gemeinsame Werk des kongenialen Duos John Kander und Fred Ebb, und es sollte ihr größter Erfolg werden. Harold Prince hatte die Rechte an „I am a Camera“ von John van Druten auf der Grundlage der Berliner Episoden-Romane „Mr. Norris Changes Trains“ (1935) und „Goodbye to Berlin“ (1939) von Christopher William Bradshaw Isherwood erworben und adaptierte das bereits 1951 erfolgreich am Broadway aufgeführte und 1959 verfilmte Drama zum Musical. Er beauftragte John Masteroff mit der Bearbeitung des Stoffes, John Kander verfasste die Musik und Fred Ebb schrieb die Songtexte. „Cabaret“ feierte am 20. November 1966 seine Uraufführung am Broadhurst Theatre, wurde 1967 mit acht Tony Awards ausgezeichnet und in 1.165 regulären Vorstellungen bis 6. Oktober 1969 aufgeführt. Allein am Broadway gab es zwei Revival-Produktionen (22. Oktober 1987 bis 4. Juli 1988 und 19. März 1998 bis 4. Januar 2004), am 9. Oktober diesen Jahres feierte in London die vierte West End Revival Produktion am Savoy Theatre ihre Premiere. Als Rolf Kutschera „Cabaret“ am 14. November 1970 im Theater an der Wien als Deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne brachte, reagierten Presse und Publikum mit Ablehnung darauf, nationalsozialistische Verbrechen im Rahmen des unterhaltenden Musiktheaters darzustellen. Hilfreich dürfte sich die Verfilmung des Musicals in der Regie von Bob Fosse mit Liza Minnelli in der Rolle der Sally Bowles erwiesen haben, die 1972 in die Kinos kam und mit insgesamt acht Oscars ausgezeichnet wurde.

Alen Hodzovic (Clifford Bradshaw), Michael Dahmen (Ernst Ludwig) und E. Mark Murphy (Conférencier), Foto Pedro Malinowski

Christopher Isherwood schildert in seinen Erzählungen seine Bekanntschaften und Erlebnisse während seines Aufenthalts in Berlin in den Jahren 1929 bis 1933. Eine seiner Episoden handelt von seiner Begegnung mit der britischen Schau­spielerin Jean Ross, die zu der Zeit als Nacht­klub­sängerin gearbeitet hat und der er den Namen Sally Bowles gab. Bereits im Schauspiel „I am a Camera“ lag der Fokus auf dieser Episode, das Musical übernimmt diesen und stellt ihm die erfundene Liebes­ge­schichte der Pensionswirtin Fräulein Schneider mit dem jüdischen Obsthändler Herr Schultz gegenüber. Für die Musicalfassung wurde der „Kit-Kat-Club“, ein anrüchiger Nachtclub, hinzugefügt, dessen Conférencier die Episoden zwischen Alltag und Nachtleben durch seine Kommentare zusammenführt. Das Musical reduziert den aufkommenden Nationalsozialismus zwar auf den Antisemitismus, dennoch schildert es eindringlich das Scheitern der Protagonisten an den gesellschaftlichen Umständen der damaligen Zeit.

Kit Kat Girls und Boys, Foto Pedro Malinowski

Der amerikanische Schriftsteller Clifford „Cliff“ Bradshaw fährt für Recherchen Ende 1929 nach Berlin und lernt im Zug den politisch engagierten Ernst Ludwig kennen. Auf dessen Empfehlung wendet er sich bei der Suche nach einer Bleibe an die Pensionswirtin Fräulein Schneider, die ihm schließlich mit der Miete entgegenkommt. Am Silvesterabend besucht Cliff den „Kit Kat Klub“, wo die britische Nachtclubsängerin Sally Bowles auftritt. Sally bittet Cliff später zu sich an den Tisch und lässt sich seine Adresse geben. Am nächsten Tag erscheint Sally unerwartet bei Cliff, der Ernst Ludwig Englisch-Unterricht erteilt. Noch bevor Cliff Einwände erheben kann, hat sich Sally mitsamt Gepäck bei ihm einquartiert und ihn überzeugt, wie wundervoll alles sein wird. Im „Kit Kat Klub“ kommentiert der Conférencier mit seiner großen Nummer „Two Ladies“ die ungewöhnlichen Lebens­umstände von Cliff und Sally. Herr Schultz, ein älterer, jüdischer Obst- und Gemüsehändler, der ebenfalls in der Pension am Nollen­dorf­platz wohnt, hofiert Fräulein Schneider. Derweil deuten sich erste Tendenzen des Nationalsozialismus an. Monate später wohnt Sally immer noch mit Cliff zusammen, und sie eröffnet ihm, dass sie ein Kind erwartet. Um Geld zu verdienen, nimmt Cliff das von Ernst Ludwig unterbreitete Angebot an, Devisen von Paris nach Berlin zu schmuggeln. Als Fräulein Kost, Cliffs freizügige Nachbarin, die zuvor wegen häufiger Männerbesuche von Fräulein Schneider gerügt wurde, Herrn Schultz beim Verlassen des Zimmers der Pensionswirtin ertappt, versucht dieser die Ehre von Fräulein Schneider zu retten, indem er ankündigt, sie in drei Wochen heiraten zu wollen. Bei der Verlobungsfeier denunziert Fräulein Schneider aus Rache Herrn Schultz bei Ernst Ludwig, der nun eine Hakenkreuz-Armbinde trägt, woraufhin dieser augenblicklich die Feier verlässt, nicht ohne Fräulein Schneider zuvor vor den Konsequenzen der Hochzeit mit einem Juden gewarnt zu haben.

Judith Jakob (Sally Bowles), Foto Pedro Malinowski

Die nationalsozialistischen Tendenzen werden immer deut­licher. Der erste Stein fliegt in das Fenster von Herrn Schultz´ Obst- und Gemüseladen, und Fräulein Schneider löst aus Angst ihre Verlobung mit Herrn Schultz. Der Conférencier stellt im „Kit Kat Klub“ sein „Mädchen“ vor, einen Gorilla, sein Song endet mit den Worten „if you could see her through my eyes … she wouldn´t look Jewish at all.“/„säht ihr sie mit meinen Augen, dann würde sie gar nicht so jüdisch aus­se­hen.“ Cliff möchte mit der schwangeren Sally nach Amerika zurückkehren, doch sie träumt weiter von ihrer Karriere als Showgirl beim Cabaret. Als Cliff ihr in den „Kit Kat Klub“ folgt, wird er von Ernst Ludwigs Nazi-Freunden zusammen­ge­schla­gen. Am nächsten Morgen packt Cliff seine Koffer, als Sally ohne ihren Pelzmantel zurückkehrt und erklärt, dass sie ihre Schwangerschaft abbrechen lassen hat. Cliff gibt ihr wut­ent­brannt eine Ohrfeige, hinterlässt ihr aber eine Zugfahrkarte, für den Fall, dass sie sich doch noch entschließen sollte, mit ihm gemeinsam nach Amerika zu fahren. Er verlässt Berlin und hört im Abteil seines Zuges noch einmal die Stimmen von Sally, Fräulein Schneider, Herrn Schultz und den anderen, die im Dunkeln verschwinden.

Theano Makariou (Lulu), E. Mark Murphy (Conférencier) und Stefan Preuth (Hermann), Foto Pedro Malinowski

Nach dem Theater Hagen (Premiere 1. September 2012, Regie Thilo Borowczak) und dem Theater Oberhausen (Premiere 26. Oktober 2012, Regie Roland Spohr) zeigt das Musiktheater im Revier die dritte „Cabaret“-Inszenierung in der Metropole Ruhr innerhalb nur eines Jahres, wobei die Oberhausener Produktion in der Spielzeit 2013/2014 ebenfalls wiederaufgenommen wird. Das Musiktheater im Revier zeigt „Cabaret“ als erste Premiere der Spielzeit 2013/2014 am Kleinen Haus, das für die gesamte Spielzeit in ein Cabaret umgestaltet wurde. Bühnenbildner Dirk Becker hat das gesamte Kleine Haus in den Berliner „Kit Kat Klub“ verwandelt, mitsamt Bistro-Tischen im Parkett, an denen Speisen und Getränke serviert werden. Fast ein wenig zu nobel ausgestattet für ein heruntergekommenes Berliner Nachtlokal Ende der 1920er Jahre, vermittelt das Ambiente aber dennoch wirkungsvoll den gewünschten Eindruck. Eine heruntergekommene „Backsteinwand“ an der rechten Seite im Zuschauerraum zeugt auffällig davon, dass dieser Klub wohl schon bessere Tage gesehen hat. Auf der ursprünglichen Bühne genügen einige Versatzstücke, um den jeweiligen Handlungsort einzelner Szenen wie Fräulein Schneiders Pension am Nollendorfplatz zu versinnbildlichen. Sandra Wissmann, die auch bei „Die Comedian Harmonists“ am Kleinen Haus Regie führte, hat die Handlung komplett in den „Kit Kat Klub“ verlegt, wobei nicht nur auf der Bühne, sondern auch inmitten der Zuschauer gespielt wird und die Zuschauer in die Handlung mit einbezogen werden. „Mittendrin statt nur dabei“ lautet die Devise. Das Konzept ist nicht neu, bereits im Broadway-Revival mit Alan Cumming als Master of Ceremonies, Natasha Richardson als Sally Bowles und John Benjamin Hickey als Clifford Bradshaw (Premiere 19. März 1998) im mit intimen Tischchen statt der herkömmlichen Broadway-Theatersessel zum „Kit Kat Club“ umgebauten Henry Miller Theater spielte die gesamte Handlung unter der Regie von Sam Mendes im „Kit Kat Club“, und auch Alexander Balga wusste in seiner Inszenierung im Capitol Theater Düsseldorf mit Anna Montanaro als Sally Bowles und Nik Breidenbach als Conférencier (Premiere 4. Dezember 1999) das intime Ambiente des Clubs in dem ehemaligen Straßenbahndepot zu nutzen. Das Konzept funktionierte schon immer gut, keine Frage, sonst hätte es das Broadway-Revival von 1998 wohl kaum auf 2.377 Vorstellungen gebracht, und niemand wäre auf die Idee gekommen, ein weiteres Revival im Studio 54 mit Alan Cumming als Master of Ceremonies und Michelle Williams als Sally Bowles für 2014 (Premiere 24. April 2014, Regie Sam Mendes) anzukündigen.

Michael Dahmen (Ernst Ludwig), Christa Platzer (Fräulein Schneider) und Joachim Gabriel Maaß (Herr Schultz), Foto Pedro Malinowski

Glücklicher Fügung oder dem Wunschdenken von Generalintendant Michael Schulz ist es zu verdanken, dass „Cabaret“ am Musiktheater im Revier im intimen Rahmen des Kleinen Hauses aufgeführt wird, und sich das Kreativteam um Sandra Wissmann eben jenes Broadway-Revival in der Regie von Sam Mendes als Vorlage gewählt hat – auch wenn diese Formulierung des offensichtlichen Sachverhalts dem ein oder anderen sicher nicht gefallen wird und die Kreativen diese Inszenierung womöglich gar nicht gesehen haben, immerhin liegt sie bereits 15 Jahre zurück. Als neuen Aspekt stellt Sandra Wissmann Fräulein Kost einen kleinen Sohn zur Seite, der noch vor Beginn der eigentlichen Vorstellung hilflos nach seiner Mutter sucht, um am Ende in der Uniform der Hitlerjugend den Vorhang des „Kit Kat Clubs“ zu schließen und damit aus­drucks­voll und zutiefst verstörend die national­sozialistische Terrorherrschaft zu allegorisieren. Sean Stephens („Jonas & Madelaine“, Kultur- und Kongresszentrum Luzern, „Cabaret“, Le Théâtre Kriens-Luzern, „Der Zauberer von Oss“, Theater Chemnitz) zeichnet in Gelsenkirchen für die Choreografie verantwortlich, wobei die ausgelassenen Tänze im „Kit Kat Klub“ mit Anleihen bei Charleston und Swing und Anspielungen auf Bob Fosse besonders gefallen. Wolfgang Wilger führt seine Band als Musikalischer Leiter am Flügel und Keyboard mit Verve durch die facettenreiche Partitur in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker, unglücklicherweise wurde am Premierenabend die Band krankheitsbedingt auch noch um den vorgesehenen Posaunisten reduziert.

Jeanette Claßen (Fräulein Kost) und Nicolas Groß (ihr Sohn), Foto Pedro Malinowski

Der klassisch ausgebildete kanadische Tenor E. Mark Murphy ist als androgyner, diabolischer Conférencier während der gesamten Handlung allgegenwärtig, zuweilen lediglich als Beobachter, dann schlüpft er auch schon mal in eine andere Rolle, die für den weiteren Fortgang der Handlung entscheidend ist, um beispielweise als Beamter des Zollgrenzdienstes die Ein- und Ausreise zu kontrollieren. Da es im Ensemble lediglich drei Kit Kat Boys gibt, aber vier Kit Kat Girls, sah sich E. Mark Murphy unversehens der Herausforderung gegenübergestellt, bei sämtlichen Tanzchoreografien im „Kit Kat Klub“ vollständig involviert zu sein, die er mit Bravour gemeistert hat. Judith C. Jakob hat Generalintendant Michael Schulz bereits bei einer Audition für „My fair Lady“ (Premiere 30. Januar 2010, Regie Peter Hailer) überzeugt, die ideale Besetzung für die Rolle der Sally Bowles zu sein, zwischenzeitlich hatte sie diese Rolle schon am Opernhaus Wuppertal (Premiere 12. Dezember 2009, Regie Werner Pichler) gespielt, und nun kann sie mit ihrer emotionalen Darstellung des Möchtegern-Starlets, deren Welt das Cabaret ist, erneut auch das Publikum in Gelsenkirchen von ihren Qualitäten überzeugen. Alen Hodzovic hat die Rolle des Amerikaners Clifford Bradshaw bereits mehrfach gespielt, bei den Burgfestspielen Bad Vilbel (Premiere 4. Juni 2009, Regie Egon Baumgarten) und im Zeltpalast Merzig (Premiere 9. August 2013, Regie Holger Hauer), als sympathischer Schriftsteller kann er Sally Bowles unmittelbar bei ihrem ersten Zusammentreffen beeindrucken, indem er das Gedicht „Dover Beach“ von Matthew Arnold rezitiert. Cliff war bisher kein erfolgreicher Schriftsteller, noch scheint er je die Chance zu haben, ein solcher zu werden. Nur zu bereitwillig lässt er sich von Sally Bowles zu einer Affäre verführen, und gerät beinahe mit in den Strudel des Untergangs der Weimarer Republik, bevor ihm schließlich durch Ernst Ludwigs nicht zu übersehende Hakenkreuz-Armbinde der Ernst der Lage bewusst wird. Christa Platzer (Fräulein Schneider) und Joachim Gabriel Maaß (Herr Schultz) haben als älteres Liebespaar bewegende Momente, auch an den gesanglichen Qualitäten kann bei den Mitgliedern des Musiktheaterensembles am MiR kein Zweifel bestehen. Wie schon bei den Revival-Produktionen am Broadway wurde auch in Gelsenkirchen der Song „Miesnick“/„Meeskite“ von Herrn Schultz gestrichen, dafür sind die für den Film komponierten Songs „Mein Herr“, „Money, Money“ und „Maybe this time“ in die Handlung integriert. Auch das übrige Ensemble ist mit qualifizierten Darstellern – in den meisten Fällen erfahrene Musicaldarsteller – erstklassig besetzt. Stellvertretend seien hier Jeanette Claßen als Fräulein Kost, Michael Dahmen in der Rolle des Nazi-Funktionärs Ernst Ludwig und Stefan Preuth genannt, der neben seiner Rolle als Kit Kat Boy auch noch als aufbrausender Boß des „Kit Kat Klubs“ Max auf sich aufmerksam machen kann.

Ensemble, Foto Pedro Malinowski

Mit „Cabaret“ ist dem Musiktheater ein glänzender Auftakt in die neue Spielzeit gelungen, nach über dreistündiger Premiere einschließlich Pause wurden sowohl Darsteller als auch das Kreativteam mit frenetischem Beifall gefeiert. Bis zum 5. Juli 2014 stehen insgesamt 40 Vorstellungen auf dem Spielplan.

Joachim Gabriel Maaß und Christa Platzer bei der Premierenfeier

Alen Hodzovic und Judith Jakob bei der Premierenfeier

Alen Hodzovic, Judith Jakob und E. Mark Murphy bei der Premierenfeier

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