„Lazarus“ am Stadttheater Bielefeld


„Lazarus“ – nach dem Roman „The Man Who Fell to Earth“ von Walter Tevis (1963); Musik, Lyrics: David Bowie; Buch: Enda Walsh; Deutsche Bearbeitung: Peter Torberg; Inszenierung: Michael Heiks; Choreografie: Gianni Cuccaro; Bühne: Annette Breuer; Kostüme: Franziska Gebhardt; Video: Sascha Vredenburg; Licht: Johann Kaiser; Sounddesign: Peppe Andersson, Morgan Belle; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton), Susanne Schieffer (Mädchen [Marley]), Oliver Baierl (Valentine), Christina Huckle (Elly, Newtons Assistentin), Cornelius Gebert (Michael), Alexander Stürmer (Zach), Jan Hille (Ben), Henriette Nagel (Japanerin/Maemi), Michaela Duhme (Teenage Girl 1), Jeannine Michèle Wacker (Teenage Girl 2), Theresa Christahl/Ulrike Figgener (Teenage Girl 3), Mitglieder von E-Motion. Uraufführung: 7. Dezember 2015, New York Theatre Workshop in Manhattan. Europäische Erstaufführung: 8. November 2016, Kings Cross Theatre, London. Deutschsprachige Erstaufführung: 3. Februar 2018, Schauspielhaus Düsseldorf. Premiere: 18. Mai 2019, Stadttheater Bielefeld.



„Lazarus“


„Ich will zurück zu den Sternen.“


Als David Bowie (* 8. Januar 1947 in London, † 10. Januar 2016 in New York City) starb, hinter­ließ er der Welt eine Menge guter Musik, unzählige fotografische Zeugnisse seines Neben­jobs als Trendsetter und viele weitere Requisiten des Gesamtkunstwerks, zu dem er sein Leben gestaltet hatte – sowie ein so rätselhaftes wie faszinierendes Musical namens „Lazarus“. Der Titel spielt auf einen Freund Jesu an (Lazarus von Bethanien), der nach dem Johannes-Evangelium an einer Krankheit gestorben war und von Jesus von den Toten auferweckt wurde (Joh 11,41–44). Die wichtigere Schlüsselfigur ist jedoch Thomas Jerome Newton: Der war im Science-Fiction-Film „The Man who fell to Earth“ (1976, deutscher Titel „Der Mann, der vom Himmel fiel“) als Außerirdischer zur Erde gekommen, um die Bewohner*innen seines versandeten Heimat­planeten langfristig mit Wasser zu versorgen. Zwar hatte dieser Außerirdische aufgrund seiner weiterentwickelten Intelligenz rasch das nötige Kapital zusammen, um diese logistische Herausforderung Realität werden zu lassen, doch die Menschheit zeigte ihm die kalte Schulter und Thomas Jerome Newton, gespielt von David Bowie, vereinsamte; seine Mission blieb Utopie.

„Lazarus“, Stadttheater Bielefeld, Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton), Susanne Schieffer (Mädchen [Marley]) und Christina Huckle (Elly, Newtons Assistentin). © Joseph Ruben

Das Musical, das David Bowie kurz vor seinem Tod mit dem irischer Dramatiker Enda Walsh (* 1967 in Dublin) verfasste, nimmt den Erzählfaden wieder auf, macht Thomas Jerome Newton zur ewig jugendlichen Installation David Bowies in seiner New Yorker Wohnung, der sich in verschiedenen Wirklichkeiten verfängt und weder sterben noch leben kann. Da ist der unerfüllte Liebesschmerz zu Mary Lou; ein rätselhaftes Mädchen taucht auf und bringt Vorgänge in Erinnerung, die Thomas Jerome Newton entfallen zu sein scheinen. Seine Assistentin Elly fühlt sich von ihm angezogen, kann und will aber ihr bürgerliches Leben nicht aufgeben. Schließlich kreist Valentine ihn ein, eine Art Teufel, der sich als Drahtzieher entpuppt und der vermeintlich stillstehenden Geschichte plötzlich enorme Zugkraft verleiht.

„Lazarus“, Stadttheater Bielefeld, Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton), Susanne Schieffer (Mädchen [Marley]) und Christina Huckle (Elly, Newtons Assistentin). © Joseph Ruben

David Bowies unsterbliche Songs wie „Absolute Beginners“, „Life on Mars?“, „Where are we now?“, „This is not America“ oder „Heroes“ durchziehen den Plot und geben ihm eine ganz eigene Dramaturgie. Das Musical „Lazarus“ ist m. E. ein weiteres Jukebox-Musical mit 17 Songs von David Bowie, die er von 1971 bis 2016 geschrieben hatte, wovon er vier Songs („Lazarus“, „No plan“, „Killing a little time“ und „When I met you“) extra für das Musical komponierte, auch wenn man auf der Website des Verlages Felix Bloch Erben Gegenteiliges lesen kann: „Lazarus ist … weit davon entfernt, ein Jukebox-Musical zu sein. Es ist vielmehr eine verrätselte Meditation über den Tod als ungeliebtes Leben und funktioniert in seiner Abgründigkeit und Poesie in glänzender Symbiose mit Bowies Musik.“ Mag sich jeder seine eigene Meinung bilden, wer partout etwas Tiefgründiges in dieses Werk interpretieren möchte, kann das gerne tun. Allein der Name David Bowie dürfte für den Hype verantwortlich sein, den dieses Musical ausgelöst hat: Am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo „Lazarus“ am 3. Februar 2018 seine deutschsprachige Erstaufführung feierte, steht es auch in der Spielzeit 2019/2020 auf dem Spielplan, und am Theater Bielefeld waren alle Aufführungen in der laufenden Spielzeit bereits vor der Premiere ausverkauft. Allein in Deutschland gibt es inzwischen sieben Produktionen: Neben dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Stadttheater Bielefeld steht „Lazarus“ am Theater am Goetheplatz, Bremen (Premiere 9. Juni 2018, Regie Tom Ryser), am Deutschen Schauspielhaus, Hamburg (Premiere 17. November 2018, Regie Falk Richter), am Schauspiel Leipzig (Premiere 15. Juni 2019, Regie Hubert Wild), am Deutschen Theater, Göttingen (Premiere 15. Juni 2019, Regie Moritz Beichl) und am Staatstheater Nürnberg (Premiere 16. Juni 2019, Regie Tilo Nest) auf dem Spielplan.

„Lazarus“, Stadttheater Bielefeld, Oliver Baierl (Valentine) und Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton). © Joseph Ruben

Am Stadttheater Bielefeld hat Intendant Michael Heicks seine Inszenierung zwischen Rockkonzert, Schauspiel und Video-Installation angesiedelt; da die Vorlage keine stringente, nachvollziehbare Handlung beinhaltet, sollte man womöglich auch in dieser Produktion nicht danach suchen, dann wird man auch nicht enttäuscht. „Verrätselte Meditation“ hin oder her… Dagegen finden sich leicht diverse Bezüge zu David Bowies eigenen Inszenierungen wie seine Vorliebe zur fernöstlichen Kultur, und ihn selbst erkennt man auf der Bühne gleich dreimal: Jan Hille mit roten Haaren als Kunstfigur „Ziggy Stardust“ in den frühen 1970er-Jahren, Nikolaj Alexander Brucker im gelben Anzug aus den 1980er-Jahren (Kostüme Franziska Gebhardt), und schließlich Cornelius Gebert als der Star im fortgeschrittenen Alter. Bühnenbildnerin Annette Breuer hat die Produktion in einem grauen, trostlosen, nicht näher bestimmten Raum angesiedelt, in dem eine Vielzahl von Bettgestellen von den Darsteller*innen selbst häufig neu arrangiert werden. Auf die grauen Wände werden häufig Videoclips projiziert (Videodesign Sascha Vredenburg), angefangen von Mustern, wie man sie von den Visualisierungen des Media Players kennt, über Traumsequenzen bis hin zu Übertragungen der Bilder einer auf der Bühne eingesetzten Kamera. Die 17 Songs von David Bowie – m. E. das Highlight in „Lazarus“ – sind bei der achtköpfigen Band unter der Musikalischen Leitung von Musical-Kapellmeister William Ward Murta in den allerbesten Händen.

„Lazarus“, Stadttheater Bielefeld, Jan Hille (Ben), Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton) und Cornelius Gebert (Michael). © Joseph Ruben

Folkwang-Alumnus Nikolaj Alexander Brucker überzeugt in der Rolle des vom Himmel gefallenen Thomas Jerome Newton, der in seiner trostlosen Umgebung gefangen ist und die Erinnerung an seine verflossene Liebe Mary Lou im Gin zu ertränken versucht, auch wenn er durch den aus dem Off eingespielten Nummer-eins-Hit von Ricky Nelson „Hello Mary Lou“ beständig an sie erinnert wird. Susanne Schieffer ist als irreales junges Mädchen (Marley) auf der Suche nach seiner Vergangenheit und versucht Newton zu helfen, in seine Heimat zurückzukehren, und ihm eine Hoffnung zu geben, wodurch sie für ihn zu einer Art Ersatztochter wird. Oliver Baierl wird in der Rolle des Valentine eindrucksvoll zum psychotischen Antagonisten, der im Grunde auf der Suche nach etwas Liebe ist. Christina Huckle ist als Newtons Assistentin Elly zu sehen, die längst ihrer Ehe mit Zach überdrüssig geworden ist und sich mehr und mehr in Newtons verflossene Liebe Mary Lou verwandelt. Neben Michaela Duhme, Jeannine Michèle Wacker und Theresa Christahl als irreale junge Mädchen Lila, Megan und Ruby (i. d. R. als Teenage Girls bezeichnet) sollen auch Cornelius Gebert (Michael), Alexander Stürmer (Zach), Jan Hille (Ben) und Henriette Nagel (Japanerin/Maemi) nicht unerwähnt bleiben. Sechs Mitglieder von E-Motion vervollständigen das Ensemble und sind häufig auch in den von Gianni Cuccaro einstudierten Choreografien zu sehen.

„Lazarus“, Stadttheater Bielefeld, vorne: Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton); hinten: Theresa Christahl (Teenage Girl 3), Jeannine Michèle Wacker (Teenage Girl 2), Susanne Schieffer (Mädchen [Marley]) und Michaela Duhme (Teenage Girl 1). © Joseph Ruben

Am Ende der zweistündigen Performance – „Lazarus“ wird ohne Pause gespielt – gab es vom Premierenpublikum langanhalten Stehapplaus für Darsteller*innen, Musiker*innen und das Kreativteam. „Lazarus“ steht in der laufenden Spielzeit bis 7. Juli 2019 auf dem Spielplan und wird in der Spielzeit 2019/2020 am 13. Oktober 2019 wiederaufgenommen.

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