Wiederaufnahme „Chicago – Ein Musical-Vaudeville“ am Opernhaus Bonn


„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“ – nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Maurine Dallas Watkins (1926); Musik: John Kander; Liedtexte: Fred Ebb; Buch: Fred Ebb, Bob Fosse; Deutsche Übersetzung: Erika Gesell, Helmut Baumann, nach der Broadwayneufassung von 1996; Original-Inszenierung und -Choreografie: Bob Fosse; Inszenierung: Gil Mehmert; Choreografie: Jonathan Huor; Bühne: Jens Kilian; Kostüme: Falk Bauer; Licht: Boris Kahnert; Sounddesign: Stephan Mauel; Regieassistenz: Sandra Wissmann; Musikalische Leitung: Jürgen Grimm. Darsteller: Bettina Mönch/Rachel Marshall (Velma Kelly), Elisabeth Hübert (Roxie Hart, Möderinnen), Enrico de Pieri/Florian Sigmund/Volker Metzger (Amos Hart, Roxies Mann), Dionne Wudu (Matron „Mama“ Morton, Gefängnisaufseherin), Anton Zetterholm (William „Billy“ Flynn, Rechtsanwalt), Victor Petersen (Mary Sunshine, Reporterin), Yara Hassan (Go-to-Hell Kitty/Annie und Reporter; choreograf. Assistenz , Dance Captain), Tim Hüning (Fred Casely/Quartett/Besitzer/Reporter), Robert Johansson/Gregory Antemes (Sergeant Fogarty/Richter/Uncle Sam/Reporter), Adrian Hochstrasser/Samuel Ismail Türksoy (Arzt/Martin Harrison/Quartett/Reporter), Lukas Mayer/Gregory Antemes (Anwalt Aaron/Assistent/Reporter), Nico Hartwig (Harry/Polizist/Aufseher/Reporter/Quartett), Adriano Sanzo (Polizist/Aufseher/Quartett/Gerichtsdiener/Reporter), Florentine Kühne (Mona und Reporter), Esther Mink (Liz und Reporter), Tanja Schön/N. N. (June und Reporter), Rachel Marshall/Lauren Mayer (Hunyak und Reporter). Band: Marcus Bartelt, Naomi Binder, Matthias Jahner, Clive Fenton, Miho Mach, Rolf Marx, Andy Pilger, Martin Schäfer, Wolf Schenk, Philipp Schittek, Jan Schneider, Frank Wiesen, Malte Winter. Uraufführung: 3. Juni 1975, 46th Street Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 21. Mai 1977, Thalia-Theater, Hamburg. West-End-Premiere: 10. April 1979, Cambridge Theatre, London. Broadway Revival Premiere: 14. November 1996, Richard Rodgers Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung der Broadwayneufassung: 23. September 1998, Theater an der Wien, Wien. Deutsche Erstaufführung der Broadwayneufassung: 25. September 1999, Theater des Westens, Berlin. Premiere: 29. August 2021, Wiederaufnahme 19. August 2022, Theater Bonn, Opernhaus, Bonn.



„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“


Wiederaufnahme zum Saisonstart am Opernhaus Bonn


Oper Bonn

1926 schrieb Maurine Dallas Watkins, Reporterin beim Chicago Tribune, das Bühnenstück „Chicago“, das auf der wahren Geschichte zweier Mordfälle im Jahr 1924 beruht: Die Nachtclubsängerin Beulah May Annan (* 18. November 1899 in Owensboro, Kentucky, † 10. März 1928 in Chicago, Illinois), die für die Figur der Roxie Hart Pate stand, hat am 3. April 1924 ihren Liebhaber Harry Kalstedt erschossen, als dieser sie verlassen wollte. Belva Gaertner (* 14. September 1884 in Litchfield, Illinois, † 14. Mai 1965 in Pasadena, California) inspirierte die Reporterin zur Figur der Velma Kelly, die Rechtsanwälte William Scott Stewart und William W. O´Brien dienten als Vorlage für Billy Flynn. Bob Fosse gelang 1975 mit „Chicago“ ein zeitloses Musical, das auf den ersten Blick verführerisch wirkt, dahinter aber eine Geschichte bietet, die mit bissigem Humor dem American Way of Life und insbesondere dem mitunter korrupten Rechtssystem der USA den Spiegel vorhält.

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Dionne Wudu (Matron „Mama“ Morton), Anton Zetterholm (William „Billy“ Flynn) und Bettina Mönch (Velma Kelly), Ensemble. © Thilo Beu

1996 wurde John Kanders grandiose Partitur für eine konzertante Aufführung im Rahmen der Encores!-Serie des New York City Centers wiederentdeckt und an den Broadway transferiert (Premiere 14. November 1996, Richard Rodgers Theatre), wo ein hochkarätiges Ensemble mit Bebe Neuwirth (Velma Kelly), Ann Reinking (Roxie Hart), James Naughton (Billy Flynn), Marcia Lewis (Mama Morton), Joel Grey (Amos Hart) und David Sabella-Mills (Mary Sunshine) und die an Bob Fosses Original angelehnte, aber von Ann Reinking noch verfeinerte und erotisch aufgeladene Choreografie dazu beitrugen, dass „Chicago“ 1997 mit sechs Tony Awards ausgezeichnet wurde. Mit seinem Glamour, der zeitlosen Geschichte, dem bissigen Humor, der weltbekannten Musik und natürlich den aufregenden Tanzszenen bringt es alles mit, was ein klassisches Broadway-Musical auszeichnet. Die Produktion wurde im Februar 1997 an das Shubert Theatre und schließlich im Januar 2003 an das Ambassador Theatre transferiert, wo am 14. August 2022 die 10.054. Vorstellung über die Bühne ging. Bereits seit 29. August 2021 bekommen auch die Zuschauer in Bonn das Stück über Mord, Habgier, Korruption, Gewalt, Ausbeutung, Ehebruch und Verrat zu sehen, „Dinge also, die unseren Herzen lieb und teuer sind.“

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Bettina Mönch (Velma Kelly). © Thilo Beu

Chicago in den späten 1920er-Jahren: Die Nachtclubsängerin Roxie Hart ermordet im Affekt ihren Liebhaber Fred Casley, als er sie verlassen will. Im Cook-County-Gefängnis lernt sie die korrupte Oberaufseherin Mama Morton und Velma Kelly kennen. Velma, ebenfalls Tänzerin und dank der Hilfe von Mama Morton als „Mörderin der Woche“ ein Medienstar, plant die Fortsetzung ihrer Karriere nach ihrer Freilassung. Hierfür soll sie der durchtriebene Staranwalt Billy Flynn aus dem Gefängnis boxen, der allerdings gleiches auch für Roxie plant. Es beginnt ein undurchsichtiges Dreiecksspiel, bei dem die beiden Tänzerinnen um die Gunst Billy Flynns buhlen. Als dann die Boulevardjournalistin Mary Sunshine dafür sorgt, dass Roxie als „Jazz-Mörderin“ zum Medienstar wird, beginnt ein Verwirrspiel aus Tricks, Lügen und Eifersucht. Doch werden die Tänzerinnen mit Hilfe der Medien wieder ihre Freiheit zurückgewinnen und damit Ruhm und Reichtum erlangen?

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Victor Petersen (Mary Sunshine). © Thilo Beu

Nach dem aktuellen Hygienekonzept des Theaters Bonn sollen alle Vorstellungen im Opernhaus mit vollständigem Sitzplatzangebot stattfinden, eine Maskenpflicht gibt es nicht. Auf der anderen Seite liegt die 7-Tage-Inzidenz in Nordrhein-Westfalen landesweit bei knapp 400 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen, was durchaus Auswirkungen auf das Kaufverhalten des Publikums zu haben scheint. Um nicht vor halb leeren Rängen zu spielen, werden Tickets für die ersten drei „Chicago“-Vorstellungen in der Spielzeit 2022/23 zum halben Preis angeboten. Dennoch ist die Auslastung bei weitem nicht so hoch wie in der Zügen des Personennahverkehrs aufgrund des 9-Euro-Tickets. Im Auditorium halten sich die wenigsten Zuschauer an die Empfehlung des Theaters Bonn, einen medizinischen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Ich selbst nutze ausnahmslos wirksamere FFP2-Masken.

%;">„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Elisabeth Hübert (Roxie Hart), Ensemble. © Thilo Beu

Während die Broadway-Neuinszenierung nahezu komplett in Schwarz-Weiß gehalten ist, wenn man vom goldenen Rahmen um die „Geschworenenbank“ absieht, auf der die Musiker Platz nehmen, stellt die Bonner Produktion optisch quasi das genaue Gegenteil dar, was den Showcharakter der Song-and-Dance-Version von „Chicago“ betont: Regisseur Gil Mehmert hat mit Bühnenbildner Jens Kilian und Kostümdesigner Falk Bauer „Chicago“ in ein buntes Varietétheater verlegt, das noch mit einer ganzen Reihe von Regieeinfällen wie der Pressekonferenz mit Roxie Hart („Beide griffen zum Colt“) als Kasperltheater, in dem Elisabeth Hübert von Billy Flynn wie eine Kasperltheaterfigur mit einer quietschgelben Perücke vorgeführt wird, die Hinrichtung der Ungarin Katalin Hunyak, die als womöglich einzige Unschuldige im Cook-County-Gefängnis lediglich die beiden Worte „Nicht schuldig“ auf Deutsch beherrscht, durch „Uncle Sam“ beim Messerwerfen auf ein die Bühne dominierendes Paragraf-Zeichen oder die zu einer Poledance-Bar umfunktionierten Gefängniszellen des Cook-County-Gefängnisses beeindruckt. Choreograf Jonathan Huor hat mit dem Ensemble ein eigenständiges, sinnliches Tanzvokabular einstudiert, wobei die von Ann Reinking im Stil von Bob Fosse einstudierten Choreografien im Broadway Revival einfach genial und nicht zu überbieten sind. Was allerdings meine persönliche, subjektive Meinung ist. Die 14-köpfige Jazz-Band begrenzt die Spielfläche rechter und linker Hand und lässt John Kanders weltbekannte Partitur unter der Musikalischen Leitung von Jürgen Grimm mit Verve erstrahlen. Was will man mehr? Womöglich hatten einige Zuschauer lediglich eine falsche Vorstellung von einem Musical-Vaudeville, so dass doch einige Plätze in der Reihe hinter mir nach der Pause nicht mehr besetzt waren.

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Rachel Marshall (Katalin Hunyak), Ensemble. © Thilo Beu

Die Solisten und das Ensemble der Bonner Produktion agieren ganz hervorragend. Bettina Mönch (Sally Bowles in „Cabaret“, Theater Dortmund, Bad Hersfelder Festsspiele, Volkoper Wien, Regie Gil Mehmert; Starlet in „Berlin Skandalös – Ein wilder Tanz durch die 20er Jahre“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert; Lucy Harris in „Jekyll & Hyde“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert; Sheila Franklin in „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“, Bad Hersfelder Festspiele, Staatstheater am Gärtnerplatz, München, Regie Gil Mehmert; Eva Perón in „Evita“, Theater Bonn, Regie Gil Mehmert, Ronacher Wien, Regie Vincent Paterson; Lilli Vanessi/Katharina Minola in „Kiss me, Kate“, Theater Bonn, Regie Martin Duncan; Audrey in „Der kleine Horrorladen (Little Shop of Horrors)“, Theater Bonn, Regie Erik Petersen) und Elisabeth Hübert (Mary Poppins in „Mary Poppins – Das Broadway-Musical“, Theater an der Elbe Hamburg, Apollo Theater Stuttgart; Annette Ackermann in „Das Wunder von Bern“, Theater an der Elbe Hamburg, Regie Gil Mehmert; Jane in Disneys Musical „Tarzan“, Theater Neue Flora Hamburg, Wilhelmine von Preußen in „Friedrich – Mythos und Tragödie“, Metropolis Halle, Potsdam, Regie Holger Hauer) sind als Mörderinnen Velma Kelly und Roxie Hart zu erleben. Während Bettina Mönch mit dem ersten Song „All that Jazz“ als Velma Kelly gleich zu Beginn einen Höhepunkt für sich verbuchen kann, stiehlt ihr Elisabeth Hübert als Roxie Hart nicht nur die Schau, sondern auch noch den Verhandlungstermin, so dass sie darauf hofft, sie zumindest als Partnerin für ihren Doppelakt gewinnen zu können, mit dem Velma und ihre Schwester aufgetreten waren, bevor sie ihren Mann mit ihr in flagranti erwischt und beide getötet hat. Elisabeth Hübert ist darstellerisch, stimmlich und auch tänzerisch ebenso überzeugend, wenn sie beispielsweise ihrem Ehemann vorgaukelt, ihren Liebhaber Fred Casely aus Notwehr erschossen zu haben, oder behauptet, schwanger zu sein, damit sich nach einem erneuten Mord aus Leidenschaft in Chicago wieder alle Augen auf sie richten. Nachdem Roxie sämtliche Ideen von Velma für den Verhandlungstermin schamlos ausgenutzt hat, beklagt Bettina Mönch gemeinsam mit Folkwang Alumna Dionne Wudu (Marilyn/Hexe in „Wüstenblume“, Theater St. Gallen, Regie Gil Mehmert; Maria Magdalena in „Jesus Christ Superstar“; diverse Spielorte; Dionne in „Hair – The American Tribal Love Rock Musical“, Bad Hersfelder Festspiele, Regie Gil Mehmert) in der Rolle der Gefängnisaufseherin Matron „Mama“ Morton das Schwinden jeglicher Moral. Dionne Wudu hat auch den Part der Conférencière übernommen, vor ihrem Song „Sei gut zu Mama“ weist sie explizit als Conférencière auf diesen Umstand hin.

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“, Theater Bonn, Anton Zetterholm (William „Billy“ Flynn), Ensemble. © Thilo Beu

Anton Zetterholm (Robin Blake in „Lady Bess“, Theater St. Gallen, Regie Gil Mehmert; Crooner in „Berlin Skandalös – Ein wilder Tanz durch die 20er Jahre“, Theater Dortmund, Regie Gil Mehmert; Joey Montgomery in „Cirque du Soleil Paramour – Das Musical“, Theater Neue Flora, Hamburg; Tony in der „West Side Story“, Theater Dortmund, DomplatzOpenAir Magdeburg, Regie Gil Mehmert) mimt den geldgeilen und durchtriebenen Winkeladvokaten William „Billy“ Flynn mit einer Mischung aus Arroganz, Selbstverliebtheit und Charme, der kurzerhand für Roxie Hart eine neue Biografie mit Klosterschul-Vergangenheit erfindet und mit jeder Menge „Hokuspokus“ die Rechtssprechung beeinflusst. Enrico de Pieri (Herodes in „Jesus Christ Superstar“, Theater St. Gallen, Regie Erik Petersen; Schwaadlappe in „Himmel und Kölle“, Volksbühne am Rudolfplatz Köln, Regie Gil Mehmert; Peter in „Wahnsinn! Das Musical mit den Hits von Wolfgang Petry“, Regie Gil Mehmert; Dschinni in „Disneys Aladdin – Das Musical“, Theater Neue Flora Hamburg) ist als Roxies Schussel-Dussel-Ehemann alles andere als ein Mister Zellophan, in seinem gleichnamigen Song im zweiten Akt vermag er pantomimisch mit weißen Handschuhen und Melone (im englischsprachigen Raum nach den Hutmachern Thomas und William Bowler meist als „Bowler“ bezeichnet) für sich einzunehmen. Der neben seinem Studium als Musicaldarsteller klassisch ausgebildete Countertenor Victor Petersen (Mary Sunshine in „Chicago“, Staatstheater Braunschweig, Regie Matthew Wild, Tiroler Landestheater Innsbruck, Regie Enrique Gasa Valga, Le Théâtre Mogador Paris, Palladium Theater Stuttgart, Theater des Westens Berlin, Regie Tania Nardini; Professor Ambronsius in „Tanz der Vampire“, Stage Entertainment Tour, Regie Cornelius Baltus) überzeugt als Klatschreporterin Mary Sunshine mit schillernder Ausstrahlung und toller Stimme, wenn er in seinem Song „Etwas Gutes ist an jedem dran“ auf einem silbernen Mond aus dem Schnürboden herabgelassen wird. Daneben macht das ganz und gar spielfreudige Ensemble „Chicago“ am Opernhaus Bonn zu einer ausgesprochen kurzweiligen und sehenswerten Show.

„Chicago – Ein Musical-Vaudeville“ steht am Opernhaus Bonn noch bis Silvester 2022 auf dem Spielplan. Sparfüchse besuchen eine der beiden Folgevorstellungen am 25. August oder 3. September 2022, für die Tickets zum halben Preis angeboten werden.

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