Späte Landung

Das zwischen Kammerspiel und Bombast-Show angelegte Hit-Musical „Miss Saigon“ erlebt seine längst überfällige fulminante Wiener Erstaufführung

Von Gregor-Anatol Bockstefl

„This Is The Hour“ heißt es im Musical „Miss Saigon“. Und am Sonntag, den 23. Jänner 2022 war die Stunde nun wirklich gekommen: Coronabedingt fast eineinhalb Jahre später als geplant erlebte das Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg im Raimund Theater endlich seine Wiener Erstaufführung. Verwunderlich, dass das 1989 am Londoner Westend uraufgeführte Musical nicht schon viel früher seinen Weg nach Wien, das sich gern als Weltstadt des Musicals sieht, gefunden hat. Mitte der 1990er-Jahre schnappte der deutsche Stella-Konzern den Vereinigten Bühnen Wien (VBW) die Rechte an der deutschsprachigen Erstaufführung weg und nicht einmal die österreichische Erstaufführung konnte man nun für sich reklamieren, hatte diese doch schon 2011 im Stadttheater Klagenfurt stattgefunden. Dies alles sollte aber dem Premierenjubel keinen Abbruch tun und der große, einhellige Schlussapplaus unterstrich nur, was den Besucher*innen schon nach den ersten Takten des Stückes klar war: Wien hat einen neuen Musicalhit, wie man ihn hier schon lange nicht mehr erleben durfte. „Miss Saigon“ gehört neben „Cats“, „Les Misérables“ und „Das Phantom der Oper“ zu den großen, durchkomponierten Shows, die den weltweiten Musicalboom erst so richtig begründeten. Vielleicht auch mit ein Grund, warum das Musical nun erst so spät in Wien gespielt wird: Hatten doch die VBW nach der Aufführung der drei erstgenannten Stücke die ehrgeizigen Pläne, selbst ein Stück zu entwickeln, das anschließend um die Welt geht. Nach dem künstlerischen Achtungserfolg des Musicals „Freudiana“, das sich als kommerzieller Flop erwies, sollte dies erst mit „Elisabeth“ gelingen.

„Miss Saigon“, Raimund Theater, Ensemble. © Johan Persson

Das, was nun in Wien auf die Bühne gebracht wurde, ist die derzeit gültige Inszenierung von „Miss Saigon“, die auf dem Westend-Revival anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Show beruht. Die Produktion in der Regie von Laurence Connor, die 2014 im Londoner Prince Edward Theatre Premiere hatte, wurde anschließend für eine UK/Ireland und International Tour adaptiert, die 2019 in Köln ihren Abschluss fand. Nur Insidern wird auffallen, dass es sich auch in Wien um den im Vergleich zur Westend-Produktion leicht abgespeckten Tour-Set handelt. An die Verhältnisse des Raimund Theaters angepasst, fällt nicht nur das Proszenium in (Bambus-)Hütten-Ästhetik und Laternen, das bis in den Zuschauerraum hineinragt, positiv auf. Das Werkel funktioniert jedenfalls von Beginn bis zum Ende wie am Schnürchen, Bühnenelemente werden in rasender Geschwindigkeit hinein- und herausgeschoben, veredelt durch eine grandiose Lichtregie. Die Geschichte von Kim und Chris, die sich in den letzten Tagen des Vietnam-Krieges kennen und lieben lernen, oszilliert zwischen Kammerspiel und Bombast-Szenen mit großem Ensemble. Die Schauplätze wechseln zwischen Saigon (später Ho-Chi-Minh-Stadt), den USA und Bangkok. Höhepunkt – als zeitliche Rückblende wieder in Saigon – ist nach wie vor die Landung des Hubschraubers, der die letzten amerikanischen Soldaten aus Vietnam ausfliegt, im 2. Akt. Diese gelingt auch in dieser Inszenierung bildgewaltig und eindrucksvoll. Gesungen wird allerdings nicht wie in London und der Tour auf Englisch, sondern auf Deutsch. Eigens für Wien wurde vom renommierten Übersetzer und Schöpfer zahlreicher VBW-Erfolge Michael Kunze eine neue Übersetzung erstellt. Diese ersetzt nun die bisher gängige Transkription seines Namensvetters Heinz Rudolf Kunze und verzichtet glücklicherweise auf dessen schier unsag- und -singbare Plattheiten. Dass die Schärfe und Bissigkeit des englischen Textes in der deutschen Übersetzung etwas verloren geht, war wohl nicht zu vermeiden.

„Miss Saigon“, Raimund Theater, Oedo Kuipers (Chris) und Vanessa Heinz (Kim). © Johan Persson

Die Story des Musicals darf als bekannt vorausgesetzt werden: „Miss Saigon“ ist eine in die 1970er-Jahre versetzte Variante von Puccinis Oper „Madama Butterfly“ und deren Vorlagen (die Erzählung „Madame Butterfly“ von John Luther Long und die daraus entwickelte einaktige Tragödie „Madame Butterfly. A Tragedy of Japan“ von David Belasco). Eine „Boy meets Girl“-Geschichte, die – wie so oft auf der Opern- und manchmal auch auf der Musicalbühne – tragisch endet. Die Kurtisane Cio-Cio-San in der Oper wie auch das Barmädchen Kim im Musical kämpfen mit enormer Entschlossenheit und in aller Konsequenz dafür, dass der aus der kurzen Beziehung entsprungene Sohn in einer besseren Welt ein besseres Leben findet. Wird vor allem der männliche Protagonist in der Oper (Pinkerton) sehr eindimensional und auch unsympathisch gezeichnet, ist die Charakterisierung von Chris im Musical deutlich differenzierter: Hier steht kein chauvinistischer Macho auf der Bühne, sondern ein in sich zerrissener, vom Krieg traumatisierter junger Mann, der schlussendlich zwischen zwei Frauen steht – nämlich zwischen Kim und Ellen, seiner Frau, die er in nach seiner Rückkehr in die USA kennengelernt hat. Eine weitere Aufwertung erfährt die Rolle des Heiratsvermittlers „Goro“ in der Oper, der nun im Musical zum „Engineer“ geworden ist. Er ist der heimliche Star der Show, im Geiste ein Bruder von Monsieur Thénardier in „Les Misérables“, schmierig, geldgierig, brutal, aber auch auf seine Art liebenswert. Für die Wiener Produktion hat man Hauptdarsteller gefunden, die neben den enormen stimmlichen Herausforderungen auch alle charakterlichen Eigenschaften fulminant über die Rampe bringen. Vanessa Heinz, die erst 2021 ihre Musicalausbildung abschloss, brilliert als Kim mit großer Stimme und grandioser Darstellung. Der Baritenor Oedo Kuipers ist allein schon vom Aussehen und seiner Körpergröße her wie geschaffen für die Rolle des GI Chris. Waren seine gesprochenen Parts in „Mozart!“ zuweilen etwas hölzern, kommt ihm in „Miss Saigon“ entgegen, dass das Stück durchkomponiert ist. Alle Register – sei es Gesang, Schaupiel oder Tanz – zieht auch Christian Rey Marbella als „Engineer“, eine Rolle, die er bereits auf der International Tour verkörperte. Zwar ist bewundernswert, dass der Philippine in so kurzer Zeit Deutsch gelernt hat, seine Intonation lässt aber stellenweise noch sehr zu wünschen übrig. Bleibt zu hoffen, dass sich dies im Laufe der Spielzeit noch einschleift. Nichtsdestotrotz wird seine Solonummer „The American Dream“ gegen Schluss des Stückes zum absoluten Showstopper. Für eine der größten Überraschungen des Abends sorgt Abla Alaoui als Chris’ Ehefrau Ellen. War Alaoui bisher eher auf Mädchenrollen abonniert, ist ihre Ellen eine starke, selbstbewusste Frau. Insbesondere in der Konfrontationsszene mit Chris, nachdem Kim Ellen im Hotelzimmer angetroffen hat, überzeugt sie durch intensives Schauspiel. Ihr Song „Möglich“ (der von Boublil/Schönberg nachträglich komponierte Song „Maybe“) wird zu einem der musikalischen und emotionalen Highlights der Show. Sehr positiv im Gedächtnis bleiben auch Gino Emnes als John, James Park als Thuy sowie Annemarie Lauretta als Gigi. Sie alle überzeugen mit beeindruckendem Stimmvolumen und tollem Spiel. Komplettiert werden die Solisten durch ein internationales Ensemble, das von der Typbesetzung und von der stimmlichen, darstellerischen und tänzerischen Seite keine Wünsche offen lässt – es wäre sinnlos, jemanden einzeln zu nennen, sie sind alle großartig. Dass das VBW-Orchester (diesmal unter der musikalischen Leitung von Herbert Pichler) jedem Westend- oder Broadway-Orchester Konkurrenz macht oder diese sogar übertrifft, dürfte sich auch schon international herumgesprochen haben.

„Miss Saigon“, Raimund Theater, Abla Alaoui (Ellen). © Johan Persson

Bleibt zu hoffen, dass „Miss Saigon“ und seinen Besucher*innen nun keine weiteren coronabedingten Vorstellungsabsagen blühen und die Aufführungsserie bis Ende Juni 2022 durchgespielt werden kann. Schade, dass „Miss Saigon“ danach schon wieder abfliegen wird. Gerüchten zufolge soll ja die von den VBW erworbene Stücklizenz im Sommer auslaufen, außerdem steht schon das neue (alte) Nachfolgestück „Rebecca“ in den Startlöchern.

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