„Malala“ am Theater Bielefeld


„Malala“ – Musiktheater nach der Autobiografie „I Am Malala: The Story of the Girl Who Stood Up for Education and was Shot by the Taliban“ von Malala Yousafzai und dem Theaterstück „Malala“ von Gökşen Güntel, Sabine Salzmann und Thomas Sutter; Musik: Danyal Dhondy; Buch und Songtexte, Inszenierung: Nick Westbrock; Bühne und Kostüme: Ann-Sophie Paar; Choreografie und Coaching: Alina Meinold; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: André Hammerschmied. Darsteller: Susi Studentkowski (Malala Yousafzai), Alexander von Hugo (Mann [Ziauddin Yousafzai, Malalas Vater/Khushal Yousafzai, Malalas Bruder u. a.]), Judith Patzelt (Frau [Toor Pekai Yousafzai, Malalas Mutter/Moniba, Malalas beste Freundin u. a.]), Jugendliche der Initiative Angekommen in deiner Stadt Bielefeld der Walter Blüchert Stiftung (Schüler*innen/„Chor“/div. Rollen). Klavier: André Hammerschmied/Anahit Ter-Tatshatyan; Percussion: Arndt Hesse. Uraufführung: 5. Juli 2019, Rudolf-Oetker-Halle, Foyer.



„Malala“


„Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“ (Malala Yousafzai)


Malala ist elf Jahre alt, als sie am 3. Januar 2009 beginnt, für den BBC Urdu ein Internet-Tagebuch zu schreiben. Darüber, wie das Leben sich geändert hat, seit die Taliban das idyllische Swat-Tal in Malalas Heimatland Pakistan besetzt haben. Hier, in der Stadt Mingora, ist Malala aufgewachsen und geht gern zur Schule, besonders, da ihr Vater Ziauddin Yousafzai Lehrer und Schulleiter ist. Plötzlich darf sie das nicht mehr: Die Taliban stellten den Schulbesuch von Mädchen unter Strafe und verbieten neben dem Gebrauch von Unterhaltungselektronik auch traditionelle Musik und Tanz, die ihnen als Gotteslästerung gelten. Malala begehrt gegen diese Entwicklung auf. Sie erkennt, dass ein Schreibstift eine ebenso starke Waffe sein kann wie tatsächliches Kriegsgerät. Doch der Rückschlag bleibt nicht aus: Obgleich sie unter dem Pseudonym „Gul Makai“ („Kornblume“) schreibt, wird ihre wahre Identität im Dezember 2009 aufgedeckt. Am 9. Oktober 2012 – sie ist fünfzehn Jahre alt – wird ein Attentat auf sie verübt, das sie schwer verletzt überlebt.

„Malala“, Theater Bielefeld, Susi Studentkowski (Malala Yousafzai), Alexander von Hugo (Ziauddin Yousafzai) und Judith Patzelt (Toor Pekai Yousafzai). © Sarah Jonek

Nach Großbritannien in Sicherheit gebracht, erholt sich Malala – und kämpft weiter für das Recht aller Kinder auf Bildung. Am 12. Juli 2013, ihrem 16. Geburtstag, spricht Malala Yousafzai vor der Jugendversammlung der Organisation der Vereinten Nationen. Ein Jahr später – am 10. Oktober 2014 – wird sie gemeinsam mit dem Inder Kailash Satyarthi als jüngste jemals nominierte Kandidatin mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Lediglich zwei der zehn radikalislamischen Taliban, die am 9. Oktober 2012 das Attentat auf Malala Yousafzai verübt haben, wurden in einer geheimen Gerichtsverhandlung im April 2015 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, was in Pakistan 25 Jahre Haft bedeutet. Aktuell studiert Malala Yousafzai an der Elite-Universität Oxford am Lady Margaret Hall College in Birmingham Philosophie, Politik und Wirtschaft. Noch immer stößt Malalas Forderung nach Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen bei den radikalislamischen Taliban auf blinde Wut, und wie es tatsächlich um die Frauenrechte in einer patriarchalen Gesellschaft bestellt ist oder wie es mit Zwangsheirat und Ehrenmorden aussieht, ist nochmal ein anderes Thema. Bis zu einer Gesetzesänderung im Jahr 2016 gingen Ehrenmörder in Pakistan häufig straffrei aus, in der Bevölkerung wurden Ehrenmorde überhaupt nicht als Verbrechen aufgefasst.

„Malala“, Theater Bielefeld, Susi Studentkowski und Judith Patzelt. © Sarah Jonek

Basierend auf der Autobiografie „I Am Malala: The Story of the Girl Who Stood Up for Education and was Shot by the Taliban“ von Malala Yousafzai, Christina Lamb (Weidenfeld & Nicolson, London; Little, Brown and Company, New York; 2013) und dem Theaterstück „Malala“ von Gökşen Güntel, Sabine Salzmann und Thomas Sutter, das am 15. April 2018 am Atze Musiktheater Berlin uraufgeführt wurde, haben Nick Westbrock (Buch und Songtexte) und Danyal Dhondy (Musik) ein Musiktheater für drei Darsteller*innen und Chor geschrieben: Nach dem Auftritt von Susi Studentkowski (Malala Yousafzai) mit dem Song „Wer ich bin“ schildert Autor und Regisseur Nick Westbrock einzelne Episoden aus Malalas Leben anhand der historisch gesicherten Fakten, angefangen von ihrer Geburt am 12. Juli 1997 in Mingora im Swat-Tal, über ihre Schulausbildung an der Khushal School ihres Vaters, das schwere Erdbeben in Kaschmir am 8. Oktober 2005, den Einfall der Taliban im Swat-Tal, die radikalen über „Radio Mullah“ ausgestrahlten Hasspredigten von Fazal Hayat („Fazlullah“), Malalas ab dem 3. Januar 2009 (bis 12. März 2009) unter dem Pseudonym „Gul Makai“ („Kornblume“) für den BBC Urdu verfasstes Internet-Tagebuch, das Verbot des Schulbesuchs für Mädchen durch die Taliban ab dem 15. Januar 2009, die Flucht der Familie Yousafzai nach Shangla und ihre Rückkehr ins Swat-Tal im August 2009, schließlich das Attentat auf Malala am 9. Oktober 2012 und ihr Klinikaufenthalt am Queen Elizabeth Hospital in Birmingham. Das Stück endet mit ihrer Rede vor der Jugendversammlung der Organisation der Vereinten Nationen.

„Malala“, Theater Bielefeld, Susi Studentkowski (Malala Yousafzai), Judith Patzelt und Alexander von Hugo (Ziauddin Yousafzai). © Sarah Jonek

Natürlich ist die Auswahl der Episoden subjektiv und durch niemanden autorisiert, weder durch Malala selbst noch durch Augenzeugen, aber die Episoden zeichnen ein glaubhaftes, nachvollziehbares Bild des Mädchens aus Pakistan, „ein Mädchen unter vielen.“ Inwiefern dieser Leitsatz von Malala (aus der Rede vor den Vereinten Nationen) auch heute noch der Realität entspricht, nachdem sie als als jüngste jemals nominierte Kandidatin mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde und an der Elite-Universität Oxford studiert, mag jeder für sich selbst beurteilen. Danyal Dhondys Musik changiert zwischen Musical und neuem Musiktheater; seine Songs sind immer nah an der Situation, die sie emotional wahrnehmbar machen. Das Bühnenbild von Ann-Sophie Paar – eine Art „Regalsystem“ – erweist sich als ungemein robust und wandlungsfähig; innerhalb kürzester Zeit kann es von den Darsteller*innen für die einzelnen Szenen umgebaut werden. Das Kostümbild ist an den paschtunischen Hintergrund angelehnt, wobei die Kostüme tatsächlich zum Großteil aus paschtunischen Stoffen genäht sind, die Ann-Sophie Paar zufällig bei einer Stoffhändlerin gefunden hat. Das Thema scheint eine Vielzahl von Autoren zu inspirieren, neben „Malala“ von Nick Westbrock und Danyal Dhondy und dem bereits genannten Theaterstück „Malala“ von Gökşen Güntel, Sabine Salzmann und Thomas Sutter sind im deutschsprachigen Raum u. a. auch der Theatermonolog „Malala – Mädchen mit Buch“ von Nick Wood, „Malala – Ein starkes Mädchen“ von Annekatrin Schuch-Greiff, Anna Mariani sowie „My Malala“ von Sarah Kortmann, Lucia Primavera zu sehen.

„Malala“, Theater Bielefeld, Susi Studentkowski (Malala Yousafzai). © Sarah Jonek

Die 23-jährige Susi Studentkowski (Zeynep in „Fack Ju Göhte – Das Musical“, Werk 7, München) mit ägyptischen Wurzeln macht das Rollenporträt der Malala Yousafzai bereits aufgrund ihrer ethnischen Erscheinung glaubhaft nachvollziehbar, lässt aber auch schauspielerisch und gesanglich keine Wünsche offen. Judith Patzelt (2013 bis 2015 als festes Ensemblemitglied am Theater Bielefeld) und Alexander von Hugo (Wallace Hartley in „Titanic – Das Musical“, Bad Hersfelder Festspiele; „Wenn wir über Schatten tanzen“, Theater Bielefeld) verleihen Malalas Mutter Toor Pekai und Vater Ziauddin sowie ihrer besten Freundin Moniba und ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Khushal überzeugend und deutlich unterscheidbar Gestalt. Das Besondere an der Bielefelder Uraufführung: Zusammen mit der Initiative Angekommen in deiner Stadt Bielefeld der Walter Blüchert Stiftung und diversen Schulen hat das Theater Bielefeld eine Gruppe von Jugendlichen – größtenteils mit Migrationshintergrund – in das Projekt eingebunden, die nicht nur als Chor in die Handlung integriert sind, sondern auch gestalterisch an der Vorarbeit beteiligt waren. Alina Meinold hat mit den Jugendlichen und den drei Darsteller*innen die Choreografie für einige wenige Szenen einstudiert, in der Szene, in der Malala im Queen Elizabeth Hospital in Birmingham liegt, lesen die Jugendlichen ihre Genesungswünsche in ihren Muttersprachen vor. „Malala“ ist vom Theater Bielefeld als Kinder-/Jugendtheater ausgewiesen und war in der besuchten Vorstellung das Ziel der Internationalen Sprachklassen einer Bielefelder Schule, in der neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen auf den Regelklassenunterricht vorbereitet werden. Aufmerksam verfolgten die Kinder/Jugendlichen die Handlung auf der Bühne im Foyer der Rudolf-Oetker-Halle, bei der die Zuschauer ohne Orchestergraben nah am Geschehen sind.

„Malala“, Theater Bielefeld, Alexander von Hugo (Khushal Yousafzai), Judith Patzelt (Toor Pekai Yousafzai) und Susi Studentkowski (Malala Yousafzai). © Sarah Jonek

Mit „Malala“ ist Nick Westbrock und Danyal Dhondy ein berührendes Musitheaterstück über Malalas Lebensumstände bis zu ihrem 16. Geburtstag gelungen. Folgevorstellungen sind noch bis 4. Juli 2019 disponiert, die Wiederaufnahme ist für 27. Februar 2020 vorgesehen.

Weiterführende Literatur:

„I Am Malala: The Story of the Girl Who Stood Up for Education and was Shot by the Taliban“ von Malala Yousafzai, Christina Lamb; Weidenfeld & Nicolson, London; Little, Brown and Company, New York; 2013

„Let Her Fly: A Father’s Journey“ von Ziauddin Yousafzai, Louise Carpenter; Little, Brown and Company, New York; 2018

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