„Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“

Sonderausstellung des Ruhr Museums auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein

Vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961, schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei einen Vertrag über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte. Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen war das wichtigste in einer Reihe von internationalen Verträgen, die dringend benötigte Arbeitskräfte nach Deutschland brachten. „Gastarbeiter*innen“ kamen seit den 1950er-Jahren in die damalige Bundesrepublik. Anfangs als Arbeitskräfte auf Zeit angeworben, änderte sich ihr Blick auf Deutschland in den folgenden Jahren und aus der Fremde wurde eine zweite Heimat.

Plakat zur Sonderausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“. © Ruhr Museum, Gestaltung: Uwe Loesch

Zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zeigt das Ruhr Museum auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein, gefördert durch das Auswärtige Amt und die RAG-Stiftung sowie unter der Schirmherrschaft von Michelle Müntefering, Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, vom 21. Juni bis zum 31. Oktober 2021 Fotografien des Istanbuler Fotografen Ergun Çağatay (* 15. Januar 1937 in Izmir, † 15. Februar 2018 in Istanbul). Seine Bilderwelten stellen nicht nur individuelle Migrationserfahrungen zweier Generationen in Deutschland in den Mittelpunkt, sondern thematisieren auch die Fragen der Gegenwart nach Integration, Identität und Teilhabe.

Blick in die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“. © Ruhr Museum, Foto: Andrea Kiesendahl

„Die Sonderausstellung setzt ein Denkmal in unseren Herzen und Köpfen“, so Staatsministerin Michelle Müntefering. „Durch die Geschichten und Erfahrungen der Menschen bekommt Zuwanderung ein Gesicht, besser gesagt: viele Gesichter. Und gerade hier im Ruhrgebiet wissen wir, wie wichtig diese Gesichter und Geschichten für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind, die nur aus Vielfalt Stärke gewinnt.“

Die Ausstellung

Die Sonderausstellung des Ruhr Museums auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein gibt Einblick in die türkisch-deutschen Lebenswelten der ersten und zweiten Generation türkeistämmiger Migrant*innen. Die Fotografien entstanden im Rahmen eines Projekts der Pariser Agentur Gamma über Arbeitsmigration aus dem globalen Süden, Südeuropa und Kleinasien nach Mittel- und Nordeuropa. Von Ende März bis Anfang Mai 1990 besuchte Ergun Çağatay Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg. Dabei entstanden 3.500 Fotografien aus Arbeitswelt, Gemeinschafts- und Familienleben. Er fotografierte Türkeistämmige jeden Alters in Einzel- und Gruppenporträts, bei ihrer Arbeit und ihren Familien zu Hause, bei Festen, Kulturveranstaltungen und Versammlungen in den Moscheen. Er machte Aufnahmen von Jugendlichen oder begleitete eine Demonstration gegen das neue Ausländergesetz. „Nie zuvor wurde das Thema des türkischen Lebens in Deutschland in solcher Breite und so facettenreich fotografisch dokumentiert“, so Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein. „In seiner umfassenden Reportage wirft Çağatay einen interessierten Blick auf die Welt der türkischen Migrant*innen und zeigt auch, wie die türkische Einwanderung Deutschland verändert hat.“

Blick in die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“

Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl von 116 der eindrucksvollsten Bilder Ergun Çağatays. Davon sind 32 Bilder im Großformat 100 x 150 cm, die anderen werden im Format 54 x 80 cm gezeigt. Eine mediale Installation bietet Einblicke in die Arbeitsweise des Fotografen, und acht eigens für die Ausstellung produzierte Videointerviews mit Zeitzeug*innen schlagen eine Brücke in die Gegenwart.

Blick in die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“

Ergun Çağatays Fotografien vergegenwärtigen eine Zeit, in der sich Deutschland in eine multikulturelle Gesellschaft verwandelte. Dass er im Frühjahr 1990 zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung zum Zeitzeugen zweier historischer Epochen wurde, als sich die politischen Kräfte wie in einem Schwebezustand befanden, verleiht seiner Reportage besondere Bedeutung. Viel mehr noch, wenn man bedenkt, dass seine Reportage auch eine Art Zwischenbilanz exakt auf der Hälfte des Weges vom Anwerbeabkommen bis in unsere Gegenwart darstellt.

Die Gliederung der Ausstellung

Die Fotografien im Hauptraum der Sonderausstellung sind chronologisch nach den Stationen der Reise von Ergun Çağatay im Frühjahr 1990 angeordnet. „Im Zentrum der Ausstellung haben wir uns für die großformatige Präsentation von 32 Motiven (im Format 100 x 150 cm) aus allen fünf Städten entschieden, die uns als besonders bedeutsam erschienen und die eine Essenz der Ausstellung zeigen“, so Stefanie Grebe, Co-Kuratorin der Ausstellung und Leiterin der Fotografischen Sammlung des Ruhr Museums. „Es ist wie eine Ausstellung in der Ausstellung. Die Bilder korrespondieren untereinander, mit den an den Wänden hängenden 84 in chronologischer Folge gehängten Fotografien der Städtereise des Fotografen und der medialen Installation ‚Annäherungen‘. Die großen Fotografien im Stil der Bildreportage vermitteln, wie direkt der Fotograf mit den Abgebildeten kommunizierte.“

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Den Anfang macht Hamburg. Hier fotografiert Ergun Çağatay von Ende März bis Anfang April 1990. Nur einige Tage hält sich der Fotograf in Hamburg auf, beginnt dabei den Themenfächer seiner Deutschlandreise aufzuschlagen. Nicht zufällig fotografiert er als erstes in der Schiffswerft Blohm+Voss, sind doch die meisten türkeistämmigen Arbeiter in der hanseatischen Eisen- und Metallverarbeitung tätig. Er besucht die Familie eines der Werftmitarbeiter und porträtiert sie. Er fotografiert in einem Obst- und Gemüsegeschäft, auf dem Altonaer Flohmarkt, auf dem Großmarkt und in der Ravzah-Moschee in Hamburg-St. Georg. Bemerkenswerte Bildfolgen sind auch den Wartenden in der Ausländerbehörde und Demonstrierenden gegen die Verschärfung des Ausländergesetzes gewidmet. Im traditionsreichen Bieber-Haus neben dem Hauptbahnhof untergebracht, ist die Ausländerbehörde für Çağatay ein Ort, wo „Angst und Beklemmung eine nervöse Atmosphäre“ erzeugen. In der Großkundgebung gegen das neue Ausländergesetz – die umfangreichste Hamburger Bildserie – macht sich die angestaute Enttäuschung vieler Zuwanderer über mangelnde gesellschaftliche Teilhabe Luft.

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Im April ist Ergun Çağatay in Köln unterwegs. Die Domstadt am Rhein kennt Ergun Çağatay schon von früheren Besuchen, hat dort aber zuvor noch nicht fotografiert. Mit über 1.400 Aufnahmen entsteht in Köln das größte Konvolut seiner Fünf-Städte-Reise. Die Aufnahmen aus den Ford-Werken in Niehl – davon allein vierzehn in der Ausstellung – bilden das größte Kontingent. In Köln erschließen sich dem Fotojournalisten neue Themen: Er dokumentiert die berufliche und sozialpädagogische Bildung türkeistämmiger Jugendlicher, begegnet Türk*innen und Türkeistämmigen in unterschiedlichen Branchen – als Metzger, Kfz-Mechaniker, als Inhaber eines Kebab Salons oder von Lebensmittelgeschäften –, verfolgt eine Demonstration linksextremistischer Gruppen und besucht zwei Moscheen. Es ist die Zeit des Ramadan und in der DITIB-Moschee in Köln-Ehrenfeld gibt es keinen freien Platz mehr. Ein besonderer Höhepunkt der türkisch-deutschen Kulturszene ist das Arkadaş Theater, das Ergun Çağatay bei der Aufführung einer berühmten Satire des türkischen Autors Aziz Nesin besucht und dabei das Ensemble porträtiert.

Blick in die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“

Ende April trifft Ergun Çağatay in Werl ein. Er stattet der unmittelbar nach seinem Deutschland-Aufenthalt am 13. Mai 1990 offiziell eröffneten Fatih-Moschee einen Besuch ab. Dass es sich um die erste neuere Moschee in der Bundesrepublik handelt, der die Stadtväter des Marienwallfahrtsortes ein Minarett genehmigten, ist so sensationell, dass er eigens einen Abstecher dorthin unternimmt. Ergun Çağatay erlebt das Freitagsgebet, die Predigt und fotografiert auch die noch völlig leere Moschee von innen und außen. Auch Szenen, die sich beiläufig am Rande abspielen, wecken seine Aufmerksamkeit. Als er einen Blick in die Koranschule wirft, versuchen sich die Schüler gerade durch die arabische Schrift des aufgeschlagenen Koran zu buchstabieren.

Blick in die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“

Ende April bis Anfang Mai 1990 ist Ergun Çağatay zum ersten Mal in der seit einem halben Jahr nicht mehr geteilten Stadt Berlin. In Berlin sind Zugewanderte aus der Türkei seltener Industriearbeiter*innen als vielmehr Kleinunternehmer*innen, und dem Bezirk Kreuzberg verleihen sie seinen unverwechselbaren Charakter. Tagelang geht Ergun Çağatay durch die Straßen, besucht den farbenprächtigen Türkischen Basar, dokumentiert Grabschändungen auf dem ältesten islamischen Friedhof Deutschlands und sucht Onkel Yusufs Männercafé „Munzur“ auf. Er ist als Gast auf einer Hochzeit im anatolischen Stil, auf einer Beschneidungsfeier, und am Kottbusser Tor in Kreuzberg lernt er die Mitglieder der später legendären Jugendgang „36 Boys“ kennen. An der ehemaligen Zonengrenze fotografiert er den „Polenmarkt“ und am Leuschnerdamm die buntbemalte, inzwischen löchrig gewordene Mauer, bevor er voller Neugierde in den Ostteil der Stadt wechselt. Dort begleitet er den Mitinhaber der Tempelhofer Obst- und Gemüsehandlung „Fruta“ bei der Lieferung von Frischware in seine neuen Filialen.

Die Familie von Hasan Hüseyin Gül, Hamburg. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

Ergun Çağatays letzte Station ist Duisburg. Mit der Ankunft im Ruhrgebiet im Mai 1990 werden die Aufnahmen von Ergun Çağatay mit einem Mal dunkler. Er betritt eine ihm bis dahin fremde Welt, die untertägige Welt eines Steinkohlenbergwerks. Bei seinem Besuch der Zeche Walsum muss er die Batterien aus seiner Kamera entfernen und auf ein werkseigenes Blitzgerät umsteigen, um kein Schlagwetter auszulösen. Er beobachtet und fotografiert Bergleute bei der Personenfahrung, bei Instandhaltungs-, Ausbau- und Transportarbeiten. Von Gerätschaften, Stützen- und Rohrleitungssystemen mitunter förmlich umklammert, erscheinen die Porträtierten einzeln oder im Team teils ausgeleuchtet, teils vom Dunkel umhüllt, wenn nur noch Stirnlampen als Lichtquelle dienen. Freimütiger als in Hamburg, Köln oder Berlin nimmt der Fotograf in Duisburg die Gelegenheit wahr, das private Umfeld der Arbeiter und ihrer Familien zu erkunden. Er fotografiert auf Straßen und in Hinterhöfen der Bezirke Walsum und Hamborn und besucht drei Familien zu Hause. In Duisburg, auf der letzten Station seiner Deutschland-Reise, findet er schließlich auch den erhofften persönlichen Zugang zum Leben türkeistämmiger Familien. „Vielleicht ist es die auf bergmännischer Kameradschaft aufbauende sprichwörtliche Solidarität im Revier, die das Misstrauen Eingewanderter gegenüber einem auf Durchreise befindlichen türkischen Fotografen abbauen half“, so Dr. Peter Stepan, einer der Co-Kurator*innen der Ausstellung und Herausgeber des Katalogs.

In der zentralen Medieninstallation „Annäherungen“ im Hauptraum der Ausstellung werden die wichtigsten Themen aus dem fast 3.500 Fotografien umfassenden Konvolut in einem Bilderstrom präsentiert. Knapp 400 Sequenzen dokumentieren Ergun Çağatays Streifzüge durch Deutschland und ermöglichen so einen Einblick in seine Motivsuche. Sie veranschaulichen seine Arbeitsweise und die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen er sich seinen Bildthemen annähert.

In der Polsterfertigung bei Ford, Köln-Niehl. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

In den flankierenden Seitenkabinetten werden acht Video-Interviews gezeigt, die eigens für die Ausstellung geführt wurden und eine Brücke in die Gegenwart schlagen. In Deutschland lebende Persönlichkeiten verschiedener Generationen aus Kunst, Musik, Wissenschaft, Sport, Journalismus, Politik und Gastronomie kommen zu Wort, die in besonderer Weise den öffentlichen Diskurs zum Thema deutsch-türkische Migration geprägt haben. Die Besucher*innen erhalten Einblick in Geschichte und persönliche Geschichten, migrantische Erfahrungen und Lebensentwürfe der Einwanderungsgesellschaft.

Zu Wort kommen der Schriftsteller und Übersetzer Yüksel Pazarkaya, die Journalistin Aslı Sevindim, die Soziologin Necla Kelek, der Investigativ-Journalist Günter Wallraff, der Sternekoch Ali Güngörmüş, die ehemalige Profi-Fussballerin Tuğba Tekkal, die Musikerin Derya Yıldırım und der Antirassismus-Experte Derviş Hızarcı. (Video-Interviews abrufbar unter: www.ruhrmuseum.de/Videointerviews-Cagatay)

Porträt der Inhaber des Obst- und Gemüsegeschäfts „Mevsim“, Weidengasse, Köln-Eigelstein. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

Ein weiteres Kabinett zeigt neben der Biografie Ergun Çağatays Vintage-Prints, Kontaktabzüge und Publikationen des Fotojournalisten. Ebenso wird eine Kurzchronologie der türkischen Migration in einem Kabinett präsentiert.

Die Entstehungszeit

Ergun Çağatays Reise fällt in eine politisch turbulente Phase: Es ist die Zeit nach dem Fall der innerdeutschen Mauer im November 1989 und vor der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Bei seinen Streifzügen durch Deutschland bewegt sich Ergun Çağatay in einer Zeit des Umbruchs, in der sich alte Grenzen auflösten und neue Räume eröffneten. Auch die immer noch anhaltende Diskussion um Mitsprache und gesellschaftliche Teilhabe von Minderheiten im wiedervereinigten Deutschland nimmt hier ihren Anfang.

Die Monate zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung waren eine besondere Zeit. Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 hatte die innen- und außenpolitische Balance und damit auch das deutsch-türkische Verhältnis verändert. 1990 setzte die Gentrifizierung ein und verdrängte viele Bewohner*innen Kreuzbergs – ein Prozess, der bis heute weiter voranschreitet.

Döner-Imbiss im „Türkischen Basar“, stillgelegter Hochbahnhof Bülowstraße, Berlin-Schöneberg. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

Die Umwälzungen von 1989 bis 1990 zogen auch Entlassungen und Ausweisungen nach sich, um Bürger*innen der ehemaligen DDR Arbeitsplätze zu bieten. Auch türkeistämmige Arbeitskräfte waren davon betroffen. Ausländerfeindlichkeit und rassistische Übergriffe nahmen vor allem in den neuen Bundesländern sprunghaft zu.

Ergun Çağatay fängt diesen flüchtigen Zustand des Dazwischen-Seins fotografisch ein und spürt dem gesellschaftlichen Wandel nach. Es sind kleine Geschichten, die aber im Rückblick exemplarisch für die neue Epoche einer zusammenwachsenden Stadt stehen.

Das Kulturprogramm

Während der Laufzeit der Ausstellung findet ein umfangreiches und partizipativ angelegtes kulturelles Rahmenprogramm auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen statt. Es umfasst unter anderem ein öffentliches Symposium, eine Lesereihe, Vorträge, partizipative Stadtteil- und Schulprojekte, Kochkurse, Exkursionen sowie eine deutsch-türkische Kulturnacht mit Familienangeboten und einem Bühnenprogramm. Das Kulturprogramm bindet namhafte Repräsentant*innen der türkeistämmigen Community in Deutschland ein – vor allem der dritten und vierten Generation, die unter anderem als Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Musiker*innen etc. den gegenwärtigen kulturellen Diskurs in Deutschland mitprägen. So wird den individuellen Migrationserfahrungen, Erinnerungen und Familiengeschichten der Kinder und Enkel*innen der sogenannten Gastarbeiter*innen Raum gegeben und ein direkter Bezug zur gegenwärtigen Diskussion um Teilhabe und Identität hergestellt.

Onkel Yusufs Männercafé „Munzur“ in der Oranienstraße, Berlin-Kreuzberg. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

„Im kulturellen Rahmenprogramm kommen die Kinder und Kindeskinder der von Ergun Çağatay dokumentierten ersten und zweiten Generation zu Wort und schlagen eine Brücke in die Gegenwart“, so Frau Dr. Alexandra Nocke, Co-Kuratorin der Ausstellung und verantwortlich für Konzeption und Entwicklung des Kulturprogramms. „Es wird deutlich, wie vielfältig und divers die deutsch-türkischen Lebenswelten heute sind.“

Der Katalog

Das von Dr. Peter Stepan herausgegebene Katalogbuch „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ präsentiert nahezu 190 der eindrucksvollsten Bilder von Ergun Çağatay. Es ist zweisprachig Deutsch und Türkisch. Ein einführender Essay zeichnet die damalige Reise des Fotografen ausführlich nach. In verschiedenen Themenbeiträgen kommen insbesondere auch türkeistämmige Autor*innen der jüngeren und älteren Generation zu Wort. Sie teilen mit den Leser*innen ihre persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Familiengeschichten. So öffnen Ergun Çağatays Fotografien den Raum für unterschiedlichste Betrachtungen und Interpretationen. Eine umfangreiche Chronologie ruft uns Schlüsseldaten aus Politik, Gesellschaft und Kultur zur Einwanderung aus der Türkei und Präsenz Türkeistämmiger in Erinnerung.

Der 304 Seiten starke Katalog kostet 29,95 € und erscheint in der Edition Braus, Berlin, eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG. ISBN-Nummer 978-3-86228-224-1.

Das Magazin

Das Magazin „Wir sind hier.“ erscheint anlässlich des 60. Jahrestags der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens unter der Schirmherrschaft von Michelle Müntefering, Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt. Die Herausgeberin Dr. Alexandra Nocke lässt auf 72 Seiten die dritte und vierte Generation Türkeistämmiger mit Essays zu Wort kommen. Darunter sind z. B. die Journalistin Ferda Ataman, der Sozialaktivist Ali Can aus Essen, der CORRECTIV Journalist Hüdaverdi Güngör, die Slam Poetin Aylin Celik oder die Schriftstellerin Dilek Güngör.

Abstich in den von der türkischen Firma Metas übernommenen Berliner Stahlwerken, Borsig-Gelände, Berliner Straße, Berlin-Tegel. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

Ihre Essays werden flankiert von Bildern der ersten bis zur vierten Generation von verschiedenen Fotograf*innen, darunter Henning Christoph, Candida Höfer, Guenay Ulutuncok, Mehmet Ünal oder Metin Yılmaz.

Das Magazin wurde gefördert durch das Auswärtige Amt und die RAG-Stiftung. Es ist in Deutsch und teilweise auf Türkisch verfasst. Die Auflage beträgt 15.000 Stück. Es ist kostenlos in den teilnehmenden Museen in Deutschland erhältlich oder steht als Download unter www.ruhrmuseum.de/magazin-cagatay zur Verfügung.

Die Herausgeberin Dr. Alexandra Nocke: „Die im Magazin versammelten Momentaufnahmen auf Fotos und in Texten sind wie einzelne Teile eines Mosaiks, das so vielfältig und divers ist wie die türkeistämmigen Communities in Deutschland heute. So werden die Fotografien Çağatays aus der Vergangenheit Teil unserer Gegenwart und bereichern einen aktuellen Diskurs um Zugehörigkeit und Heimat(en).“

Der Instagram-Kanal

Erstmalig gibt es zu einem Ausstellungsprojekt im Ruhr Museum auch ein eigenes Social-Media-Profil. Der Instagram-Kanal @60JahreAlmanya bewirbt, begleitet und dokumentiert die Ausstellung im Ruhr Museum und vor allem das umfangreiche partizipative Begleitprogramm in Essen. Der Kanal lädt eine junge, auch nicht akademische, Social-Media-affine und/oder fotointeressierte Zielgruppe ein, sich mit den Inhalten der Ausstellung und den Themen des Gesamtprojekts auseinander zu setzen, sowie mit den Ausstellungsmacher*innen und Protagonist*innen in den Austausch zu treten.

Der Fotograf

Ergun Çağatay ist einer der namhaftesten Fotografen und Fotojournalisten der Türkei. International bekannt wurde er durch seine Fotoreportagen, Ausstellungsprojekte und Buchpublikationen. Am 15. Januar 1937 in Izmir geboren, studiert er ab 1958 nach seinem Abschluss am Istanbuler Robert College an der Rechtsfakultät der Istanbuler Universität auf Wunsch seines Vaters Jura. Das ungeliebte Studium, durch seinen Militärdienst unterbrochen, gibt er nach dem dritten Jahr auf.

1964 beginnt Ergun Çağatay seine berufliche Laufbahn als Texter in einer Werbeagentur. Er meldet sich auf die Stellenanzeige einer Zeitung, die Auszubildende im Journalismus sucht, und arbeitet fortan als Journalist – die Fotografie folgt erst im zweiten Schritt. 1968 entstehen die ersten Aufnahmen des Autodidakten. Ab 1968 arbeitet er als Fotojournalist für die Agentur Associated Press. Danach ist er für verschiedene Agenturen und Unternehmen tätig, darunter Gamma in Paris und Time Life in New York. 1972 heiratet er die Norwegerin Kari Wulff. Im selben Jahr ist die Geburt der Tochter Yasemin, 1975 kommt sein Sohn Erol zur Welt. Am 15. Juli 1983 wird der Fotograf am Pariser Flughafen Orly Opfer eines von drei armenischen ASALA-Terroristen verübten Attentats (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia). Neun Menschen kommen ums Leben, 56 werden verletzt. Mit 35 Prozent Verbrennungen und Hautverlust verbringt Ergun Çağatay nach einem mehrtägigen Koma eineinhalb Jahre im Militärkrankenhaus Percy von Clamart bei Paris.

Gruppenbild mit neun Mitgliedern der „36 Boys“ vor ihrem Tag, Berlin-Kreuzberg. Stehend v.l.n.r.: Ender Aras, Taha Iraki, Semih, Hüseyin Bozkurt, Tuncay Karadeniz. Sitzend: Ercan Civelek, Muzzafer Tosun „Muci“, Erkan Usta, Erkan Ketenci. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

Nach seiner Genesung fertigt er als erster eine Fotoserie illustrierter Manuskripte aus dem Topkapı-Museum in Istanbul an. In den Jahren danach bereist er mit der Kamera Europa und Zentralasien. 1990 entstehen nahezu 3.500 Aufnahmen im Rahmen seiner Reportage „Türken in Deutschland 1990 – Die zweite Generation“.

Seine Fotografien erscheinen in vielen internationalen Magazinen und Büchern. Mit der Gründung der Agentur Tetragon widmet sich Ergun Çağatay verstärkt Eigenproduktionen. Ergun Çağatay veröffentlichte selbst drei Bücher, darunter „Turkic Speaking Peoples – 2000 Years of Art and Culture from Inner Asia to the Balkans“ (München: Prestel Verlag 2006). Unter dem Titel „Fünfzig Jahre durch meine Linse“ richtet das Istanbuler Ortaköy Afife Jale Kültür Merkezi Ergun Çağatay 2014 eine Retrospektive aus. Zur Jahreswende 2016/17 findet die erste Präsentation von nahezu fünfzig Aufnahmen aus dem Projekt „Türken in Deutschland 1990“ in der Botschaft der Republik Türkei in Berlin statt. 2017 erscheint die Reportage über Glauben auf dem Balkan aus Bulgarien und Mazedonien. Die Studioausstellung der in Berlin entstandenen Fotografien der Reportage „Türken in Deutschland“ war 2018 im Märkischen Museum in Berlin zu sehen. Wenige Wochen vor Eröffnung der Ausstellung stirbt Ergun Çağatay nach einer Herzoperation am 15. Februar 2018 im Alter von 81 Jahren in Istanbul.
Entwürfe für ein Einwanderungsdenkmal auf der 24-Meter-Ebene

Das Einwanderungsdenkmal auf Zollverein

Begleitend zur Sonderausstellung werden auf der 24-Meter-Ebene des Ruhr Museums vom 21. Juni bis 31. Oktober 2021 Entwürfe für ein Einwanderungsdenkmal auf Zollverein präsentiert. Die Stiftung Zollverein greift hier eine Idee der Staatsministerin Michelle Müntefering auf. Das Denkmal wird allen Menschen gewidmet sein, die nach Deutschland kamen, um Arbeit zu finden. Die von Dr. Necmi Sönmez kuratierte Präsentation zeigt die Entwürfe von sechs zeitgenössischen Künstler*innen: Ulf Aminde (Berlin) & Manuel Gogos (Bonn), Özlem Günyol & Mustafa Kunt (Frankfurt am Main), Claus Föttinger (Düsseldorf), missing icons (Hamburg), Nasan Tur (Berlin) und Isken-der Yediler (Berlin). Die Besucher*innen sind eingeladen die Entwürfe zu kommentieren und diskutieren. Eine namhafte Jury wird sie im Spätsommer bewerten. Die Präsentation dient als Grundlage für die weiteren Schritte hin zu einem Denkmal für die Arbeitsmigration nach Deutschland auf Zollverein.
Entwürfe für ein Einwanderungsdenkmal auf der 24-Meter-Ebene

Das Projekt

„Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ ist ein deutsch-türkisches Kooperationsprojekt. Nachdem eine erste Auswahl von Fotografien bereits in der Türkischen Botschaft (Berlin, 2016–2017) sowie im Märkischen Museum (Berlin, 2018) zu sehen war, wird die umfangreiche Sonderausstellung dieser historisch und fotografisch so bedeutenden Bildserie im Ruhr Museum auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein gezeigt. 2022 wandert sie in das Museum für Hamburgische Geschichte (2. Februar bis 6. Juni 2022) und 2022/2023 in das Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin (8. Juli 2022 bis 7. Februar 2023).

Zwei Bergleute kurz vor Schichtende in einem Personenwagen älterer Bauart, Bergwerk Walsum, Duisburg. © Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg

„Das Ergebnis ist ein beeindruckendes Panorama der türkisch-deutschen Lebenswelt. Es ist zugleich ein Zeitdokument, eine Art Zwischenbilanz exakt auf der Hälfte des Weges von dem Anwerbeabkommen bis in die Gegenwart, das die Bundesrepublik in dem Moment ihrer Auflösung als geteilter Frontstaat im Kalten Krieg hin zur vielfältigen multikulturellen Gesellschaft mitten in Europa beschreibt“, sind sich Prof. Dr. Hans-Jörg Czech, Direktor und Vorstand Stiftung Historische Museen Hamburg, Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor Ruhr Museum und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein, Prof. Bettina Probst, Direktorin Museum für Hamburgische Geschichte, Paul Spies, Direktor Stiftung Stadtmuseum Berlin und Prof. Dr. Elisabeth Tietmeyer, Direktorin Museum Europäischer Kulturen Staatliche Museen zu Berlin einig.

In Istanbul, Ankara und Izmir, der Geburtsstadt des Fotografen, wird die Ausstellung, organisiert durch das Goethe-Institut, erstmalig und parallel in der Türkei zu sehen sein.
Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ im Ruhr Museum Essen. Personen im Bild, von rechts nach links: Bärbel Bergerhoff-Wodopia (Mitglied des Vorstands der RAG-Stiftung), Meltem Nurgül Kücükyilmaz (Wissenschaftliche Mitarbeit und Projektkoordination), Stefanie Grebe (Leiterin Fotografische Sammlung des Ruhr Museums), Michelle Müntefering (Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt und Schirmherrin der Ausstellung), Dr. Peter Stepan (Initiator des Projekts und Herausgeber des Katalogs), Dr. Alexandra Nocke (Projektleiterin und Kuratorin des Kulturprogramms) und Prof. Heinrich Theodor Grütter (Direktor des Ruhr Museums und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein). © Ruhr Museum; Foto: Peter Wieler

Allgemeine Informationen

Alle Veranstaltungen werden unter den jeweils geltenden Sicherheits- und Hygienestandards der geltenden Coronaschutz-Verordnung stattfinden. Änderungen sind jederzeit möglich. Aktuelle Informationen unter www.ruhrmuseum.de

Die Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ ist vom 21. Juni bis zum 31. Oktober 2021 täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, der Eintritt beträgt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schüler und Studierende unter 25 Jahren haben freien Eintritt.

Zeche Zollverein, Schacht XII, Koksbohlenbunker


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