„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“


„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ – nach der alten Volkssage „Der Freischütz“ von Johann August Apel; Musik und Texte: Tom Waits; Buch: William S. Burroughs; Deutsche Bearbeitung: Wolfgang Wiens; Original­in­sze­nie­rung: Robert Wilson; Inszenierung, Bühne: Michael Heicks; Choreografie: Gianni Cuccaro; Kostüme: Anna Sörensen; Video: Sascha Vredenburg; Dramaturgie: Anne Christine Oppermann; Musikalischer Leiter: William Ward Murta. Darsteller: Christina Huckle (Stelzfuß), Stefan Imholz (Erbförster Kuno), Thomas Wolff (Förster Bertram), Nicole Lippold (Anne, seine Frau), Leona Grundig (Käthchen, deren Tochter), Jan Hille (Schreiber Wilhelm), Nikolaj Alexander Brucker (Jägerbur­sche Robert/Wilderer/Georg Schmid), Oliver Baierl (Wilhelms Onkel/Herzog), Evgueniy Alexiev (Bote des Herzogs/Hirsch/Wärter), Noriko Nishidate (Gans/Geier/Erscheinung), Tommaso Balbo (Brautjungfer/Hirsch/Frosch/Wärter/Erscheinung), Carla Bonsoms i Barra (Brautjungfer/Taube/Eisbär/Erscheinung ). Lucifer’s Bullett Band. Uraufführung: 31. März 1990, Thalia-Theater, Hamburg. Premiere: 12. September 2020, Stadttheater Bielefeld.



„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“


Das Gruselmärchen als spartenübergreifende Produktion am Stadttheater Bielefeld


„The Black Rider“ ist eine moderne Musiktheater-Version von „Der Freischütz. Eine Volkssage“, der ersten Geschichte einer Sammlung von Geister- und Spukgeschichten, die Johann August Apel (* 17. September 1771 in Leipzig, † 9. August 1816 in Leipzig) 1811 im ersten Band des Gespensterbuches zusammen mit Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun) herausgegeben hat, Friedrich Kind hat auf dessen Grundlage in enger Zusammenarbeit mit Carl Maria von Weber das Opernlibretto zu „Der Freischütz“ geschrieben. Hamburg hatte sich als erste „Musical-Stadt“ in Deutschland etabliert, und Thalia-Intendant Jürgen Flimm war an einem anspruchsvollen Gegenentwurf zu den beiden Lloyd-Webber-Produktionen „Cats“ (Premiere in Hamburg: 18. April 1986) und „Phantom der Oper“ (Premiere in Hamburg: 29. Juni 1990) gelegen. Er verpflichtete für die Neugestaltung der Freischütz-Sage den amerikanischen Regisseur Robert Wilson, der sich den Songschreiber Tom Waits und den Schriftsteller William S. Burroughs (Buch) ins Boot holte. Robert Wilson und Tom Waits hatten ihre eigenen Drogen-Erfahrungen gesammelt und wollten die Geschichte der Freikugeln als „Analogie zu den Verheißungen der Heroinschüsse“ verstanden wissen. William S. Burroughs war auf geradezu makabre Weise für das Thema prädestiniert, er hatte am 6. September 1951 unter Alkoholeinfluss aus Versehen bei einem mutwilligen Wilhelm-Tell-Spielchen seine eigene Frau erschossen. Dramaturg Wolfgang Wiens übersetzte die fragmentarischen Texte nur teilweise ins Deutsche und trug damit entscheidend zum witzig-schrägen Libretto bei. Nach seiner spektakulären Uraufführung am Thalia-Theater in Hamburg (Premiere: 31. März 1990) ist das gleichermaßen schräge wie romantische Musical „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ mit überwältigendem Erfolg um die Welt gegangen – am 12. September 2020 feierte es am Stadttheater Bielefeld Premiere als spartenübergreifende Produktion von Musiktheater, Schauspiel und Tanz.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Stadttheater Bielefeld, Christina Huckle (Stelzfuß). © Joseph Ruben

Die Geschichte kennt man: Der Schreiber Wilhelm hat sich in die Försterstochter Käthchen verliebt, und auch sie erwidert seine Gefühle. Doch der standesbewusste Förster Bertram besteht auf einem Jäger als Schwiegersohn, für ihn wäre der junge Jägersbursche Robert genau der richtige Kandidat: „Es muss ein Jäger sein, so will´s der Brauch!“ Doch Käthchen liebt nun einmal den Schreiber Wilhelm, so stellt der Vater schließlich eine Bedingung: Mit einem „Probeschuss“ soll Wilhelm seine Zielsicherheit unter Beweis stellen, um sich als Schwiegersohn zu qualifizieren. Doch dafür muss Wilhelm erst einmal schießen lernen. Dabei erweist er sich als ziemlich untalentiert, und nimmt nur zu gern die Hilfe des undurchsichtigen Pegleg (ein Slangausdruck für den Teufel) an, der ihm eine Handvoll „Freikugeln“ zur Verfügung stellt, mit denen man alles treffen kann, was der Schütze treffen will. Damit ist auch der untalentierte Schreiber ein treffsicherer Schütze, der leichte Erfolg macht ihn regelrecht süchtig, und so sind die Freikugeln bald aufgebraucht. Daher muss sich Wilhelm in der Wolfsschlucht neue Kugeln gießen, doch diesmal verlangt Pegleg seinen Preis: „Seven bullets. Six are yours and hit the mark. One is mine and hit the dark.“

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Stadttheater Bielefeld, Stefan Imholz (Erbförster Kuno) und Thomas Wolff (Förster Bertram). © Joseph Ruben

Die umjubelte Uraufführung am Thalia Theater in Hamburg war im Wesentlichen das Resultat der gemeinsamen Probenarbeit von Robert Wilson, Tom Waits und William S. Burroughs mit den Schauspielern an „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“. Intendant Michael Heicks hat die wilde, einzigartige Mischung aus deutscher Romantik, Drogentrip und Cabaret als gemeinsame Produktion der drei Sparten Gesang (Bariton Evgueniy Alexiev), Schauspiel (Oliver Baierl, Leona Grundig, Jan Hille, Christina Huckle, Stefan Imholz, Nicole Lippold und Thomas Wolff) und Tanz (Tommaso Balbo, Carla Bonsoms i Barra, Noriko Nishidate) am Theater Bielfeld auf die Bühne gebracht, als Gast ist Musicaldarsteller Nikolaj Alexander Brucker involviert. Gemeinsam mit Videodesigner Sascha Vredenburg und Kostümbildnerin Anna Sörensen zeigt Michael Heicks eine magische Kunstwelt, die der vielbeschworenen Romantik des deutschen Waldes und den dort herrschenden Traditionen zwar ihre Reverenz erweist, aber ebenso rasch in andere Sphären entführen kann. Sein Bühnenbild besteht aus drei höhenverstellbaren, neigbaren Tableaus und der ebenfalls neigbaren Spielfläche, die von Videodesigner Sascha Vredenburg mit einem dynamischen Projektionsmapping passgenau bespielt werden und völlig ohne traditionelle Bühnenprospekte auskommt. Lediglich Erbförster Kuno „thront“ die meiste Zeit auf einer Art Hochsitz oberhalb des Orchestergrabens an der vorderen Bühnenkante. „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ ist in Bielefeld auf den aufgrund der COVID-19-Pandemie erforderlichen Mindestabstand von 1,5 Metern inszeniert und damit kann auf alternative Schutzmaßnahmen wie Schutzmasken, Mund-Nase-Bedeckungen oder flüssigkeitsundurchlässige Visiere verzichtet werden. Extrem auffällig ist der Mindestabstand jedoch nur beim Schlussapplaus, die Inszenierung hätte auch ohne COVID-19-Pandemie so aussehen können, wenn man von einigen Kleinigkeiten absieht, die allerdings sorgsam einstudiert wurden. Die neunköpfige „Lucifer’s Bullett Band“ setzt unter der Musikalischen Leitung von Musical-Kapellmeister William Ward Murta Tom Waits’ teilweise eigenwillige Partitur im Orchestergraben präzise um, der mitunter gewollt schräge Sound ist meilenweit von klassischen Broadway-Musicals entfernt. Die große Bandbreite an Musikstilen von Jazz über Varieté und Vaudeville zu Alternative Rock findet sich auch in der Instrumentierung wieder, beispielhaft sei hier die Singende Säge genannt.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Stadttheater Bielefeld, Jan Hille (Schreiber Wilhelm). © Joseph Ruben

Da die Schauspielerinnen und Schauspieler in Bielefeld allesamt gut singen können, war Michael Heicks’ Entscheidung, einen Großteil der Rollen dem Schauspielensemble anzuvertrauen, goldrichtig. Das präzise Schauspiel verleiht dem gleichermaßen absurden, humorvollen wie tragischem Spiel dementsprechend Intensität. Christina Huckle übernimmt als elegante Dämonin für die Zuschauer mit dem Titelsong „Come on along with the Black Rider, we’ll have a gay old time, lay down in the web of the black spider, I’ll drink your blood like wine.“ die Rolle der Conférencière und weiß auch und vor allem als verführerischer, unwiderstehlicher Stelzfuß für sich einzunehmen. Thomas Wolf hat als traditionsbewusster Förster Bertram mit Liebe nicht viel am Hut, er möchte einen Jäger für seine Tochter zum Mann: „Liebe kann man nicht essen. Es muss ein Jäger sein, so will’s der Brauch. Vergiss das Herz, denk an den Bauch: Kommt was in den Magen rein, folgt das Herz von ganz allein.“ Für ihn ist Nikolaj Alexander Brucker als Jägerbursche Robert, der den Wald wie seine Westentasche kennt, der ideale Heiratskandidat für seine Tochter, die ihn aber ihrerseits abgrundtief unsympathisch findet. Den Leitsatz „Tu, was du willst.“, den Stefan Imholz ihm als Erbförster Kuno mit auf den Weg gibt, kann er drehen und wenden wie will, er kann sich einfach nicht damit anfreunden. Nicole Lipphold als Anne, seine Frau, steht dagegen auf der Seite ihrer Tochter, sie unterstützt ihre Liebe zum Schreiber Wilhelm. Leona Grundig wehrt sich als Käthchen nach Kräften gegen die vom Vater geplante Hochzeit mit dem potenten Jägerburschen, doch irgendwann beschleichen sie auch bei Wilhelm in Anbetracht des geforderten Probeschusses böse Vorahnungen. Jan Hille verkörpert den verliebten Schreiber Wilhelm, der im Liebesduett „The briar and the rose“ schön mit Leona Grundig harmoniert. Als ideales Opfer erliegt er den Verlockungen des Bösen und endet wie Georg Schmid – in der Zwangsjacke ebenfalls überzeugend von Nikolaj Alexander Brucker verkörpert – schließlich im Wahnsinn.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Stadttheater Bielefeld, Leona Grundig (Käthchen). © Joseph Ruben

Am Ende der zweistündigen, kurzweiligen Vorstellung – es wird ohne Pause gespielt – gab es verdient langanhaltenden Applaus für alle Akteure. Folgevorstellungen von „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ sind augenblicklich bis 27. Oktober 2020 im Verkauf, die nächsten Vorstellungen stehen am Sonntag, 20. September, Mittwoch, 23. September, Donnerstag, 8. Oktober, Freitag, 9. Oktober und Dienstag 27. Oktober 2020 auf dem Spielplan.

„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“, Stadttheater Bielefeld, Nikolaj Alexander Brucker (Georg Schmid). © Joseph Ruben

Kommentare