Die Spielzeit 2021/22 am Theater Bielefeld

„Hemmungslose Freundlichkeit“

„Hemmungslose Freundlichkeit“ lautet das Motto der Saison 2021/22 am Theater Bielefeld – eine Redewendung, die aus einem kollektiven Impuls der Ensembles als Reaktion auf den rechtsextremen Anschlag in Hanau im Februar 2020 entstand. Unmittelbar nach diesem schrecklichen Ereignis unterbrachen die Darsteller*innen nach Vorstellungen den Schlussapplaus und riefen auf zu einem Lächeln statt Tatenlosigkeit, zu einem Danke statt Hoffnungslosigkeit. Die Reaktion war immer dieselbe: Im Zuschauerraum kam Beifall auf, das Publikum erhob sich, die auf der Bühne versammelten Darsteller*innen, Techniker*innen, Assistent*innen, Mitarbeiter*innen fielen ein. Und für einen Moment stand niemand allein.

Stadttheater Bielefeld

Jede*n ergriff in diesen Momenten ein intensives Gefühl von Gemeinschaft, ein Gefühl, das Theater im Innersten ausmacht – und das seither fehlt. Denn diese Vorstellungen waren die letzten Gelegenheiten, in denen man Schulter an Schulter in der Menge stehen konnte. Ein winziges, unerbittliches Virus hat uns im letzten Jahr vieles genommen, die Sicherheit, die Unbeschwertheit, die Ausgelassenheit. Auch Hemmungslosigkeit und Freundlichkeit hatten es nicht leicht.

Nichtsdestotrotz hat uns die Pandemie nicht zu schlechteren Menschen gemacht. Gerade zu Beginn dieser herausfordernden Zeit brach sich eine Solidaritätswelle Bahn, die neue Wege suchte, freundlich zu sein. Doch im Alltag hemmt der gebotene Infektionsschutz unvermeidlich Gesten von Freundlichkeit. So klein diese Gesten erscheinen mögen, erkennen wir durch ihr Fehlen gerade ihre Kraft: Sie stiften das Gefühl, gesehen zu werden und dazuzugehören. Sie unterscheiden nicht zwischen Angehörigen und Fremden, zwischen Geschlechtern, Religionen, Hautfarben – freundlich kann man zu jeder*m sein. Sie sind der Funke, aus dem Großes entstehen kann: ein Gegenmittel gegen Einsamkeit und Hass. Natürlich kann ein Lächeln allein nicht die Welt retten. Aber es kann ein Anfang sein.

Das Theater Bielefeld freut sich darauf, im Herbst seine Türen weit zu öffnen und alle einzuladen, hemmungslos freundlich zu sein. Viele neue Produktionen, aber auch lieb gewonnene Stücke, die in den vergangenen Spielzeiten coronabedingt kaum oder gar nicht gezeigt werden konnten, stehen auf dem Spielplan.

Die Premieren der Spielzeit 2021/22

Das Musiktheater eröffnet die Spielzeit mit der Uraufführung „Odysseus’ Heimkehr“ (Premiere 29. August 2021) – ein Werk, das auf Claudio Monteverdis „Il ritorno d´Ulisse in patria“ basiert und von dem jungen Komponisten Sebastian Schwab ins Heute überführt wird. Traumatisiert von Krieg und Irrfahrt kehrt Odysseus nach 20 Jahren unerwartet zurück in seine Heimat und fordert sein angestammtes Recht auf den Thron und seine Frau Penelope, die inzwischen zur eigenständigen Herrscherin geworden ist. Die Nebenbuhler sind für ihn kein Problem, doch was empfindet Penelope? Das Theater Bielefeld spinnt Monteverdis Oper weiter, taucht ein in die weibliche Perspektive und verleiht nicht nur Penelope eine eigene, moderne Stimme, sondern dem ganzen Werk ein neues Klanggewand. Eine Frau steht auch in dem turbulenten Musical „The Goodbye Girl“ (Premiere 2. Oktober 2021) im Mittelpunkt des Geschehens: Paula McFadden, ehemalige Broadway-Tänzerin mit Teenie-Tochter, wird von ihrem Lebensgefährten sitzengelassen. Ihre Wohnung hat er auch gleich weitervermietet, und als der neue Mieter nachts vor der Tür steht, fliegen erst einmal die Fetzen. Doch die Zwangs-WG der drei ungleichen Menschen entwickelt eine überraschende Eigendynamik. Märchenhaft geht es dagegen in Antonin Dvořáks „Rusalka“ (Premiere 27. November 2021) zu. Die Nixe Rusalka sehnt sich danach, ein Mensch zu werden, seit sie sich in einen schönen Schwimmer verliebt hat. Doch als ihr Wunsch erfüllt wird, währt das Liebesglück nur kurz. Unvorhersehbar und verschlungen wie ein Labyrinth gibt sich Richard Strauss’ Oper „Ariadne auf Naxos“ (Premiere 5. März 2022). Ariadne wird von dem Prinzen Theseus verlassen. In ihrer Trauer erhält sie unversehens Gesellschaft von einer Impro-Theatertruppe um die blitzgescheite Zerbinetta. Doch bevor sich zwischen den beiden Protagonistinnen so etwas wie eine freundschaftliche Beziehung aufbauen kann, kündigt sich eine gänzlich neue, rauschhafte Perspektive für Ariadne an. „Der Besucher“ (Premiere 28. April 2022) – die zweite Kammeropern-Uraufführung, die die Bühnen und Orchester dank der Förderung NEUE WEGE des Landes NRW in Auftrag geben konnte – bietet Neues Musiktheater von und (nicht nur) für junge Leute, das auf vielschichtige Weise das Thema „Fremdsein“ behandelt. Außerdem stehen Puccinis „La Bohème“ (Premiere 29. Januar 2022), Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ (Premiere 4. Juni 2022) und die deutsche Erstaufführung von Christan Josts „Egmont“ (Premiere 23. April 2022) auf dem Programm – Produktionen, die in den vergangenen Spielzeiten coronabedingt nicht stattfinden konnten. Neben der Wiederaufnahme von „The Black Rider“ (Wiederaufnahme 9. Oktober 2021) ist zudem ab 14. Mai 2022 eine weitere spartenübergreifende Produktion im Stadttheater geplant.


„The Goodbye Girl“ (Premiere 2. Oktober 2021, Stadttheater)

„The Goodbye Girl“ – nach dem gleichnamigen Film von Herbert Ross (1977); Musik: Marvin Hamlisch; Liedtexte: David Zippel; Buch: Neil Simon; Deutsche Bearbeitung: Laura Friedrich Tejero (weibliche Rollen) & Roman Hinze (männliche Rollen); Inszenierung: Thomas Winter; Choreografie: Dominik Büttner; Bühne, Kostüme: Sebastian Ellrich; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Frederike Haas (Paula McFadden, ehemalige Broadway-Tänzerin), Romina Markmann (Lucy, ihre zwölfjährige Tochter), Nikolaj Alexander Brucker (Elliot Garfield, ein Schauspieler, der neue Mieter), Amanda Whitford (Mrs. Crosby, eine große afroamerikanische Frau, Haus-Managerin), Julia Waldmayer (Donna Douglas, eine junge Tänzerin, Paulas Freundin; Choreografische Assistenz & Dance Captain), Karina Rapley (Jenna, eine junge Tänzerin, Paulas Freundin/Regieassistentin/Ratcliffe), N. N. (Melanie, Lucys Freundin), N. N. (Cynthia, Lucys Freundin), Carlos Horacio Rivas (Billy/Mark, ungarischer Regisseur der off-Brodway-Proktion „Richard III.“/Ricky Simpson), Andrew Chadwick (Tänzer/Lovell), Samuel Chung (Tänzer/Richmond/Produktionsleiter), Vladimir Lortkipanidze (Hastings), Seung-Koo Lim (Buckingham), Franziska Hösli (Freundin), Hansol Yoo (Ehefrau), Yun-Geon Choi (Ehemann). Tryout-Premiere: 29. Dezember 1992, Shubert Theatre, Chicago. Broadway-Premiere: 4. März 1993, Marquis Theatre, New York City. West End-Premiere: 17. April 1997, Albery Theatre, London. Deutschsprachige Erstaufführung: 14. Oktober 2005, „Alte Mälzerei“, Mosbach. Deutschsprachige Erstaufführung in dieser Übersetzung: 2. Oktober 2021, Stadttheater Bielefeld.

Dramatiker Neil Simon, der das Drehbuch zu dem Comedy-Drama „The Goodbye Girl“ (1977) geschrieben hatte, tat sich 1992/1993 mit dem Komponisten Marvin Hamlisch („A Chorus Line“) und Texter David Zippel zusammen, um den Film für die Musical-Bühne zu adaptieren. Nach einer Tryout-Produktion am Shubert Theatre in Chicago feierte „The Goodby Girl“ am 4. März 1993 mit Bernadette Peters (Paula McFadden) und Martin Short (Elliot Garfield) in der Inszenierung von Michael Kidd am Marquis Theatre Broadway-Premiere, musste allerdings nach 188 Vorstellungen am 15. August 1993 bereits wieder schließen.

Die ehemalige Broasway-Tänzerin Paula McFadden wird von ihrem Lebensgefährten Tony unvermittelt sitzen gelassen, der auch gleich noch die gemeinsame Wohnung, die sie mit ihrer zwölfjährigen Tochter Lucy bewohnt, weitervermietet hat. Eines nachts steht der rechtmäßige neue Mieter Elliot Garfield vor der Wohnungstür und es kommt zum Streit. Notgedrungen kommen Elliot und Paula zu einem Waffenstillstand und bilden eine streng regulierte Wohngemeinschaft. Während beide versuchen, trotz ihrer Meinungs- und Temperamentsunterschiede so friedlich wie möglich zusammenzuleben, fühlen sie sich zueinander hingezogen…


„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ (Wiederaufnahme 9. Oktober 2021, Stadttheater)

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ – nach der alten Volkssage „Der Freischütz“ von Johann August Apel; Musik und Texte: Tom Waits; Buch: William S. Burroughs; Deutsche Bearbeitung: Wolfgang Wiens; Original­in­sze­nie­rung: Robert Wilson; Inszenierung, Bühne: Michael Heicks; Choreografie: Gianni Cuccaro; Kostüme: Anna Sörensen; Video: Sascha Vredenburg; Dramaturgie: Anne Christine Oppermann; Musikalischer Leiter: William Ward Murta. Darsteller: Christina Huckle (Stelzfuß), Stefan Imholz (Erbförster Kuno, Herzog), Thomas Wolff (Förster Bertram), Nicole Lippold (Anne, seine Frau), Leona Grundig (Käthchen, deren Tochter), Jan Hille (Schreiber Wilhelm), Nikolaj Alexander Brucker (Jägers­bur­sche Robert/Wilderer/Georg Schmid), Oliver Baierl (Wilhelms Onkel/Herzog), Kjell Brutscheidt (Bielefelder Studio) (Bote des Herzogs/Erscheinung/Vogel/Wärter), Melissa Cosseta (Brautjungfer/Erscheinung/Vogel), Noriko Nishidate (Brautjungfer/Stelzfuß’ Double/Erscheinung/Vogel), Tommaso Balbo (Brautjungfer/Junger Kuno/Erscheinung/Vogel/Wärter), Simon Wolant (Brautjungfer/Wilhelms Double/Jagdgehilfe/Erscheinung/Vogel/Wärter). Uraufführung: 31. März 1990, Thalia-Theater, Hamburg. Premiere: 12. September 2020, Wiederaufnahme: 9. Oktober 2021, Stadttheater Bielefeld.

„The Black Rider“ ist eine moderne Musiktheater-Version von „Der Freischütz. Eine Volkssage“, der ersten Geschichte einer Sammlung von Geister- und Spukgeschichten, die Johann August Apel (* 17. September 1771 in Leipzig, † 9. August 1816 in Leipzig) 1811 im ersten Band des Gespensterbuches zusammen mit Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun) herausgegeben hat, Friedrich Kind hat auf dessen Grundlage in enger Zusammenarbeit mit Carl Maria von Weber das Opernlibretto zu „Der Freischütz“ geschrieben. Hamburg hatte sich als erste „Musical-Stadt“ in Deutschland etabliert, und Thalia-Intendant Jürgen Flimm war an einem anspruchsvollen Gegenentwurf zu den beiden Lloyd-Webber-Produktionen „Cats“ (Premiere in Hamburg: 18. April 1986) und „Phantom der Oper“ (Premiere in Hamburg: 29. Juni 1990) gelegen. Er verpflichtete für die Neugestaltung der Freischütz-Sage den amerikanischen Regisseur Robert Wilson, der sich den Songschreiber Tom Waits und den Schriftsteller William S. Burroughs (Buch) ins Boot holte. Robert Wilson und Tom Waits hatten ihre eigenen Drogen-Erfahrungen gesammelt und wollten die Geschichte der Freikugeln als „Analogie zu den Verheißungen der Heroinschüsse“ verstanden wissen. William S. Burroughs war auf geradezu makabre Weise für das Thema prädestiniert, er hatte am 6. September 1951 unter Alkoholeinfluss aus Versehen bei einem mutwilligen Wilhelm-Tell-Spielchen seine eigene Frau erschossen. Dramaturg Wolfgang Wiens übersetzte die fragmentarischen Texte nur teilweise ins Deutsche und trug damit entscheidend zum witzig-schrägen Libretto bei. Nach seiner spektakulären Uraufführung am Thalia-Theater in Hamburg (Premiere: 31. März 1990) ist das gleichermaßen schräge wie romantische Musical „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ mit überwältigendem Erfolg um die Welt gegangen – am 12. September 2020 feierte es am Stadttheater Bielefeld Premiere als spartenübergreifende Produktion von Musiktheater, Schauspiel und Tanz.

Die Geschichte kennt man: Der Schreiber Wilhelm hat sich in die Försterstochter Käthchen verliebt, und auch sie erwidert seine Gefühle. Doch der standesbewusste Förster Bertram besteht auf einem Jäger als Schwiegersohn, für ihn wäre der junge Jägersbursche Robert genau der richtige Kandidat: „Es muss ein Jäger sein, so will´s der Brauch!“ Doch Käthchen liebt nun einmal den Schreiber Wilhelm, so stellt der Vater schließlich eine Bedingung: Mit einem „Probeschuss“ soll Wilhelm seine Zielsicherheit unter Beweis stellen, um sich als Schwiegersohn zu qualifizieren. Doch dafür muss Wilhelm erst einmal schießen lernen. Dabei erweist er sich als ziemlich untalentiert, und nimmt nur zu gern die Hilfe des undurchsichtigen Pegleg (ein Slangausdruck für den Teufel) an, der ihm eine Handvoll „Freikugeln“ zur Verfügung stellt, mit denen man alles treffen kann, was der Schütze treffen will. Damit ist auch der untalentierte Schreiber ein treffsicherer Schütze, der leichte Erfolg macht ihn regelrecht süchtig, und so sind die Freikugeln bald aufgebraucht. Daher muss sich Wilhelm in der Wolfsschlucht neue Kugeln gießen, doch diesmal verlangt Pegleg seinen Preis: „Seven bullets. Six are yours and hit the mark. One is mine and hit the dark.“

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