„The Wave (Die Welle)“


„The Wave (Die Welle)“ – nach dem Bericht von Ron Jones; Musik, Libretto: Or Matias; Deutsche Bearbeitung: Jana Mischke; Regie: Christoph Drewitz; Choreografie: Hannah Moana Paul; Bühne: Veronika Tupy; Kostüme: Anett Jäger; Lichtdesign: Simon Wagner; Dramaturgie: Arne Beeker; Musikalische Leitung: Juheon Han. Darsteller: Christian Fröhlich (Ron), Hanna Kastner (Ella), Lukas Sandmann (Robert), Celina dos Santos (Jess), Samuel Bertz* (James), Malcolm Quinnten Henry* (Stevie), Alexander Findewirth*, Carolina Juliana Hat*, Paolo Möller*, Lena Poppe*, Alexander Rapp, Kathrin Schreier*. *Studierende der Musik und Kunst Privatuniversität Wien (MUK). Band: Juheon Han (Piano), Andreas Demelius/Jürgen Haider (Reed 1 (Fl/Kl/Alto Sax]), Manfred Grillnberger/Bernhard Parkfrieder (Reed 2 [Kl/BassKl/Tenor Sax]), Philipp Buttinger/Hermann Mayr (Posaune), Malva Hatibi/Sera Fuchsluger (Cello), Bruno Bründlinger/Johannes Pichler (Gitarre), Gerald Kiesewetter/Roland Kramer (Kontrabass), Ewald Zach/Erwin Drescher (Drums). Online-Premiere aus dem Schauspielhaus: 20. März 2021, Landestheater Linz (Aufzeichnung der Generalprobe am 5. November 2020).



„The Wave (Die Welle)“


Der Unterrichtsversuch von Ron Jones auf der Musicalbühne/„Netzbühne“ des Landestheaters Linz


Im April 1967 unterrichte Ron Jones an der Cubberley High School in Palo Alto, Kalifornien Geschichte. Um seinen Schülern zu erklären, wie das deutsche Volk die Aktionen der Nationalsozialisten gutheißen konnte, beschloss er, eine soziale Bewegung zu schaffen, um die Anziehungskraft des Faschismus zu demonstrieren. Ron Jones führte in seinem Klassenzimmer eine Reihe von Übungen durch, bei denen Disziplin und Gemeinschaft im Vordergrund standen, um bestimmte Merkmale der Nazibewegung zu verdeutlichen. Doch die „The Third Wave“ genannte Bewegung geriet außer Kontrolle. Aufgrund der Leichtigkeit, mit der sich die Schüler vereinnahmen und manipulieren ließen, brach Ron Jones das Experiment ab, indem er in einer Schulversammlung den begeisterten Anhängern der „Dritten Welle“ einen direkten Vergleich mit Jugendorganisationen im nationalsozialistischen Deutschland vorführte.

Lediglich die Schülerzeitung „The Cubberley Catamount“ berichtete aktuell über die Geschehnisse. Neun Jahre später verfasste Ron Jones selbst einen Bericht, in dem von einer Dauer des Experiments von fünf Tagen die Rede ist. 1981 wurden die Ereignisse in der Regie von Alex Grasshoff unter dem Titel „The Wave“ für das US-amerikanische Fernsehen verfilmt, auf dessen Grundlage der gleichnamige Jugendroman von Todd Strasser unter dem Pseudonym Morton Rhue entstand, der 1984 in Deutschland unter dem Titel „Die Welle. Bericht über einen Unterrichtsversuch, der zu weit ging“ erschien. 2008 wurde der Stoff unter der Regie von Dennis Gansel mit Jürgen Vogel als Gymnasiallehrer Rainer Wenger verfilmt. Eine erste Musicaladaption „The Wave. An original rock musical“ von Olaf Pyttlik wurde 2001 am Royal Manitoba Theatre Centre in Winnipeg, Manitoba, Kanada uraufgeführt, die Deutsche Erstaufführung ging am 28. März 2008 am Theater der Stadt Greiz in Thüringen über die Bühne. 2003 wurde das Musical „Finix“ von Michael Schnack (Musik) und Tommy Tatzber (Libretto) in einer Inszenierung von Georg Staudacher mit Ethean Freeman (Robert Korn), Patricia Aulitzky (Linda Sallinger), Peter Lesiak (Robert Baumann), Markus Pol (Alex Kutscher) und weiteren Studierenden und Absolventen des Performing Center Austria (Premiere 10. März 2003) am Wiener Raimundtheater gezeigt. Zu der Zeit war Michael Schnack Künstlerischer Leiter des Performing Center Austria, heute leitet er den Studiengang Musikalisches Unterhaltungstheater an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, mit dem das Landestheater Linz bei der Produktion „The Wave (Die Welle)“ kooperiert hat. „The Wave“ wurde 2019 an der Johnny Mercer Writers Colony bei Goodspeed Musicals entwickelt.

Aufgrund der COVID-10-Pandemie und den daraus resultierenden Einschränkungen für Präsenzveranstaltung an den Theatern und Konzerthäusern konnte das Landestheater Linz „The Wave (Die Welle)“ – die vierte Uraufführung der Musicalsparte des Landestheaters – im November 2020 nicht vor Publikum im Schauspielhaus präsentieren. Da dies aktuell immer noch nicht möglich ist, zeigt das Landestheater die Produktion vom 20. März bis 24. April 2021 als Video on demand auf der „Netzbühne“. Das mag zwar die „bestmögliche Alternative“ (Website des Landestheaters) zur Aufführung im Theatersaal sein, ist aber eben nicht live. Abgesehen von Einschränkungen bei der Bild- und Tonqualität gibt ein Video im Netz meines Erachtens auch nur einen Bruchteil der bei einer Theatervorstellung erlebbaren Eindrücke wieder, es ist lediglich ein Ersatz für das reale Erlebnis. Ich habe auch noch von niemandem etwas Gegenteiliges gehört. Meine Vorbehalte gegen das Format haben sich auch bei „The Wave (Die Welle)“ bestätigt, jeder muss für sich selbst entscheiden, wie kompromissbereit man ist.

Um seinen Schülern zu erklären, wie sich das faschistische Regime in Deutschland etablieren konnte und warum so viele Deutsche angeblich nichts vom Holocaust wussten, beschließt Geschichtslehrer Ron Jones, im Unterricht die soziale Bewegung „The Wave“ zu etablieren, in der die Schüler strengen Verhaltensnormen folgen müssen, da sie andernfalls aus der Bewegung ausgeschlossen werden. Die Schülerin Ella begehrt gegen die Ideen ihres Lehrers auf und wird folglich von der weiteren Teilnahme an dem in den Augen des Lehrers harmlosen Experiment ausgeschlossen. Doch die Prinzipien „Kraft durch Disziplin“, „Kraft durch Zusammenhalt“, „Kraft durch Taten“ und „Kraft durch Stolz“ finden immer mehr Anhänger in der Schülerschaft, mit der Zeit gerät das Experiment außer Kontrolle und weist immer mehr totalitärere Züge auf, weshalb der Geschichtslehrer dieses bei einer Schulversammlung abbrechen möchte. Dafür kündigt er an, dass der Anführer der Bewegung über Video zugeschaltet werde. Nachdem der Bildschirm geraume Zeit dunkel bleibt und der Verdacht aufkommt, es gebe gar keinen Anführer, präsentiert Ron die Filmaufnahme einer Hitler-Rede…

In seiner Inszenierung rückt Christoph Drewitz den Geschichtslehrer Ron sowie die fünf Schüler*innen Ella, Robert, Jess, James und Stevie in den Fokus der Ereignisse. Christian Fröhlich als Geschichtslehrer Ron, Hanna Kastner als Klassenbeste Ella, die gern Gedichte u. a. von Langston Hughes (* 1. Februar 1902 in Joplin, Missouri, † 22. Mai 1967 in New York) liest, Lukas Sandmann als Robert, der von allen nur als „Hackfresse“ gehänselt wird und sich in der Bewegung zum ersten Mal akzeptiert fühlt, und Celina dos Santos als Jess, die eigentlich Camila heißt, wenig Geld hat und daher angefangen hat, zu klauen, aus dem Musicalensemble des Landestheaters Linz agieren zusammen mit den Studierenden des Studiengangs Musikalisches Unterhaltungstheater an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien Samuel Bertz als James, der ein Auge auf Ella geworfen hat, sich aber ihrer Meinung nach die falschen Freunde ausgesucht hat, Malcolm Quinnten Henry als Stevie, der zwar ein schlechter Schüler ist, aber dafür ein guter Basketballspieler, Alexander Findewirth, Carolina Juliana Hat, Paolo Möller, Lena Poppe, Alexander Rapp und Kathrin Schreier in einem Einheitsbühnenbild von Veronika Tupy auf der Drehbühne, das durch verschiebbare, semitransparente Zwischenwände die unterschiedlichen Handlungsorte andeutet. Die Wände dienen sowohl als Projektionsflächen als auch als Leinwand für die Schatten der dahinter agierenden Darsteller*innen. Die Kostüme von Anett Jäger spiegeln zeitgemäß den Kleidungsstil junger Leute wider, die blauen Uniformen im zweiten Akt lassen den Figuren nicht den Hauch von Individualität. Die Studierenden der MUK agieren als Schüler authentisch, aber auch Hanna Kastner, die noch vor Abschluss ihrer Musical-Ausbildung an den Performing Arts Studios in Wien (Bühnenreifeprüfung 2009) die Wendla in in „Frühlingserwachen“ am Wiener Ronacher (Premiere 21. März 2009) spielte, weiß 12 Jahre später als Klassenbeste Ella zu überzeugen, die sich als Einzige nicht von dem Enthusiasmus anstecken lässt, den die Bewegung auslöst. Auch gesanglich weiß sie in ihren Soli für sich einzunehmen, so weit man dies bei der eher als befriedigend zu bezeichnenden Tonqualität des Streams beurteilen kann. Lukas Sandmann („Danger“ in „Fack ju Göhte – Das Musical“, WERK7 – Theater im Werksviertel) verwandelt sich als Außenseiter Robert in der Bewegung glaubwürdig zum Fanatiker, dessen Welt zusammenbricht, als bei der Schulversammlung die Hitler-Rede auf dem Bildschirm abgespielt wird.

„The Wave (Die Welle)“ ist noch bis zum 24. April 2021 als Video on demand unter www.landestheater-linz.at verfügbar, Tickets zum Preis von 0 bis 120 Euro berechtigen an zwei aufeinander folgenden Tagen zum Anschauen der Aufzeichnung der Generalprobe am 5. November 2020.

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