„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“

Eine Sonderausstellung im Ruhr Museum auf der 12-Meter-Ebene der Kohlenwäsche

Plakat zur Ausstellung „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. © Ruhr Museum, Gestaltung: Uwe Loesch

Die Metropole Ruhr blickt mit der Gründung des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk im Jahre 1920 – dem späteren Kommunalverband Ruhrgebiet und heutigen Regionalverband Ruhr (RVR) – auf eine einhundertjährige Verbandsgeschichte zurück, die Anlass gibt, sich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser bedeutenden Region in einer Sonderausstellung zu widmen und die Besonderheiten dieser „anderen Metropole“ herauszuarbeiten.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Prolog

Der heutige Regionalverband Ruhr hat viel für das Zugehörigkeitsgefühl und die Identität der Region getan, indem er mithalf, nicht die Goldgräbermentalität und den Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern die Planung zur DNA des Ruhrgebiets zu machen. Gleichzeitig arbeitete er, als sich das Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als montanindustrielle Region aufzulösen begann, an einem neuen Image. Dabei hat er Höhen und Tiefen erlebt, stand Ende der 1930er und der 1990er Jahre vor der Auflösung und wurde in den 1970er Jahren vorübergehend marginalisiert. Aber es gibt ihn heute noch als ältesten Kommunalverband in Deutschland, der seit hundert Jahren gemeinsam mit anderen Verbänden und Vereinigungen wie dem Initiativkreis Ruhrgebiet und dem Verein pro ruhrgebiet ein Garant für die Einheit des Ruhrgebiets ist und bleibt.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Eingangsbereich der 12-Meter-Ebene

2020 wird im Rahmen der Kommunalwahl am 13. September die Verbandsversammlung des Regionalverbands Ruhr von der Bevölkerung des Ruhrgebiets direkt gewählt – zum ersten Mal nach hundert Jahren. Das ist ein Meilenstein in der Geschichte und in der demokratischen Legitimation des Verbands und zugleich ein Beweis für die wachsende Identität und Selbstständigkeit der Metropole Ruhr. Parallel dazu erarbeitet der Regionalverband Ruhr zurzeit zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder einen Regionalplan, der die Zukunft des Ruhrgebiets über Jahre bestimmen soll. Als Regionalverband oder über seine Töchter wie die Ruhr Tourismus GmbH, die Business Metropole Ruhr GmbH oder die Kultur Ruhr GmbH ist der RVR an diesen beschriebenen Zukunftsprojekten maßgeblich oder sogar federführend beteiligt. Insofern ist der Regionalverband Ruhr entgegen vieler Unkenrufe ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Player in dem vielstimmigen Konzert um die Zukunft der Metropole Ruhr. „Der RVR wird mit der ersten direkten Wahl der Verbandsversammlung durch die Bürger*innen politisch gefestigt und rückt stärker als bisher in das Interesse der Öffentlichkeit“, so Karola Geiß-Netthöfel, Regionaldirektorin des RVR. „Wir freuen uns auf die neuen Kräfte im Ruhrparlament. Ausgestattet mit dem Votum der Menschen in der Metropole Ruhr wird es ein selbstbewusstes Parlament werden, das das Ruhrgebiet als Ganzes im Blick hat. Die großen Themen Planung, Umwelt und Mobilität sind weiterhin von zentraler Bedeutung für die Arbeit des Verbandes. Eine neue Rolle wird die Frage spielen, welche Aufgabenerweiterung für den RVR sinnvoll ist. Welche Themen kann der RVR zukünftig zusätzlich für die Region leisten? Welche Themen könnten die Kommunen an den RVR übertragen? Welche Themen bleiben besser in den Händen der Kommunen? Hier bedarf es einer intensiven Diskussion und Abstimmung mit den Städten und Kreisen in der Metropole Ruhr.“

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Die Ausstellung

Die Sonderausstellung „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ zeigt vom 13. September 2020 bis zum 9. Mai 2021 die komplexe Entwicklung einer der widersprüchlichsten Regionen Europas. „Mit über 5 Millionen Bewohner*innen ist sie der größte Ballungsraum in Deutschland und gehört zu den am dichtesten besiedelten Regionen in Europa. Dabei fehlt ihr die Urbanität und vor allem die Zentralität anderer europäischer Metropolen. Sie beherbergt die meisten DAX-Unternehmen in Deutschland, dennoch liegt sie bei der Arbeitslosenzahl auf den vordersten Plätzen und findet nur schwer Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Die Metropole Ruhr hat inzwischen die höchste Zahl an Student*innen und zugleich die größte Zahl an Hartz-IV-Empfänger*innen in Deutschland. Ihr wird fortlaufend ein hoher Kultur- und Freizeitwert attestiert und doch kann sie den Vorwurf der Provinzialität nicht abstreifen“, beschreibt Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums, die Widersprüchlichkeit der Metropole Ruhr.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, steinerne Faust des Märzgefallenendenkmals aus Haltern-Bossendorf, um 1929

In sieben Abteilungen stellt die Sonderausstellung im Ruhr Museum die „Stadt der Städte“ als Verwaltungsmetropole, als politische Metropole, als Industrie-, als Infrastruktur-, als Verkehrs-, als Sport- und Veranstaltungs- sowie als Kultur- und Wissensmetropole dar.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Plakat „Der Schumann Plan verbindet Kohle und Eisen in der Europäischen Gemeinschaft“, 1951, Reproduktion; Plakat „wenn man mich fragt … ich bin dafür“, 1951, Reproduktion

Die Metropole Ruhr zerfällt in diese verschiedenen Bereiche, die sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise, mit eigenen Geschwindigkeiten und teilweise im Widerspruch zueinander entwickelt haben. Sie wurden zu Erfolgsgeschichten, zu Geschichten der Rückschläge und des Scheiterns oder des Wandels und der Transformation. Zusammen ergeben sie die Geschichte der Metropole Ruhr, die heute zu den großen europäischen Metropolen gehört. In ihrer Eigenheit und Polyzentralität unterscheidet sie sich aber deutlich von Paris oder London, so dass sie eben die „andere Metropole“ ist.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Kohlenwäsche der Schachtanlage Zollverein XII, Originalzeichnung aus dem Architekturbüro von Fritz Schupp und Martin Kremmer, Essen, Juli 1930

Denn hier war und ist immer „alles wieder anders“. Für das Ruhrgebiet wurden die gelb-schwarzen Verkehrsschilder entwickelt, die heute auf allen deutschen Bundesstraßen gelten. Es ist der Ort, an dem das Internet in Deutschland zu laufen begann und nach der Montanindustrie die Industriekultur das bundesweite Alleinstellungsmerkmal ist. Millionen überschreiten jeden Tag die Gemeindegrenzen, allerdings ohne flächen-deckenden Nahverkehr. Der Strukturwandel als Daueraufgabe, das Sich-immer-wieder-neu-erfinden ist aber ein Band, welches die Bürgerinnen und Bürger der polyzentrischen Metropole auch in Zukunft zusammenhalten wird.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Die Ausstellung zeigt über 1.000 Exponate, von über 200 Leihgebern, darunter alle wichtigen Verbände, Institutionen und Museen des Ruhrgebiets. Darüber hinaus stellen aber auch viele Privatleihgeber Exponate zur Verfügung. Angefangen bei Schriftstücken und zentralen Urkunden, wie dem Originalvertrag der sogenannten Montanunion, der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), aus dem Nationalarchiv Luxemburg, über Fotos und Plakate bis hin zu seltenen Filmdokumenten. Sie zeigt aber auch beeindruckende Modelle und Objekte. Darunter befinden sich die „Viktoria“, der Fußballwanderpokal der Deutschen Meister vor 1945, der „Bambi“ von Hape Kerkeling und ein Kostüm aus „Starlight Express“. Über kein anderes Musical werden so viele Mythen verbreitet wie über „Starlight Express“, dass es das Musical mit der längsten Spielzeit an einem Ort weltweit sei, dürfte womöglich der am häufigsten verbreitete Mythos sein. Dabei lässt der sich ganz einfach widerlegen: „The Phantom of the Opera“ wurde vor dem Lockdown seit 9. Oktober 1986 ohne Unterbrechung am Her Majesty’s Theatre in London und seit 26. Januar 1988 ohne Unterbrechung am Majestic Theatre in New York City gezeigt. „Starlight Express“ hatte dagegen mit zweiwöchiger Verspätung am 12. Juni 1988 in Bochum Premiere. Damit ist „The Phantom of the Opera“ in London das Musical mit der längsten Spielzeit an einem Ort weltweit.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Die Gliederung

Die Sonderausstellung besteht aus sieben Abteilungen, die eingerahmt werden von einem Prolog und von einem Epilog sowie einem Band aus Lichtbildern. Der Prolog beginnt im Treppenhaus und zeigt das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, den preußischen „Wilden Westen“. Die Besucher*innen werden in die Epoche der größten Industrialisierung der Region vor den 1920er Jahren zurückversetzt. Mittels historischer Fotografien, die auf die rohen Bunkerwände projiziert werden, werden die Verhältnisse am „Vorabend“ der Entstehung des Ruhrgebiets offenbart. Auf der Ausstellungsebene angekommen wird der Eingang von zwei großen, an heutige Ortsschilder erinnernden Tafeln flankiert, die alle 325 Ruhrgebietsgemeinden aus der Gründungsphase des SVR von 1920 zeigen. Im Hauptraum und seinen Seitenräumen erwartet die Besucher*innen das „neue“ Ruhrgebiet, das in den letzten 100 Jahren entstanden ist.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Laufrad einer Kreiselpumpe im Koepchenwerk Herdecke (von 1935 bis 1981 in Betrieb)

Eingerahmt wird der Ausstellungsraum auf der beeindruckenden Bunkerebene des Ruhr Museums durch ein Band aus Lichtbildern an den Außenwänden, das das emotional geprägte Bild des Ruhrgebiets und der Wahrnehmung durch seine Bewohner*innen und Besucher*innen zeigt. Nahezu 100 hinterleuchtete Fotografien von namhaften Bildchronist*innen aus den letzten 20 Jahren ergeben den Horizont, der einen emotionalen Blick auf die polyzentrische Stadtlandschaft bietet.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Karl Imhoff (* 7. April 1876 in Mannheim, † 28. September 1965 in Essen), Büste von Joseph Enseling, 1930

Die räumliche Anordnung der Abteilungen im Hauptraum beginnt chronologisch mit den 1920er Jahren. Den Anfang macht das Kapitel „Politik“. Politisch war die Situation der Metropole Ruhr Anfang der 1920er Jahre nicht entspannt. Es galt vielmehr, die revolutionäre Situation im sogenannten Ruhrkampf 1920 und die französisch-belgische Ruhrbesetzung der Jahre 1923 bis 1925 mit ihren neuen Gewalterfahrungen und Hungersnöten zu überstehen, gefolgt von der Machtergreifung und Zwangsherrschaft der Nazis, dem Bombenkrieg und dem Hungerwinter der Nachkriegszeit. Aber gerade in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dann vor allem in den 1950er Jahren etablierte sich im Ruhrgebiet ein politisches System der Kooperation zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberschaft, das für die deutsche, vielleicht sogar für die europäische politische Kultur zum Vorbild wurde. Einheitsgewerkschaft, Montanunion und Montanmitbestimmung sind hier die Stichworte sowie das für das Ruhrgebiet so typische System der „basisnahen Stellvertretung“, das vielleicht augenscheinlichste Beispiel für den Weg vom Klassenkampf zum politischen Ausgleich und Miteinander.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Gegenüber der Abteilung Politik liegt der Bereich Industrie. Auch wirtschaftlich hatte die Metropole Ruhr Anfang der 1920er Jahre ihren Höhepunkt noch vor sich. Nach der Stabilisierung in den 1920er Jahren und der anschließenden Kriegsproduktion spielte die Montanindustrie des Ruhrgebiets im Wiederaufbau und im Wirtschaftswunder die zentrale Rolle und erreichte in den 1950er Jahren ihren Produktions-, aber auch ihren Ansehenshöhepunkt. Mit der Bergbaukrise begann Ende der 1950er Jahre der lange Abschied vom Industriezeitalter, der im Grunde bis heute anhält, in der Schließung der letzten Steinkohlenzeche im Jahr 2018 aber zumindest symbolisch seinen Abschluss gefunden hat. Die Industriegeschichte des Ruhrgebiets ist und bleibt ein permanenter Transformationsprozess von der ehemals größten Montanregion Europas zu einer modernen Dienstleistungsmetropole, die ihre industriellen Wurzeln nicht verleugnet, sondern produktiv in diesen Wandlungsprozess mit einbezieht.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Bergerhoff-Gerät zur Messung von Staubniederschlag, Kühnemund Draht- und Metallfabrik Essen, 2019

Auf die Abteilungen Politik und Industrie folgt in seiner historischen Entwicklung der Versuch der Planung durch die Verwaltung. Im Frühjahr 1920 versuchte man in der Preußischen Landesversammlung – in Anlehnung an das Großberlingesetz, das die ebenfalls explodierende Reichshauptstadt zusammenführen sollte – Ordnung und Struktur in Preußens „Wilden Westen“ zu bringen, wie die Region an Rhein und Ruhr genannt wurde: Zum ersten Mal in der Geschichte des Ruhrgebiets wurden weit-reichende überkommunale Planungsaufgaben in Angriff genommen. Spätestens mit der Gründung des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk (SVR) am 4. Mai 1920 mit umfassenden Zuständigkeiten für Verkehr, Siedlung und Grün trat das Ruhrgebiet als Region in Erscheinung. Das Datum gilt heute als die Geburtsstunde der Regionalplanung in Deutschland. Aber alle Versuche, die über zwei preußische Provinzen verteilten Kommunen der Region ähnlich wie Berlin zusammenzulegen, blieben erfolglos. Das Ruhrgebiet wurde zur polyzentrischen Region mit vielfältigen und komplexen Verwaltungsstrukturen. Einerseits war und ist diese Kleinräumigkeit prägend für das Lebensgefühl der Menschen. Andererseits sind Versuche des Überwindens überkommener Verwaltungsordnungen und das Ringen um eine stärkere Einheit genauso typisch für die Region.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Fotografie: Der Ruhrschnellweg im Ausbau zwischen Mülheim und Essen, um 1960. Die Troglage im Essener Westen ist weitgehend fertiggestellt. Die Straßenbahn verlässt die Troglage noch über eine provisorische Brücke Richtung Mülheim. © LVR-Industriemuseum

An die Abteilung Verwaltung schließt sich noch im Hauptraum die Infrastruktur an. Hier wird das große Thema der Versorgung der Region thematisiert. Ohne Wasser, Energie oder Kommunikationsmittel, ohne eine intakte Umwelt wäre die Region nicht lebensfähig. Aus der Ruhr wurde durch Talsperren und Kläranlagen ein Wasserspender für Millionen. Das Essener RWE (Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk) verband durch Hochspannungsleitungen Wasserkraft mit Braunkohlestrom. Mit dem stärksten Stromnetz zum günstigsten Preis wurde der Konzern zum Marktführer – ein Verkaufsprinzip, das Schule machte in der Metropole des Massenkonsums. Auch bei der digitalen Infrastruktur der Mobilfunknetze wirkte die Ruhrwirtschaft an entscheidender Stelle. Lange vorher wurden im Industrierevier Umweltpioniere aktiv: Der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk kämpfte für Grünland und Luftreinhaltung. Seit den 1960er Jahren wehrten sich Bürgerinitiativen gegen Umweltverschmutzungen. Mit dem Niedergang von Stahl und Kohle setzte ein Paradigmenwechsel ein. Im Konzert der Metropolregionen baut das Ruhrgebiet nun auf nachhaltige und grüne Infrastruktur.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

In den flankierenden Seitenkabinetten sind die Abteilungen Verkehr, Sport- und Großveranstaltungen sowie Kultur und Wissenschaft verortet. Das Ruhrgebiet als polyzentrischer Ballungsraum ist ohne Verkehr nicht denkbar. Die Fülle der Güter- und Personentransporte waren und bleiben für die Region große Herausforderungen. Die Einrichtung, der Erhalt und der Ausbau der Verkehrswege stellten sich über die Jahre und Jahrzehnte vielfach als die sprichwörtliche Sisyphusarbeit dar, bei der das angestrebte Ziel nie ganz erreicht wird. Die Verkehrsgeschichte der Region ist deshalb immer wieder eine Geschichte des Scheiterns, der Verschlimmbesserungen, aber auch eine Geschichte genutzter Chancen. Beides liegt durchaus nah beieinander. Erfolge sind z. B. die Entwicklung des Duisburger Hafens zum weit ausstrahlenden Logistikzentrum, die Umwandlung von früheren Eisenbahnstrecken in Fahrradtrassen sowie das dichte Autobahnnetz. Problembehaftet bleibt der öffentliche Personennahverkehr. Hier stellt sich die Polyzentralität des Ruhrgebiets mit der verkehrlichen Ausrichtung auf das jeweils eigene Stadtzentrum als Hindernis für ein regionales Nahverkehrsnetz heraus.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Erfolgreich war sicherlich die Entwicklung der Metropole Ruhr als Region für Sport- und Großveranstaltungen. Sie nahm ihren Anfang in dem massenhaften Bau von Stadien der 1920er Jahre, der vor allem dem neuen Zuschauersport Fußball diente. Hinzu kam die Errichtung von zwei großen Veranstaltungshallen, der Westfalenhalle in Dortmund und der Grugahalle in Essen, wobei die Dortmunder Halle lange Zeit die größte in Deutschland war. Sie ermöglichten nicht nur Sport-, sondern auch andere Großveranstaltungen, darunter mehrere Kirchentage. Insofern hat sich das Ruhrgebiet in den letzten hundert Jahren trotz mehrerer vergeblicher Olympiabewerbungen und des dramatischen Scheiterns der Loveparade 2010 in Duisburg als Veranstaltungsregion etabliert, wobei die großen Fußballspiele einschließlich der Welt- und Europameisterschaften weiterhin die größte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Wanderpokal „Viktoria“ des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) für die Sieger in den Meisterschaften 1903–1944, Berlin, 1933, Replik

Eine absolute Erfolgsgeschichte, die immer wieder als wichtigster Gradmesser für den Strukturwandel dient, ist die Entwicklung der Metropole Ruhr in den Bereichen Kultur und Wissenschaft. Sie gründete in der Werkbund- und Folkwang-Idee Anfang des 20. Jahrhunderts und hat sich seither im Theater, der Literatur, dem Tanz, der Fotografie, dem Film und der Bildenden Kunst schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von Kunst und Arbeit beschäftigt. Ob die Folkwang-Lehrer Kurt Jooss und Pina Bausch im Tanz oder Otto Steinert in der Fotografie, ob die Ruhrfestspiele, das Schauspielhaus Bochum oder die Ruhrtriennale, die Oberhausener Kurzfilmtage, die Künstlergruppen „Junger Westen“ und „B 1“ oder die Literatur der Arbeitswelt mit der „Gruppe 61“ in Dortmund – ihnen allen ging es stets um die avantgardistische Auseinandersetzung mit der Rolle des Menschen im Industriezeitalter und die dadurch geprägte Lebens- und Arbeitswelt.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Vielleicht am charakteristischsten ist dafür die neue Leitkultur der Metropole Ruhr, die Industriekultur, die das gesamte Ruhrgebiet zur industriellen Kulturlandschaft und die ehemaligen Produktionsstätten des Industriezeitalters zu spektakulären Museen und Ausstellungshallen, aber auch zu künstlerischen Aufführungsorten werden ließ. Den Anfang dieser Entwicklung machte die Internationale Bauausstellung Emscher Park in den 1990er Jahren; den Höhepunkt hat sie mit der Ernennung der Zeche Zollverein zum UNESCO-Welterbe der Menschheit 2001 und der Metropole Ruhr zur Kulturhauptstadt RUHR.2010 erfahren.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, „Die Kauernde“, Plastik von MIlly Steger, 1927

Neu und vielleicht am bezeichnendsten für den Strukturwandel des Ruhrgebiets ist aber die Entwicklung der Wissensmetropole Ruhr. Sie existierte vor hundert Jahren noch gar nicht und begann ihre Geschichte erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Gründung der Ruhr-Universität Bochum im Jahre 1966. Danach entwickelte sie eine Dynamik wie in keiner anderen Region Europas. Heute existieren im Ruhrgebiet fünf Universitäten und knapp 20 Fachhochschulen; in der Metropole Ruhr studieren knapp 290.000 junge Menschen. Gleiches gilt für über 60 außeruniversitäre Forschungsinstitute und mehrere Max Planck-, Leibniz- und Fraunhofer-Institute, die die Metropole Ruhr nicht nur zu einer der dichtesten Hochschul-, sondern auch Forschungslandschaften in Europa machen.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Filmplakat „Jede Mene Kohle“, Winkelmann Filmproduktion GmbH, 1981

Am Ende erwartet die Besucher*innen der Epilog. Er bietet Gelegenheit zum Ausblick und zur Reflexion. Gäste haben die Möglichkeit, eine „Zeitkapsel“ zu betreten, die in ihrer spiegelnden Anmutung gleichzeitig Rückblick, Vexierbild und Ausblick darstellt. Mittels einer Projektion werden die Besucher*innen mit Wünschen, Fragen, Zukunftsvisionen sowie kritischen Reflexionen konfrontiert. Durch die gedanklichen Impulse sollen sie sich anregen lassen, eine eigene Vision für das Ruhrgebiet zu entwickeln.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Kostüm des Eisenerztenders Dustin aus dem Musical „Starlight Express“, Bochum, 2020

Die Gestaltung

Gestaltet hat die Ausstellung der Architekt Hannes Bierkämper von dem Stuttgarter Büro südstudio, der bereits zahlreiche Ausstellungen für das Ruhr Museum, zuletzt im Jahr 2016 die Ausstellung „Rock und Pop im Pott“, sowie weitere Projekte auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein realisiert hat. Die Gestaltung nimmt eines der zentralen Motive in der 100-jährigen Genese des Ruhrgebiets auf: das stetige Streben nach Struktur, Ordnung und Orientierung in einer sich permanent wandelnden Region. Im Falle der Ausstellung ist ein Exponat die Metapher. Es handelt sich um den Entwurf für ein Verkehrsschild zur Vereinheitlichung der Richtungsbezeichnungen bei Hauptverkehrsstraßen aus dem Jahr 1926. Die hier entwickelte Signalethik mittels Farbgebung und Typografie ist bis heute ein überwältigendes Beispiel für den gelungenen Ansatz zur Schaffung von Ordnung und Struktur. die RAL-Farbe 1023 nennt sich heute allgemeingültig „verkehrsgelb“. Die damals entstandene Schrifttype – DIN 1451, Engschrift – ist Sinnbild für eine sachliche Informationsvermittlung und längst ein über das Ruhrgebiet und Deutschland hinaus verwendetes System, ohne das Orientierung im Straßenverkehr nicht mehr möglich wäre.

„100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“, Blick in die Ausstellung

Das Begleitprogramm

Zur Sonderausstellung findet ein umfangreiches Begleitprogramm mit Führungen, Vorträgen, Filmen, Audioguides und Quiz statt. Es ist für Familien mit Kindern, Erwachsene, Senioren und Schulen konzipiert. Führungen in Gebärdensprache runden das Programm ab.

Der Katalog

Der Katalog zur Ausstellung „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ mit Beiträgen von Hannes Bierkemper, Vera Conrad, Heinrich Theodor Grütter Dirk-Marco Hampel, Frank Kerner, Achim Prossek, Christoph Schurian, Axel Timmermann, Uwe Wick und Andreas Zolper umfasst 304 Seiten und ca. 300 Abbildungen. Er ist im Klartext Verlag, Essen 2020, ISBN: 978-3-8375-2232-7 zum Preis von 29,95 Euro erschienen.

Hinweis zum Besuch des Ruhr Museums

Alle Veranstaltungen werden unter den jeweils geltenden Sicherheits- und Hygienestandards der Coronaschutz-Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalens stattfinden. Änderungen sind jederzeit möglich.
Aktuelle Informationen unter www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

Die Ausstellung „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ ist vom 13. September 2020 bis zum 9. Mai 2021 täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, am 24., 25. und 31. Dezember geschlossen. Der Eintritt beträgt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schüler und Studierende unter 25 Jahren haben freien Eintritt.

Kommentare