„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ am Theater Hagen


„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ – nach dem Drama von Frank Wedekind; Musik: Duncan Sheik; Buch/Songtexte: Steven Sater; Deutsche Bearbeitung: Nina Schneider; Regie: Sascha Wienhausen; Schauspiel-Regie: Anja Schöne; Choreografie: Michael Schmieder; Ausstattung: Alfred Peter; Dramaturgie: Rebecca Graitl; Musikalische Leitung: Steffen Müller-Gabriel. Darsteller: Johann Zumbült* (Melchior Garbor), Isabell Fischer* (Wendla Bergmann), Sebastian Jüllig* (Moritz Stiefel), Vera Lorenz* (Ilse), Bosse Vogt* (Hänschen, Albrecht), Simone Schuster* (Martha), Anne Schröder (Erwachsene Frauen), Ralf Grobel (Erwachsene Männer), Christian Rosprim* (Ernst, Dieter), Andreas Elias Post (Georg, Reinhold), Marlene Walker* (Thea), Jessica Denzer* (Anna), Stefan Merten (Otto, Rupert). *Studierende an der Hochschule Osnabrück. Tänzer*innen: Brandon Alexander, Gennaro Chianese, Amber Neumann (Dance Captain), Sara Peña. Off-Broadway Premiere: 19. Mai 2006, Atlantic Theatre Company, New York City. Broadway-Premiere: 10. Dezember 2006, Eugene O´Neill Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 21. März 2009, Ronacher, Wien. Premiere: 15. Juni 2019, Theater Hagen, Großes Haus.



„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“


Rebellion der Jugend


Als Frank Wedekind (* 24. Juli 1864 in Hannover, † 9. März 1918 in München) sein gesellschafts­kritisch-satirisches Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ im Oktober 1891 auf eigene Kosten beim Verlag Jean Groß in Zürich veröffentlichte, kümmerte sich der Autor nicht um Aufführbarkeit oder Publikumserfolg, erst 15 Jahre später wurde es am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen von Max Reinhardt (* 9. September 1873 in Baden bei Wien, † 31. Oktober 1943 in New York) uraufgeführt und sorgte mit seinem brisanten Inhalt in der Öffentlichkeit für Furore. Wedekinds Kritik an der Sexualmoral führte dazu, dass „Frühlings Erwachen“ wegen seiner angeblichen Obszönität verboten oder zensiert wurde. 1999 wandte sich der amerikanische Dramatiker Steven Sater an den Regisseur Michael Mayer (* 1960 in Washington, D.C.), um mit ihm und Songwriter Duncan Sheik (* 1969 in Montclair, New Jersey) an dem Stoff zu arbeiten. Nach diversen Workshops und Überarbeitungen erlebte das Rock-Musical „Spring Awakening“ am 19. Mai 2006 bei der Atlantic Theatre Company seine Off-Broadway Premiere, keine 7 Monate später folgte am 10. Dezember 2006 im Eugene O´Neill Theatre die Broadway Premiere. Nach nahezu einhellig positiven Kritiken wurde es 2007 für 11 Tony Awards nominiert, wovon es acht tatsächlich gewonnen hat, darunter Bestes Musical, Beste Musicalregie, Beste Choreographie, Bestes Musicallibretto, Beste Originalmusik und Bester Nebendarsteller. Katrin Zechner war von der darstellerischen und musikalischen Intensität dieses Musicals überzeugt und holte es nach Wien, wo es am 21. März 2009 im Ronacher seine Deutschsprachige Erstaufführung erlebte, aber nur bis zum 30. Mai 2009 zu sehen war. Die deutsche Erstaufführung der neuen Bearbeitung der Österreicherin Nina Schneider (* 1973 in Salzburg) fand als Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding am 29. Juni 2011 am Deutschen Theater München statt, Regie führte Matthias Davids. Das Theater Hagen setzt mit „Spring Awakening“ – nach „Avenue Q“ und „In den Heights von New York“ – seine Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück fort.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, theaterhagen, Ensemble. Foto Klaus Lefebvre

Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ erzählt vom Erwachsen­werden in einer deutschen Provinzstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen drei Schulkinder auf der Suche nach ihrer Sexualität: der aufgeklärte Gymnasiast Melchior Gabor, die vierzehnjährige Wendla Bergmann, die von ihrer konservativen Mutter nie aufgeklärt wurde, und der fünfzehnjährige Moritz Stiefel, der seinem besten Freund Melchior neben seinen schlechten Schulleistungen auch seine erwachende Sexualität anvertraut. Alle drei werden letzten Endes Opfer der elterlichen Moral. Wendla, deren Schwester Ina ein Kind bekommen hat, drängt ihre Mutter um Aufklärung, erfährt aber nur, dass zur Fortpflanzung große Liebe erforderlich sei. Moritz hat Probleme mit seinen erotischen Träumen, weshalb er Melchior bittet, eine schriftliche Ausarbeitung mit Illustrationen über die Fortpflanzung anzufertigen, damit er diese in Ruhe studieren kann. Wendla vollzieht mit Melchior den Beischlaf, ohne sich der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein, und wird schwanger. Wendlas Mutter will die Schande, die aufgrund der Schwangerschaft auf die Familie fallen würde, vermeiden und schleppt ihre Tochter zu einem „Engelmacher“, stellt dies aber als eine Therapie gegen Bleichsucht (Eisen­mangel­anämie) dar. Bei der Abtreibung kommt Wendla zu Tode. Moritz muss in der Schule eine Klasse wiederholen, da nur 60 Schüler in die nächste Klasse versetzt werden können, bringt aber nicht den Mut auf, seine Eltern damit zu konfrontieren, sondern wählt als Ausweg anstelle des Ärgers und der Entrüstung der Eltern den Freitod. Nachdem Melchiors illustrierte Erläuterungen zum Beischlaf bei Moritz gefunden wurden, machen ihn seine Lehrer für den Freitod seines Freundes verantwortlich. Auch seine liberale Mutter kann ihn in dieser Situation nicht mehr schützen und gibt dem Bestreben seines Vaters nach, Melchior in eine Besserungsanstalt zu bringen. Als er schließlich auf dem Friedhof von Wendlas Tod erfährt, will er seinem Leben ebenfalls ein Ende setzen, doch die Seelen von Wendla und Moritz sprechen ihm Mut zu, so dass er von seinem Vorhaben ablässt. Steven Sater kam zu der Überzeugung, dass die Musik und der Song „Those you’ve known“ die Funktion übernommen hatten, Melchior neuen Mut zum Leben zu geben, weshalb er die Gestalt des „Vermummten Herrn“, dem Melchior in Wedekinds Vorlage am Ende auf dem Friedhof begegnet, schließlich gestrichen hat.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, theaterhagen, Jessica Denzer (Anna), Marlene Walker (Thea), Isabell Fischer (Wendla Bergmann) und Simone Schuster (Martha). Foto Klaus Lefebvre

Frank Wedekind kritisiert in seinem Drama die im Wilhelminischen Kaiserreich vorherrschende bürgerliche Sexualmoral, wobei er häufig grotesk überzogene Charaktere gebraucht, die dem Werk humoristische Züge verleihen. Seit der Entstehung des Dramas hat sich das äußere Umfeld zwar grundlegend gewandelt, doch „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ zeigt, wie authentisch sich Literaturklassiker auf der Musicalbühne umsetzen lassen. Der Musikstil mit einer Mischung aus Rock-, Pop- und Folkrock-Songs ist nicht musicaltypisch, die Songs sind auch nicht handlungstragend, fügen sich aber dennoch als Monologe und Kommentare der Schulkinder aus ihrer aktuellen Sicht hervorragend in die Handlung ein. Um das Heraustreten der Charaktere aus der Handlung im ausgehenden 19. Jahrhundert während der Songs zu unterstreichen, ließ Michael Mayer in seinen Inszenierungen die Darsteller zum Singen Handmikrofone benutzen. In der vorliegenden Inszenierung lassen Regisseur Sascha Wienhausen und Anja Schöne das Stück in der Gegenwart beginnen, die Schüler*innen eines Gymnasiums versammeln sich vor Aufführungsbeginn in der Aula, um „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ von Frank Wedekind auf die Bühne zu bringen, wodurch Spiel und Realität immer wieder verschwimmen und auf die Verwendung von Handmikrofonen gänzlich verzichtet werden kann. Michael Schmieder hat mit den Darsteller*innen und vier Tänzer*innen vom Ballett Hagen mitreißende Choreografien einstudiert, wobei von Brandon Alexander, Gennaro Chianese, Amber Neumann und Sara Peña auch anspruchsvollere Hebefiguren getanzt werden. Alfred Peter spielt in den im ausgehenden 19. Jahrhundert angesiedelten Szenen mit seinen historisierende Kostümen – nicht in allen Details – auf den Stil der Entstehungszeit des Dramas an; auf der Bühne seiner Schulaula hat er die verschiedenen Handlungsorte der einzelnen Szenen der Theateraufführung in der Theateraufführung einschließlich Wald und Schwimmbad ausgesprochen realistisch in Szene gesetzt.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, theaterhagen, Johann Zumbült (Melchior Garbor) und Isabell Fischer (Wendla Bergmann). Foto Klaus Lefebvre

Das Ensemble der jungen Darsteller*innen wird von Johann Zumbült als Melchior Gabor, Isabell Fischer als Wendla Bergmann und Sebastian Jüllig als Moritz Stiefel angeführt. Wie die Schicksale der drei Figuren sehr eng miteinander verbunden sind, so trägt jeder der drei Darsteller entscheidend zum Gesamtbild der Jugendlichen bei, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Sexualität sind. Johann Zumbült nimmt man die Rolle des intelligenten und fortschrittlich denkenden Gymnasiasten Melchior Gabor problemlos ab, Melchiors Verstörung und Verzweiflung, nachdem er die Kontrolle über sich verloren und auf deren Bitte wild auf Wendla eingeschlagen hat, sind ebenfalls nachvollziehbar. Glaubhaft und gesanglich überzeugend verkörpert Isabell Fischer die nicht aufgeklärte Wendla Bergmann, die nicht weiß, wie sie plötzlich schwanger geworden ist. Sebastian Jüllig (1. Preis beim 46. Bundeswettbewerb Gesang Berlin in der Sparte Chanson sowie Preis der Bar jeder Vernunft, Berlin) ist als Melchiors bester Freund Moritz Stiefel von Zweifeln und Sehnsüchten geplagt und nimmt sich nach der gescheiterten Versetzung in die nächste Klasse und nachdem Melchiors Mutter seine verzweifelte Bitte um Hilfe ignoriert verstört das Leben. Auch die übrigen Studierenden der Hochschule Osnabrück überzeugen in ihren Rollenportraits, doch die Rollen lassen den Darstellern weniger Spielraum, sich nachhaltig ins Gedächtnis der Zuschauer zu spielen. Dies gelingt beispielsweise Bosse Vogt als Hänschen, der in dem stark von Melancholie geprägten Stück in der Masturbationsszene für Komik sorgt und auch Christian Rosprim als Ernst im Schwimmbad problemlos zum einem homosexuellen Abenteuer verführen kann.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, theaterhagen, Vera Lorenz (Ilse). Foto Klaus Lefebvre

Auch Vera Lorenz soll nicht unerwähnt bleiben, die als Bohémienne Ilse in der Künstlerwelt zu einem mutigen Mädchen herangewachsen ist und Moritz überreden möchte, mitzukommen. Sie hat mit ihrem solistisch dargebotenen Song „Das Lied des Windes“ ihren berührendsten Auftritt. Alle Erwachsenen sind in „Spring Awakening“ als reine Sprechrollen ausgelegt, die von Anne Schröder und Ralf Grobel überzeugend und klar voneinander abgegrenzt dargestellt werden. Anne Schröder unterstreicht in den unterschiedlichen Frauenrollen die Unterwürfigkeit des weiblichen Rollenverständnisses in der damaligen Zeit. Lediglich Georgs Klavierlehrerin Fräulein Großbüstenhalter – nomen est omen – lässt ihrer Lust in Georgs lebhafter Phantasie freien Lauf. Ralf Grobel macht beispielsweise als Lehrer Sonnenstich und Schuldirektor Knochenbruch eine gute Figur.

„Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“, theaterhagen, Sebastian Jüllig (Moritz Stiefel). Foto Klaus Lefebvre

Dem gesamten Ensemble ist die Spielfreude anzumerken, nicht nur bei dem emotional heftigsten Song „Völlig im Arsch“, der dem Broadway-Castalbum neben zwei weiteren Songs den Vermerk „Parental Advisory – Explicit Content“ eingebracht hat. Die siebenköpfige Band ist für die Zuschauer nicht sichtbar auf der Hinterbühne untergebracht und bringt unter der erfahrenen Musikalischen Leitung von Steffen Müller-Gabriel Duncan Sheiks Partitur mit Rock-, Pop- und Folkrock-Songs versiert über die Rampe. Langanhaltender Stehapplaus des Premierenpublikums war der verdiente Lohn für Darsteller*innen, Tänzer*innen, Musiker*innen und Kreative. Folgevorstellungen von „Spring Awakening“ sind am Theater Hagen bis zum 11. Juli 2019 disponiert, die Wiederaufnahme in der Spielzeit 2019/2020 ist für 14. September 2019 vorgesehen.

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