„Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“

Galerieausstellung im Ruhr Museum vom 31. Oktober 2021 bis 30. Oktober 2022

Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, das am 30. Oktober 1961 geschlossen wurde, war ein einschneidendes Ereignis in der wirtschaftlichen, vor allem aber in der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Es war nicht das erste Abkommen, ihm gingen ähnliche mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) voraus und ihm folgten weitere mit Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Aber das Anwerbeabkommen mit der Türkei war sicherlich das wichtigste, denn dadurch gelangten mit Abstand die meisten Menschen in die Bundesrepublik und die türkeistämmige ist heute noch die größte Migrationsgruppe in Deutschland. Die Anwerbeabkommen hatten vor allem wirtschaftliche Gründe. Sie reagierten auf den deutschen Arbeitskräftebedarf im Wirtschaftswunder der 1950er Jahre – mit weitreichenden Folgen. Denn viele der sogenannten Gastarbeiter*innen gingen nicht in ihre Heimatländer zurück, sondern blieben in Deutschland und prägten maßgeblich die Entwicklung hin zu einer Einwanderungsgesellschaft.

Plakat zur Sonderausstellung „Mustafas Traum“. © Ruhr Museum, Gestaltung: Uwe Loesch; Fotos: Fotoarchiv Ruhr Museum; Fotograf: Henning Christoph; Titelbild Mustafa Aydın tanzt nach der Beschneidung seiner beiden Söhne, Essen-Altendorf, 2. Juli 1977

Die Ausstellung mit Fotografien von Henning Christoph zeigt die Zeit von Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre, also die Phase, in der sich viele der ehemaligen türkischen „Gastarbeiter*innen“ entschieden, in Deutschland zu bleiben, ihre Familienangehörigen nachzuholen oder eine Familie zu gründen und hier eine neue Heimat zu finden.

„Henning Christoph pflegte enge Freundschaften mit den türkeistämmigen Arbeitsmigranten und ihren Familien. Er besaß ihr Vertrauen und fotografierte viele private und intime Momente ihres Lebens“, so Professor Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein.
Blick in die Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“

Die Ausstellung

Der deutsch-amerikanische Fotograf Henning Christoph, geboren 1944 in Grimma bei Leipzig, mehrfacher World Press Photo-Preisträger, fotografierte von 1977 bis 1989 das Alltagsleben türkischer Menschen in Deutschland mit Schwerpunkt im Ruhrgebiet. Zugang zu den sozialen Aktivitäten der ersten Generation türkeistämmiger Arbeitsmigrant*innen in Essen und Umgebung erhielt Henning Christoph durch die Freundschaft mit den in seiner Nachbarschaft lebenden Familien Sakin und Aydın. Bei den häufigen privaten Treffen und den von Seyfi Sakin hergestellten Kontakten entstanden zahlreiche Aufnahmen, in denen erstmals nicht mehr der „Gastarbeiter“ als Gast oder Arbeiter im Zentrum stand, sondern der Alltag und die Kultur der hier lebenden Türkeistämmigen. „Ich war vielleicht der Erste, der wirklich in das türkische Leben eingetaucht ist. [...] Ich bin in dieses Thema reingestolpert [...] und habe gespürt, das ist ein gutes Thema. Und wenn ich ein Thema gefunden habe, das mich wirklich interessiert, bleibe ich jahrelang dran“, erläutert der Fotograf Henning Christoph.

Blick in die Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“ mit der GEO-Reportage „Die deutschen Türken“ (1979)

Eine Auswahl der besten Bilder erschien 1979 in der dreizehn Doppelseiten langen Reportage „Die deutschen Türken“ mit einem Text seiner damaligen Ehefrau, der Journalistin Shawn Christoph, in der Zeitschrift GEO. „Die deutschen Türken“ war die erste und umfangreichste Fotoreportage, die sich mit der türkeistämmigen Arbeitsmigration auseinandersetzte. Aufgrund des gut recherchierten Textes von Shawn Christoph und den tiefe Einblicke gewährenden Fotografien Henning Christophs ist die Reportage, für die eineinhalb Jahre Recherche- und Produktionszeit zur Verfügung stand, bis heute eine sozial- und fotogeschichtlich einmalige und bedeutsame Quelle. Diese legendäre Reportage wird vollständig in der Ausstellung gezeigt.

„Mutter und Vater Aydin mit Bayram und Mustafa“, Essen-Altendorf, 2. Juli 1977. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph

In der Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“ stellt das Ruhr Museum insgesamt rund 150 Fotografien in Schwarzweiß und Farbe aus. Sie zeigen die türkeistämmigen Familien bei der Arbeit, auf Beschneidungsfeiern, Hochzeiten, bei der Einschulung, auf politischen und religiösen Veranstaltungen, beim Einkaufen, Schächten und dem Besuch des Ölringens. Christophs Bilder vermitteln Nähe zu den Abgebildeten, Lebensfreude, Humor und eine große Vielfältigkeit in der Alltagskultur. In einem in der Ausstellung zu sehenden Videointerview kommt der Fotograf selbst zu Wort und berichtet über das Entstehen seiner Langzeit-Dokumentation.

Mustafas Traum

Viele der türkeistämmigen Arbeiter*innen waren aufgrund besserer Verdienst-chancen nach Deutschland gekommen. Die meisten planten eine Rückkehr mit dem in Deutschland angesparten Geld, um sich in der Türkei ihren Traum zu erfüllen, so wie der 1962 nach Deutschland gekommene Mustafa Aydın (1926 – 1997). Ursprünglich plante er in die USA zu gehen, lernte deshalb Englisch, wurde dann aber nach einigen Umwegen in der Türkei von dem Bauunternehmen Heitkamp aus Herne angeworben und eingestellt. In Deutschland wollte Mustafa nur solange bleiben, bis er ausreichend Geld verdient hatte, um sich in der Türkei ein Sägewerk zu kaufen. Diesen Traum hegte er lange; er manifestierte sich in dem Modell eines Sägewerks, das Aydın in seiner Freizeit baute.

„Mustafa Aydins Traum: ein Sägewerk“, Essen-Altendorf, um 1978 (Henning Christoph/Fotoarchiv Ruhr Museum). © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph

„Das Modell dieser Sägemühle und sein dazu passendes Traumhaus aus Legosteinen stehen in einer Holzhütte, die sich Vater Aydin aus Sperrmüll im Hof des Hauses ‚In der Hagenbeck Nr. 16‘ gebaut hat. (…) Es hat lange gedauert, ehe Mustafa bereit war, Henning diese kleine private Welt zu zeigen“, erzählte die Journalistin Shawn Christoph 1979.

„Mustafas Traum“ hat sich jedoch nicht erfüllt. Er steht aber zugleich für die Hoffnungen, Träume, Wünsche und Sehnsüchte zahlreicher anderer Menschen, die sie bewogen hatten, ihre Heimat zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Viele sind geblieben und haben bereits Kinder und Enkelkinder, die in Deutschland geboren sind. Oft pendeln sie zwischen den Ländern.

Der Fotograf

Der studierte Ethnologe und Journalist Henning Christoph zog 1967 für sein Studium bei Professor Otto Steinert an der Folkwangschule für Gestaltung von Washington D.C. nach Essen, wo er bis heute lebt. Er arbeitete frei für internationale Agenturen, Zeitschriften und Zeitungen, gründete eine eigene Fotoagentur und widmet sich seit fünfzig Jahren, davon mehr als dreißig Jahren intensiv, der Dokumentation unterschiedlicher Kulturen in Afrika und des Voodoo. Er hat zahlreiche Bücher mit seinen Fotografien herausgegeben; zum Thema „Migration“ ist bislang jedoch noch keine Monografie mit Henning Christophs Arbeiten veröffentlicht worden.

„Mittagsgebet im Industrieviertel“ Gelsenkirchen-Buer, September 1982. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph
Mit diesem Bild gewann Henning Christoph 1983 den 2. Preis beim World Press Photo Contest in der Kategorie „Daily Life“

„Die fotografische Herangehensweise von Henning Christoph ist von einer großen Empathie, ehrlichem Interesse am Gegenüber und seinen Lebensumständen sowie von Menschenkenntnis geprägt“, so Stefanie Grebe, Leiterin der Fotografischen Sammlung des Ruhr Museums.

Seine im Studium der Ethnologie (Cultural Anthropology) erworbenen Techniken, wie die der teilnehmenden Beobachtung, kommen ihm zugute, wenn er viel Geduld und Zeit investiert, das Vertrauen derjenigen, die er fotografiert, zu gewinnen. Durch seine Erfahrung als zweifach migrierter Deutsch-Amerikaner ist Christoph prädestiniert, sich in andere Kulturen hineinzuversetzen. Einmal von der Gemeinschaft – hier den türkeistämmigen Arbeitsmigrant*innen – aufgenommen, lebt er mit ihnen und trennt sein Privatleben nicht von der Arbeit des Fotografierens. Er erfasst Nebensächliches oder inszeniert zentral das Motiv, immer eingebettet in eine intuitiv wirkende Komposition, die sich nie in den Vordergrund drängt. In einem großen Interview steht Henning Christoph im Katalog mit seinen erzählten Geschichten im Zentrum. Sie veranschaulichen seine individuelle Herangehensweise und berichten von dem Leben eines international tätigen Fotografen.

Auftritt der Bauchtänzerin Sevda Ateş (Künstlername: Feurige Liebe) im türkischen Club Vatan (deutsch: Heimat) in der Rathenaustraße Essen-Stadtmitte, Januar 1978. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph

Die Förderung und der Bestand

Im Jahr 1986 erwarb die Kulturstiftung Ruhr zehn Barytabzüge von Henning Christoph aus der Serie „Türken im Ruhrgebiet“ im Bildformat 30,7 × 46,0 cm auf 50 × 60 cm Blattmaß für das „Bildarchiv zur Geschichte des Ruhrgebiets“. Die Bilder gelangten 1989 ins damalige Ruhrlandmuseum, der Vorgängerinstitution des heutigen Ruhr Museums. 2011 bot Henning Christoph dem Fotoarchiv des Ruhr Museums sein Konvolut zum Thema „Migration“ an, das ein Jahr später mithilfe der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung erworben werden konnte. Der Ankauf wurde durch eine umfangreiche Schenkung mit Bildern zum Thema „Ruhrgebiet“ aus den Jahren 1963 bis 1993 ergänzt. Insgesamt befinden sich 1.121 Kleinbild-Farbdiapositive, circa 40.000 Kleinbild-Schwarzweiß-Negative sowie rund 5.000 schwarzweiße Arbeitsprints im Ruhr Museum. Davon zeigen 897 Kleinbild-Farbdiapositive und circa 12.000 Kleinbild-Schwarzweiß-Negative sowie über 2.000 Arbeitsprints das Thema Migration in Deutschland.

Trocknen von Schafwolle auf einem Hinterhof, Essen-Altendorf, um 1978. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph

Im Zuge der Ausstellungsvorbereitung wurde dieser Bestand nach fotokonservatorischen Richtlinien behandelt, inventarisiert und digitalisiert sowie inhaltlich erschlossen. Um das digitale Bildmaterial auch für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde ein großer Teil des Bestandes, darunter alle Motive zum Thema „Migration“, in die Bilddatenbank www.fotoarchiv-ruhrmuseum.de eingepflegt. Zudem ist eine Auswahl der Bildagentur der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (www.bpk-bildagentur.de), einem Bildportal nationaler und internationaler Institutionen, übermittelt worden.

Das Begleitprogramm

Während der Laufzeit der Ausstellung findet ein umfangreich angelegtes kulturel-les Rahmenprogramm statt. Es umfasst neben Führungen (Deutsch, Englisch und Türkisch) unter anderem Gespräche mit Henning Christoph, einen Fotografie-Vortrag, ein Erzählcafé sowie eine Lesung und einen Vorlesetag, Kochkurse, Workshops, Exkursionen und Filmabende.

„Abfahrt in die Heimat am Röntgenplatz“ Essen-Altendorf, um 1978. © Fotoarchiv Ruhr Museum; Foto: Henning Christoph

Der Katalog

Der Katalog zur Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“ präsentiert auf 240 Seiten die erste Monographie des Fotografen zum Thema türkische Migration mit mehr als 180 der eindrucksvollsten Schwarzweiß- und Farbfotografien von Henning Christoph zum Alltagsleben, einem aktuellen Gespräch mit Henning Christoph und einem Abdruck der legendären GEO-Reportage „Die deutschen Türken“ (1979). Der Katalog erscheint im Klartext Verlag und kostet 24,95 €. ISBN 978-3-8375-2482-6.

Allgemeine Informationen

Alle Veranstaltungen werden unter den jeweils geltenden Sicherheits- und Hygienestandards der geltenden Coronaschutz-Verordnung stattfinden. Änderungen sind jederzeit möglich. Aktuelle Informationen unter www.ruhrmuseum.de.

Die Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977 – 1989“ ist vom 31. Oktober 2021 bis zum 30. Oktober 2022 täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, der Eintritt beträgt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schüler und Studierende unter 25 Jahren haben freien Eintritt. Am 24., 25. und 31. Dezember ist das Ruhr Museum geschlossen.

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