„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ bei den Brüder Grimm Festspielen Hanau


„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ – Musik: Mark Schubring; Liedtexte, Libretto: Kevin Schroeder; Inszenierung: Jan Radermacher; Co-Regie, Choreografie: Bart De Clercq; Bühnenbild: Tobias Schunck; Kostümbild: Ulla Röhrs; Musikalische Leitung: Pascal Kierdorf Markus Syperek. Darsteller: Jonas Hein (Jacob Grimm), Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm), Carolin Fortenbacher (Hexe Tredecima), Maria-Danaé Bansen (Thalia), Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug), Laura Pfister (Dortchen Wild), Claudio Gottschalk-Schmitt (Dummling), Nikko Forteza (Froschkönig u. a.), Johanna Haas (Bohne/Sterntaler u. a.), Lukas Haiser (Der böse Wolf/Ludwig Hassenpflug u. a.), Katharina Beatrice Hierl (Rapunzel/Pechmarie u. a.), Luisa Rhöse (Ilsebill/Schwester u. a.). Musiker: Pascal Kierdorf Markus Syperek (Keyboard 1), Vitaliy Baran (Keyboard 2), Stefan Kreuscher (Bass), Tobias Schneider (Violoncello), Thomas Elsner (Schlagzeug), Andreas Pompe/Sven Pudil (Reeds). Uraufführung: 10. Mai 2019, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Amphitheater Hanau.



„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“


Das Grimm-Musical zum Festspieljubiläum


1985 wurden in der Geburtsstadt der Brüder Jacob (* 4. Januar 1785 in Hanau, † 20. September 1863 in Berlin) und Wilhelm (* 24. Februar 1786 in Hanau, † 16. Dezember 1859 in Berlin) Grimm die „Brüder Grimm Märchenfestspiele“ ins Leben gerufen. Die Festspiele haben sich inzwischen – seit 2014 unter dem Namen „Brüder Grimm Festspiele“ – zu den zweitgrößten Festspielen in Hessen – nach den Bad Hersfelder Festspielen – entwickelt, 2019 feiern sie ihren 35. Geburtstag, und dafür hat sich Intendant Frank-Lorenz Engel etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Eröffnet wurden die Festspiele am Freitag, 10. Mai 2019, nämlich nicht mit einem Stück von den Brüdern Grimm, sondern mit einem Stück über die Brüder Grimm – in Form des Musicals „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ von Marc Schubring (Musik) und Kevin Schroeder (Libretto), die bereits für das Musical „Vom Fischer und seiner Frau“ (Uraufführung 12. Mai 2017, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Inszenierung Holger Hauer) verantwortlich zeichneten. Für „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ stehen die beiden berühmten Brüder Grimm selbst im Mittelpunkt der Geschichte, die weniger die exakte Wiedergabe ihres Lebensweges ist als vielmehr ein magisches Verweben ihrer ganz unterschiedlichen Charaktere mit den bekannten Figuren der von ihnen aufgeschriebenen Geschichten.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Johanna Haas, Luisa Rhöse, Katharina Beatrice Hierl, Laura Pfister (Dortchen Wild), Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug), Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

Gerade fertig mit dem Studium, möchte Wilhelm Grimm die alten Volksmärchen vor dem Vergessen retten. Doch Erzählerinnen beim Kaffeekränzchen zu lauschen, davon halten die Professoren von der Marburger Universität und sein älterer Bruder Jacob nichts – schließlich geht es um Wissenschaft! Märchenfiguren selbst zu fragen, steht erst recht nicht auf seinem Plan. Doch die Märchenwelt findet eigene Wege, den älteren der beiden Brüder doch noch von der Sinnhaftigkeit zu überzeugen. Nachdem sich Jacob unbeabsichtigt an der „originalen“ Spindel von Dornröschen gestochen hat, steht er ganz unverhofft plötzlich den Figuren gegenüber, die sonst die Geschichten bevölkern.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Laura Pfister (Dortchen Wild) und Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

Weit weg vom heimatlichen Kassel findet er sich in einem fantastischen Wald wieder, inmitten von Rotkäppchen (KHM 26) und dem bösen Wolf, Rapunzel (KHM 12), dem Froschkönig (aus „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“, KHM 1), dem Waisenkind aus „Sterntaler“ (KHM 153), dem Dummling (ursprünglich aus einer Märchensammlung von Giambattista Basile), Ilsebill aus „Vom Fischer und seiner Frau“ (KHM 19), der Bohne aus „Strohhalm, Kohle und Bohne“ (KHM 18) und der Ur-Hexe Tredecima, die dem Fremden nicht gerade wohlgesonnen sind. Doch die junge, schöne Thalia (aus „Sonne, Mond und Thalia“ aus einer Märchensammlung von Giambattista Basile, das als „Dornröschen“ (KHM 50) in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bekannt wurde), aus deren Märchen die Spindel stammte, rettet ihn mit dem Kuss der wahren Liebe. Aber nicht nur sie folgt ihm in die reale Welt zurück, sondern auch die böse Zauberin, die in der biederen Bücherwelt der Grimms allerlei magisches Unheil anrichtet. Gemeinsam mit Dortchen Wild und Marie Hassenpflug lassen sich Jacob und Wilhelm auf ein phantastisches und spannungsreiches Abenteuer ein, in dem die beiden Brüder immer wieder zwischen den Welten wandeln, um sie vor dem Untergang zu retten.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Jonas Hein (Jacob Grimm) und Maria-Danaé Bansen (Thalia). Foto: Marco Krämer-Eis © Brüder Grimm Festspiele Hanau

„Märchen sind doch was für Kinder“, wird der ein oder andere Leser jetzt womöglich denken. Aber weit gefehlt, denn bei Märchen handelt es sich durchaus nicht nur um „Kinderkram“, die Feenmärchen des 17. und 18. Jahrhunderts zählten zu ihrer Zeit zu den beliebtesten Literaturgattungen und unterhielten alle Altersklassen der gebildeten Schichten vom Hofadel bis zum einfachen Bürgertum. Während andernorts „Die Märchenwelt zur Kur bestellt“ wird, um „Märchenversager“ von ihren Leiden zu kurieren und wieder einsatzfähig zu machen, geht es bei „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ vielmehr darum, die Märchen vor dem Verschwinden zu bewahren, weshalb Wilhelm Grimm die mündlich überlieferten Märchen aufschreiben möchte, wodurch sich die Märchenwelt bedroht fühlt.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Jonas Hein (Jacob Grimm), Maria-Danaé Bansen (Thalia), Luisa Rhöse (Fischerin), Janne Marie Peters (Zwerg), Claudio Gottschalk-Schmitt (Dummling), Lukas Haiser (Der böse Wolf), Nikko Forteza (Froschkönig), Laura Pfister (Zwerg). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ in der Regie von Jan Radermacher spielt in zwei Welten, der Welt der Brüder Grimm um 1812, als sie den ersten Band der Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten, und der Märchenwelt, die sowohl sprachlich als auch musikalisch eher in der Gegenwart angesiedelt ist. Tobias Schunck und Ulla Röhrs greifen die beiden Welten in ihrem Bühnen- und Kostümbild augenfällig auf: Auf einer zehn Meter großen Drehscheibe, in der sich eine fünf Meter große Drehscheibe entgegengesetzt drehen kann, sind die Kulissen angeordnet, die die unterschiedlichen Schauplätze der realen Welt darstellen und wie die Kostüme der historischen Figuren durchgängig in Schwarz-Weiß gehalten ist, dominiert von Büchern, die durch Hexenwerk teilweise sogar fliegen können. Um die Drehscheibe ist eine große Schräge angeordnet, die als Spielfläche für die Märchenwelt dient. Zehn farbige Schiebewände können als eine Art Bühnenprospekt auf Schienen in das Blickfeld der Zuschauer gefahren werden und lassen so aus der realen Welt die Märchenwelt entstehen. Die Märchenfiguren hat Kostümdesignerin Ulla Röhrs in fantasievolle, farbige Kostüme gekleidet, und auch die Maske (Maskenbild Wiebke Quenzel) vollbringt wahre „Wunder“, beispielhaft sei an dieser Stelle die Veränderung von Carolin Fortenbacher als Ur-Hexe Tredecima im Laufe der Handlung angeführt, die bei ihrem ersten Auftritt kaum zu erkennen ist. In der Märchenwelt gibt es eine visuelle Sprache, in der die Figuren womöglich mit Gesten kommunizieren, aber wahrscheinlich handelt es sich eher um die Choreografie von Bart De Clercq, für eine Kommunikation wäre das Gebärdenrepertoire dann doch zu klein. Marc Schubrings facettenreiche Partitur wird von einer sechsköpfigen Band unter der Musikalischen Leitung von Markus Syperek souverän live zu Gehör gebracht.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Jonas Hein (Jacob Grimm), Carolin Fortenbacher (Tredecima), Laura Pfister (Dortchen Wild). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

Bekannte Musicaldarsteller*innen lassen die Figuren auf der Bühne lebendig werden: Das zwölfköpfige Ensemble wird von Folkwang-Alumnus Jonas Hein (Quasimodo in Disneys „Der Glöckner von Notre Dame“, Apollo Theater, Stuttgart) und Peter Lewys Preston (Leon Czolgosz in „Attentäter (Assasins)“, Landestheater Linz; Francis Lockwood in „Betty Blue Eyes – Das Musical mit dem Schwein“, Landestheater Linz) in den Rollen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm angeführt. Während sich Peter Lewys Preston als Wilhelm Grimm von Anfang an mit Leidenschaft der Idee verschrieben hat, die mündlich überlieferten Volksmärchen durch Aufschreiben vor dem Vergessen zu retten, muss sich Jonas Hein als Jacob Grimm erst unbeabsichtigt an der „originalen“ Spindel von Dornröschen stechen und in die Märchenwelt verschwinden, um sich von der Idee seines jüngeren Bruders überzeugen zu lassen. Glaubhaft erwecken die beiden Darsteller die Brüder Grimm auf der Bühne zum Leben.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Carolin Fortenbacher (Tredecima). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

Carolin Fortenbacher (Diana Goodman in „Fast Normal – Next to Normal“, Hamburger Kammerspiele), vielen Besuchern womöglich als Premierenbesetzung der Donna in „Mamma Mia!“ am Operettenhaus Hamburg bekannt, richtet als Ur-Hexe Tredecima allerlei magisches Unheil an, indem sie ebenfalls zwischen den Welten wandelt, will sie doch gleichermaßen verhindern, dass die Brüder Grimm die Volksmärchen aufschreiben. Stimmgewaltig begeistert sie in ihren Soli wie beispielweise „Macht Märchen wieder mächtig.“ Maria-Danaé Bansen (Mary Poppins alternierend in „Mary Poppins – Das Broadway Musical“, Theater an der Elbe, Hamburg) ist in der Rolle der Thalia zu sehen, der Gefährtin von Jacob im Märchenreich, mit dem sie auch gesanglich im Duett „Mehr als jedes Wort“ vortrefflich harmoniert. Marie Hassenpflug (* 27. Dezember 1788 in Altenhaßlau, † 21. November 1856 in Kassel) und Henriette Dorothea („Dortchen“) Wild (* 23. Mai 1793 in Kassel, † 22. August 1867 in Eisenach) waren wichtige Quellen von Märchenerzählungen für die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 1825 heirateten Dortchen Wild und Wilhelm Grimm. Im Musical „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ verleihen Janne Marie Peters (Deutscher Musical Theater Preis 2018 als Beste Darstellerin in einer Hauptrolle für „Jana & Janis – Sag einfach Jein!“, Schmidtchen Theater, Hamburg) und Laura Pfister (Cover Lauren, Cover Nicola in „Kinky Boots – Das Musical“, Operettenhaus, Hamburg) den beiden Märchenfrauen Gestalt, die auch gesanglich im Duett „Was soll ich sagen?“ wunderbar harmonieren. Natürlich sind Dortchen Wild und Wilhelm Grimm in „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ einander ebenfalls zugetan, auch wenn Wilhelm zunächst nur zugesteht, ihr Wurstbrot mit Senf zu mögen, dafür harmonieren Laura Pfister und Peter Lewys Preston im Duett „Dein Wurstbrot mit Senf“ bereits vorzüglich. Keine Sorge, die Sache mit der Liebe klärt sich dann später, schließlich braucht jedes Märchen ein Happy End.

„Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“, Brüder Grimm Festspiele Hanau, Claudio Gottschalk Schmitt (Dummling), Maria-Danaé Bansen (Thalia), Nikko Forteza (Froschkönig), Jonas Hein (Jacob Grimm), Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm), Katharina Beatrice Hierl (Rapunzel), Laura Pfister (Dortchen Wild), Johanna Haas (Bohne/Sterntaler), Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug), Luisa Rhöse (Fischerin), Lukas Haiser (Der böse Wolf). Foto: Hendrik Nix © Brüder Grimm Festspiele Hanau

Aufgrund der Grußworte von Oberbürgermeister Claus Kaminsky konnte die Uraufführung von „Jacob und Wilhelm – Weltenwandler“ im überdachten Amphitheater im Park von Schloss Philippsruhe erst gegen 20 Uhr beginnen, so dass schließlich um 22.35 Uhr nicht enden wollender, begeisterter Stehapplaus für die Darsteller*innen, Kreative und das Autorenduo für die völlig überzeugenden Leistungen aufbrandete. Bis 27. Juli 2019 stehen insgesamt 30 Vorstellungen auf dem Spielplan der Brüder Grimm Festspiele Hanau.

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