„Berlin Skandalös – Ein wilder Tanz durch die 20er Jahre“


„Berlin Skandalös – Ein wilder Tanz durch die 20er Jahre“ – Revue von Gil Mehmert; Musik: Paul Abraham, Harry Akst, Irving Berlin, Cab Calloway, Leonello Casucci, Walter Donaldson, Hanns Eisler, George Gershwin, Werner-Richard Heymann, Friedrich Hollaender, John Kander, Theo Mackeben, Jimmy McHugh, Irving Mills, Richard Rillo, Mischa Spoliansky, Kurt Weill u. a.; Texte: Irving Berlin, Julius Brammer, Bertolt Brecht, Cab Calloway, Max Colpet, Buddy DeSylva, Walter Donaldson, Fred Ebb, Dorothy Fields, Ira Gershwin, Robert Gilbert, Alfred Grünwald, Friedrich Hollaender, Alexander Kareno, Egon Erwin Kisch, Sam M. Lewis, Fritz Löhner-Beda, Irving Mills, Curt Moreck, Günter Neumann, Joe Young u. a.; Regie: Gil Mehmert; Choreografie: Yara Hassan; Bühne: Heike Meixner; Kostüme: Falk Bauer; Lichtdesign: Michael Grundner; Sounddesign: Joerg Grünsfelder; Deamaturgie: Laura Knoll; Musikalische Leitung: Christoph JK Müller/Satomi Nishi. Darsteller: Bettina Mönch (Starlet), Angelika Milster (Diva), Jörn-Felix Alt (Gigolo), Rob Pelzer (Conférencier), Tom Zahner (Chauffeur), Maja Dickmann*, Yasmina Hempel*, Florentine Kühne (Girls), Louis Dietrich*, Nico Hartwig, Lukas Mayer, Samuel Türksoy* (Boys), David Jakobs/Alexander Klaws/Mark Seibert/Anton Zetterholm (Crooner). *Studierende im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste. Premiere: 22. Oktober 2021, Theater Dortmund, Opernhaus.



„Berlin Skandalös – Ein wilder Tanz durch die 20er Jahre“


Das Vorspiel zur Dortmunder Inszenierung von „Cabaret“ in der Spielzeit 2022/23


Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ stehen für den wirtschaftlichen Aufschwung der weltweiten Konjunktur und bezeichnen auch die Blütezeit der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft. Im Englischen gibt es den Begriff „Roaring Twenties“. In Berlin entstanden Großkinos wie der Ufa-Palast am Zoo mit mehr als 2.100 Sitzplätzen, eines der bedeutendsten Uraufführungskinos der 1920er- und 1930er-Jahre, Max Reinhardt baute in Berlin ein regelrechtes Theaterimperium auf, 1931 besaß er dort 11 Theater mit über 10.000 Sitzplätzen. Der Börsencrash an der weltgrößten Wertpapierbörse New York Stock Exchange am 24. Oktober 1929 – unter dem Namen „Black Thursday“ bzw. in Europa als „Schwarzer Freitag“ bekannt – gilt als Auslöser der Weltwirtschaftskrise. Mit der Deutschen Bankenkrise endeten die „Goldenen Zwanziger Jahre“. Die Weltwirtschaftskrise gilt erst im Jahr 1933 als überwunden, bereits nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. 1929 kam Christopher Isherwood (* 26. August 1904 in High Lane, Cheshire, England, † 4. Januar 1986 in Santa Monica, Kalifornien) nach Berlin und war von der Schwulenszene der Stadt fasziniert. Nach der Machtergreifung Hitlers verließ er im Mai 1933 Deutschland. In seinen Romanen „Mr Norris Changes Trains“ (1935) und „Goodbye to Berlin“ (1939) hat er seine Erlebnisse in Berlin aufgegriffen, sie prägten im angelsächsischen Sprachraum das Berlinbild der frühen 1930er-Jahre. John William Van Druten nutze die Romane als Grundlage für sein Schauspiel „I am a Camera“ (1951), John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff verarbeiteten sie im Musical „Cabaret“ (1966), das nach der COVID-19 Pandemie in der Spielzeit 2022/23 in einer Inszenierung von Gil Mehmert am Theater Dortmund gezeigt werden soll.

Opernhaus Dortmund

Die Revue „Berlin Skandalös“ liefert einige Hintergrundinformationen zu der Zeit, in der das Musical „Cabaret“ angesiedelt ist. Kaleidoskopartig wird nicht nur die musikalische Seite auf die Bühne gebracht, berücksichtigt werden auch Aspekte zur politischen Lage jener Zeit. Zum 1. Oktober 1920 wurde Berlin durch Eingemeindungen zu „Groß-Berlin“, mit einer Fläche von 878 km² die weltweit zweitgrößte Stadt nach Los Angeles und mit 3,8 Millionen Einwohnern die weltweit drittgrößte Stadt nach London und New York. Die Einwohnerzahl stieg in der Folgezeit noch weiter an, Menschen ziehen in der Hoffnung auf Arbeit und auf eine besseres Leben in die wachsende Metropole. Hier tobt zunächst ein wilder Tanz auf dem Vulkan, das Nachtleben ist grell und ungezügelt, neue Lebensformen treten hervor: Man probiert sich aus, erfindet sich neu. Gesellschaftliche Konventionen scheinen vorübergehend aufgehoben und so mancher führt ein ausschweifendes Leben und taucht tief in das Berliner Nachtleben ein. Die Weimarer Republik fand jedoch bekanntlich kein gutes Ende, so dürfen Uniformen und rot leuchtende Hakenkreuze letztendlich nicht fehlen. Die Revue liefert sowohl Fußnoten zu dem Buch des Musicals „Cabaret“, bedient sich andererseits bewusst an Ausstattungsdetails und Kostümen der Cabaret-Inszenierung von Gil Mehmert (ursprünglich mit Helen Schneider als Conférencier in Bad Hersfeld zu sehen). Revuetypisch ist die Bühne in ihrer Mitte erhöht: Hier steht ein überdimensionaler Bechstein-Flügel, dessen Deckel ein Podest bildet (Ausstattung Heike Meixner). Unregelmäßig angeordnete Leuchtbuchstaben bilden das Wort „BERLIN“, rechts und links sind zwei Paravents zu sehen, die umgedreht kleine angedeutete Räume entstehen lassen. Auf dem Hintergrundprospekt zeigt eine expressionistische Arbeit ein verzerrtes Berlin, inspiriert von einem Holzschnitt Lyonel Feiningers mit Pariser Häusern und um die damalige Berliner Skyline erweitert. Die Folgen des Lebens im Überschwang, Konsum von Genuss- und Rauschmitteln, aber auch der drohende Zusammenbruch, das nahende Ende einer Ära. Hier ist bildlich alles eingefangen, was den Geist dieser Zeit repräsentiert.

Gil Mehmert nimmt die Zuschauer*innen mit auf eine neunzigminütige Reise in die 1920er-Jahre. Dort war es vor allem jener Gesellschaftsschicht vorbehalten, die ihr Auskommen hatte, Kabarett- und Unterhaltungsabende zu besuchen. Wie ein solcher Abend vor etwa 100 Jahren ausgesehen haben mag, zeigt „Berlin Skandalös“ in eindrucksvoller Weise. Schon damals wurden gesellschaftsrelevante Themen durchaus pointiert und überspitzt auf die Bühne gebracht. Was frivol und rauschhaft daherkommt, überstrahlt die alltäglichen Probleme auf den Berliner Straßen. Doch unter der glitzernde Fassade bröckelt es, Korruption und Arbeitslosigkeit bestimmten den Alltag eines Großteils der Bevölkerung. Repräsentiert durch die Figur des Chauffeurs (Tom Zahner) gibt es Verweise auf diese düstere Kehrseite einer sich befreienden Gesellschaft. Gil Mehmert balanciert diese Widersprüche gekonnt aus, lässt Vergangenes unterhaltsam aufleben, berücksichtigt jedoch auch zeitkritische Aspekte.

„Berlin Skandalös“, Theater Dortmund, Angelika Milster (Diva). Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Unbedingt zeittypisch, oftmals frivol oder androgyn kommen die Kostüme daher (Falk Bauer). Der Freiheitsgedanke bricht sich Bahn, die Grenzen zu „typisch weiblich“ und „typisch männlich“ werden hier und da verwischt, jeder präsentiert sich so, wie er mag. Ganz besonders deutlich wird das im Song „Mein Herr“ aus dem Musical „Cabaret“: das Ensemble trägt Kostüme, die vertikal zweigeteilt sind, jeweils eine weibliche und eine männliche Seite haben. An anderer Stelle kommen große Köpfe zum Einsatz, die an die Personen jener Zeit karikierende Darstellungen von George Grosz und Otto Dix erinnern.

Neben damals beliebten Melodien im Tango-Rhythmus wie „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ kam auch ein spezieller neuer Tanzstil in Mode, der durch recht groteske Beinbewegungen charakterisiert ist. Dies war nur möglich, weil die Röcke der Damen nun kniekurz waren und erstmals Bein gezeigt werden durfte. Man tanzte Charleston und Shimmy oder – wie hier eindrucksvoll vorgeführt – den Modetanz „Känguru-Foxtrott“ (Choreografie Yara Hassan). In jener Zeit entstanden zudem individuelle tänzerische Ausdrucksformen, wie es in Friedrich Hollaenders Chanson „Ich mache alles mit den Beinen“ beschrieben wird, hier von Jörn-Felix Alt geschmeidig interpretiert. Als Conférencier führt ein bizarr überwiegend weiß geschminkte Gestalt (Rob Pelzer) durch den Abend, setzt Akzente und verknüpft die einzelnen Nummern miteinander. Angelika Milster sinniert aus dem Blickwinkel der Diva über die gesellschaftlichen Veränderungen: „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“? Tabus zu brechen ist offensichtlich das Thema des Großstadtlebens der 20er. Im Song „Die Zeitfurie“ von Max Colpet reagiert sich die Protagonistin (Bettina Mönch) an bestehenden Konventionen ab, nichts ist spektakulär genug, genügt ihrem Hunger nach Neuem. Unter ihrem Pelz trägt sie nichts – abgesehen von burlesquetypischen Nippelpasties – und will dies auch zeigen. Bettina Mönchs Starlet steht für die unkonventionelle, nach Unabhängigkeit strebende Frau der 20er. Sie trägt Züge von Sally Bowles, dem Star aus dem Kit Kat Club im Musical „Cabaret“. Auch darstellerisch überzeugend brilliert sie mit Songs wie „Mein Herr“ aus diesem Musical, unterstützt von den Tänzern des Kat Kat Clubs. Tom Zahner ist hingegen für die leisen und nachdenklichen Töne zuständig, repräsentiert die vielen Menschen, die wenig mehr haben als ihre Hoffnungen und Träume: „Einmal möcht’ ich keine Sorgen haben“. Am Premierenabend war Anton Zetterholm in der Rolle des Crooner zu sehen (in den Folgevorstellungen wird diese Rolle auch von David Jakobs, Alexander Klaws und Mark Seibert übernommen). Mit samtweicher Stimme singt er Songs für das neu aufkommende Medium Radio ein.

„Berlin Skandalös“, Theater Dortmund, Anton Zetterholm (Crooner). Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Maja Dickmann, Yasmina Hempel, Florentine Kühne, Louis Dietrich, Nico Hartwig, Lukas Mayer und Samuel Türksoy vervollständigen das Ensemble gesanglich und tänzerisch. In „Wenn ich sonntags in mein Kino geh’“ besuchen sie einen Filmpalast, im Song „Sechstagerennen“ bejubeln sie selbiges und lassen schließlich in „Das Karussell“ wie auf dem Jahrmarkt alles rundherum drehen.

Musikalisch gestaltet sich die Revue zu einem Hörvergnügen: Aus dem Orchestergraben tönt satter Sound aus den 20ern (Musikalische Leitung Christoph JK Müller). Man taucht ein in die mitreißenden Melodien jener Zeit, teils wohlbekannt, teils wiederentdeckt und überraschend ohrwurmtauglich. So dürfen Auftritte der bis heute legendären Comedian Harmonists (Louis Dietrich, Nico Hartwig, Lukas Mayer, Rob Pelzer, Samuel Türksoy) nicht fehlen.

Setliste der Premiere:

• Toccata Nr. 2 von George Antheil
• „Großstadt-Song“ von Günter Neumann (T)/Richard Rillo (M)
• „Das ist die Liebe der Matrosen“ von Robert Gilbert (T)/Werner-Richard Heymann (M)
• „Hoppla, jetzt komm’ ich“ von Robert Gilbert, Max Colpet (T)/Werner-Richard Heymann (M)
• „Die Zeitfurie“ von Max Colpet (T)/ Ralph Maria Siegel (M)
• „Berlin im Licht“ von Bertolt Brecht (T)/Kurt Weill (M)
• „Einmal möcht’ ich keine Sorgen haben“ von Max Colpet (T)/Mischa Spoliansky (M)
• „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ von Friedrich Hollaender (T/M) (Ensemble weiblich)
• „Creole Love Call“ von Duke Ellington
• „Ich mache alles mit den Beinen“ von Friedrich Hollaender (T/M)
• „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ von Julius Brammer (T)/Leonello Casucci (M)
• „Känguruh“ (aus „Ball im Savoy“) von Alfred Grünwald, Fritz Löhner-Beda (T)/Paul Abraham (M)
• „Am Amazonas“ (aus „Glückselige Reise“) von Max Bertuch, Kurt Schwabach (T)/ Eduard Künneke (M)
• „Herr Doktor, Herr Doktor“ von Friedrich Hollaender (T)/ Rudolf Nelson (M)
• „Wenn ich sonntags in mein Kino geh’“ von Robert Gilbert (T)/ Werner-Richard Heymann (M)
• „Sechstagerennen“ von Carl Behr (T)/Harry Ralton (M)
• „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ (aus „Eine Frau, die weiß, was sie will“) von Alfred Grünwald (T)/Oscar Straus (M)
• „Was hast du für Gefühle, Moritz“ von Fritz Löhner-Beda (T)/R. Fall (M)
• „Wenn die beste Freundin“ (aus „Es liegt in der Luft“) von Marcellus Schiffer (T)/Mischa Spoliansky (M)
• „Das Hirschfeldlied“ von Otto Reutter (T/M)
• „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ von Friedrich Hollaender (T/M)
• „Irgendwo auf der Welt“ von Robert Gilbert (T)/Werner-Richard Heymann (M)
• „Mein Herr“ (aus „Cabaret“) von Fred Ebb (T)/John Kander (M)
• „Stairway to Paradise“ (aus „George White’s Scandals“) von Buddy DeSylva, Ira Gershwin (T)/George Gershwin (M)
• „Minnie the Moocher“ von Cab Calloway, Irving Mills (M/T)
• „I can’t give you anything but love“ von Dorothy Fields (T)/Jimmy McHugh (M)
• „Der Marsch ins Dritte Reich“ von Bertolt Brecht (T)/Hanns Eisler (M)
• „Das Karussell“ von Hans Fritz Beckmann (T)/ Michael Jary (M)
• „Und über uns der Himmel“ von Michael Freytag (T)/Theo Mackeben (M)
• „Good Night“ (aus „Viktoria und ihr Husar“) von Alfred Grünwald, Fritz Löhner-Beda (T)/Paul Abraham (M)

„Berlin Skandalös“, Theater Dortmund, Bettina Mönch (Starlet), Ensemble. Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Im Anschluss an die neunzigminütige Vorstellung feierte das Premierenpublikum alle Darsteller, Musiker und Kreativen mit langanhaltendem Stehapplaus für die gezeigten Leistungen. Folgevorstellungen sind bis 18. April 2022 disponiert.

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