„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ am Stadttheater Bielefeld

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ – nach dem Drama von Frank Wedekind; Musik: Duncan Sheik; Buch/Songtexte: Steven Sater; Deutsche Bearbeitung: Nina Schneider; Regie: Christian Müller; Choreografie: Isabelle von Gatterburg; Kampftraining: Benjamin Armbruster; Ausstattung: Zahava Rodrigo; Licht: Johann Kaiser; Video: Dennis Böddicker, Lena Thimm; Sounddesign: Jan-Peter Anderson; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Benedikt Ivo (Melchior Gabor), Michaela Duhme (Wendla Bergmann), Marvin Schütt (Moritz Stiefel), Anja David (Ilse Neumann), Elian Latussek (Hänschen Rilow/Albrecht), Simone Rau (Martha Bessel), Nico Nefian (Ernst Röbel/Dieter), Melanie Kreuter (Frau Bergmann, Wendlas Mutter/Fräulein Knüppeldick/Fräulein Großebüstenhalter, Georgs Klavierlehrerin/Fanny Gabor, Melchiors Mutter/Frau Bessel, Marthas Mutter), Martin Christoph Rönnebeck (Herr Sonnenstich/Direktor Knochenbruch/Herr Rilow, Hänschens Vater/Herr Neumann, Ilses Vater/Herr Stiefel, Moritz’ Vater/Pastor Kahlbauch/Dr. von Brausepulver/Herr Gabor, Melchiors Vater/Engelmacher), Paul Erik Haverland (Georg Zirschnitz/Rupert), Ann-Kathrin Veit (Thea), Silja Erdsiek (Anna), Adele Heinrichs (Marianne) und Nick Westbrock (Otto Lämmermeier/Reinhold). Off-Broadway Premiere: 19. Mai 2006, Atlantic Theatre Company, New York City. Broadway-Premiere: 10. Dezember 2006, Eugene O´Neill Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 21. März 2009, Ronacher, Wien. Premiere: 18. Mai 2018, Stadttheater Bielefeld.



„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“


Eine Produktion mit Musical-Profis und Jugendlichen aus der Region


Als Frank Wedekind (* 24. Juli 1864 in Hannover, † 9. März 1918 in München) sein gesellschaftskritisch-satirisches Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ im Oktober 1891 auf eigene Kosten beim Verlag Jean Groß in Zürich veröffentlichte, kümmerte sich der Autor nicht um Aufführbarkeit oder Publikumserfolg, erst 15 Jahre später wurde es am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen von Max Reinhardt (* 9. September 1873 in Baden bei Wien, † 31. Oktober 1943 in New York) uraufgeführt und sorgte mit seinem brisanten Inhalt in der Öffentlichkeit für Furore. Wedekinds Kritik an der Sexualmoral führte dazu, dass „Frühlings Erwachen“ wegen seiner angeblichen Obszönität verboten oder zensiert wurde. 1999 wandte sich der amerikanische Dramatiker Steven Sater an den Regisseur Michael Mayer (* 27. Juni 1960 in Washington, D.C.), um mit ihm und Songwriter Duncan Sheik (* 18. November 1969 in Montclair, New Jersey) an dem Stoff zu arbeiten. Nach diversen Workshops und Überarbeitungen erlebte das Rock-Musical „Spring Awakening“ am 19. Mai 2006 bei der Atlantic Theatre Company seine Off-Broadway Premiere, keine 7 Monate später folgte am 10. Dezember 2006 im Eugene O´Neill Theatre die Broadway Premiere. Nach nahezu einhellig positiven Kritiken wurde es 2007 für 11 Tony Awards nominiert, wovon es acht tatsächlich gewonnen hat, darunter Bestes Musical, Beste Musicalregie, Beste Choreographie, Bestes Musicallibretto, Beste Originalmusik und Bester Nebendarsteller.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Paul Erik Haverland (Georg Zirschnitz), Simone Rau (Martha Bessel), Michaela Duhme (Wendla Bergmann), Silja Erdsiek (Anna), Benedikt Ivo, Ann-Kathrin Veit (Thea), Nick Westbrock (Otto) und Adele Heinrichs (Marianne). © Bettina Stöß

Katrin Zechner war von der darstellerischen und musikalischen Intensität dieses Musicals überzeugt und holte es nach Wien, wo es am 21. März 2009 im Ronacher seine Deutschsprachige Erstaufführung erlebte, aber nur bis zum 30. Mai 2009 zu sehen war. Die deutsche Erstaufführung der neuen Bearbeitung der Österreicherin Nina Schneider (* 1973 in Salzburg) fand als Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding am 29. Juni 2011 am Deutschen Theater München statt, Regie führte Matthias Davids. Aufgrund des besonders für jugendliche DarstellerInnen geeigneten Sujets wurde das Musical inzwischen von weiteren Hochschulen/Universitäten aufgegriffen (Hochschule Osnabrück [Premiere 30. Dezember 2011, Regie Sascha Wienhausen] und Folkwang Universität der Künste Essen [Premiere 15. März 2013, Regie Wolfgang Türks]), das Theater Hagen zeigt „Spring Awakening (Frühlings Erwachen)“ in der Spielzeit 2018/19 in Kooperation mit dem Studiengang Musical des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück (Premiere 15. Juni 2019, Regie Sascha Wienhausen). In Bielefeld stehen MusicaldarstellerInnen gemeinsam mit Jugendlichen aus der Region auf der Bühne, die es dem Zuschauer mit ihrer Leidenschaft für das Genre und entsprechender Begabung erlauben, das Seelenleben der dargestellten Figuren möglichst authentisch zu erleben.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Melanie Kreuter (Fräulein Großbüstenhalter) und Paul Erik Haverland (Georg Zirschnitz). © Bettina Stöß

Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ erzählt vom Erwachsenwerden in einer deutschen Provinzstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen drei Schulkinder auf der Suche nach ihrer Sexualität: der aufgeklärte Gymnasiast Melchior Gabor, die vierzehnjährige Wendla Bergmann, die von ihrer konservativen Mutter nie aufgeklärt wurde, und der fünfzehnjährige Moritz Stiefel, der seinem besten Freund Melchior neben seinen schlechten Schulleistungen auch seine erwachende Sexualität anvertraut. Alle drei werden letzten Endes Opfer der elterlichen Moral. Wendla, deren Schwester Ina ein Kind bekommen hat, drängt ihre Mutter um Aufklärung, erfährt aber nur, dass zur Fortpflanzung große Liebe erforderlich sei. Moritz hat Probleme mit seinen erotischen Träumen, weshalb er Melchior bittet, eine schriftliche Ausarbeitung mit Illustrationen über die Fortpflanzung anzufertigen, damit er diese in Ruhe studieren kann. Wendla vollzieht mit Melchior den Beischlaf, ohne sich der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein, und wird schwanger. Wendlas Mutter will die Schande, die aufgrund der Schwangerschaft auf die Familie fallen würde, vermeiden und schleppt ihre Tochter zu einem „Engelmacher“, stellt dies aber als eine Therapie gegen Bleichsucht (Eisenmangelanämie) dar. Bei der Abtreibung kommt Wendla zu Tode. Moritz muss in der Schule eine Klasse wiederholen, da nur 60 Schüler in die nächste Klasse versetzt werden können, bringt aber nicht den Mut auf, seine Eltern damit zu konfrontieren, sondern wählt als Ausweg anstelle des Ärgers und der Entrüstung der Eltern den Freitod. Nachdem Melchiors illustrierte Erläuterungen zum Beischlaf bei Moritz gefunden wurden, machen ihn seine Lehrer für den Freitod seines Freundes verantwortlich. Auch seine liberale Mutter kann ihn in dieser Situation nicht mehr schützen und gibt dem Bestreben seines Vaters nach, Melchior in eine Besserungsanstalt zu bringen. Als er schließlich auf dem Friedhof von Wendlas Tod erfährt, will er seinem Leben ebenfalls ein Ende setzen, doch die Seelen von Wendla und Moritz sprechen ihm Mut zu, so dass er von seinem Vorhaben ablässt. Steven Sater kam zu der Überzeugung, dass die Musik und der Song „Those you´ve known“ die Funktion übernommen hatten, Melchior neuen Mut zum Leben zu geben, weshalb er die Gestalt des „Vermummten Herrn“, dem Melchior in Wedekinds Vorlage am Ende auf dem Friedhof begegnet, schließlich gestrichen hat.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Michaela Duhme(Wendla Bergmann) und Benedikt Ivo (Melchior Gabor). © Bettina Stöß

Frank Wedekind kritisiert in seinem Drama die im Wilhelminischen Kaiserreich vorherrschende bürgerliche Sexualmoral, wobei er häufig grotesk überzogene Charaktere gebraucht, die dem Werk humoristische Züge verleihen. Seit der Entstehung des Dramas hat sich das äußere Umfeld zwar grundlegend gewandelt, doch „Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ zeigt, wie authentisch sich Literaturklassiker auf der Musicalbühne umsetzen lassen. Der Musikstil mit einer Mischung aus Rock-, Pop- und Folkrock-Songs ist nicht musicaltypisch, die Songs sind auch nicht handlungstragend, fügen sich aber dennoch als Monologe und Kommentare der Schulkinder aus ihrer aktuellen Sicht hervorragend in die Handlung ein. Um das Heraustreten der Charaktere aus der Handlung im ausgehenden 19. Jahrhundert während der Songs zu unterstreichen, ließ Michael Mayer in seinen Inszenierungen die Darsteller zum Singen Handmikrofone benutzen. Regisseur Christian Müller greift diese Idee in seiner Inszenierung zwar vereinzelt auf, liefert aber eine deutlich eigenständige Arbeit ab. Beispielsweise findet in der Szene auf dem Heuboden als Teil der historischen Handlung Sexualität eben auf dem Schnürboden statt, weshalb Benedikt Ivo (Melchior Gabor) und Michaela Duhme (Wendla Bergmann) zuvor durch die Lüfte schweben – oder sich schon im „siebten Himmel“ befinden. Bühnen- und Kostümbildnerin Zahava Rodrigo hat für „Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ einen völlig eigenständigen Bühnenraum geschaffen, der bekannte Elemente aus dem Bühnenbild der Broadway-Aufführung völlig außen vor lässt. Mit ihrer als schiefe Ebene gestalteten Spielfläche verleiht sie womöglich dem Kontrast zwischen ausgehendem 19. Jahrhundert und Hier und Jetzt Ausdruck. Ein sich auf der schiefen Ebene und allen Bühnenprospekten wiederholendes Stuck-Motiv bildet das bestimmende formale Element und soll „sehende Wände“ symbolisieren, innerhalb derer nichts unbeobachtet bleibt. Mit ihren Kostümen in einem Stilmix mit heutigen und historischen Einflüssen wird die 127 Jahr alte dramatische Geschichte zugleich alt und neu erzählt. Johann Kaiser (Licht), Dennis Böddicker und Lena Thimm (Video) setzen mit einer effektvollen Beleuchtung und Videoeinspielungen mit den Jugendlichen wesentliche optische Akzente. Choreografin Isabelle von Gatterburg hat für „Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ eine Art modernes, an das Können der Jugendlichen angepasstes Tanztheater geschaffen, das von den MusicaldarstellerInnen und Jugendlichen auf der Bühne ansprechend umgesetzt wird.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Benedikt Ivo (Melchior Gabor) und Marvin Schütt (Moritz Stiefel). © Bettina Stöß

Das Ensemble der jungen Darsteller wird von Benedikt Ivo als Melchior Gabor, Michaela Duhme als Wendla Bergmann und Marvin Schütt als Moritz Stiefel angeführt. Wie die Schicksale der drei Figuren sehr eng miteinander verbunden sind, so trägt jeder der drei Darsteller entscheidend zum Gesamtbild der Jugendlichen bei, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Sexualität sind. Wer Michaela Duhme und Benedikt Ivo gerade noch als ältere Schwester/Mutter und jüngerer Bruder/Sohn in „John & Jen“ erlebt hat, dem werden nun bei Michaela Duhmes vierzehnjähriger, nicht aufgeklärter Wendla Bergmann doch leise Zweifel kommen, die nicht weiß, wie sie plötzlich schwanger geworden ist. Da waren m. E. beispielsweise Hannah Kastner kurz vor Ihrem Diplomabschluss an den Performing Arts Studios Vienna bei der deutschsprachige Erstaufführung am Wiener Ronacher oder die zierliche Sandra Pangla in der Produktion des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit der Folkwang Universität der Künste Essen und der Konzertdirektion Landgraf „typgerechter“ besetzt. Ich möchte diesen Umstand aber keinesfalls als Kritik an Michaela Duhme verstanden wissen, die gesanglich, tänzerisch und auch schauspilerisch zu überzeugen weiß. Benedikt Ivo nimmt man die Rolle des intelligenten und fortschrittlich denkenden Gymnasiasten Melchior Gabor problemlos ab, Melchiors Verstörung und Verzweiflung, nachdem er die Kontrolle über sich verloren und auf deren Bitte wild auf Wendla eingeschlagen hat, sind ebenfalls restlos nachvollziehbar. Marvin Schütt, der in diesem Jahr erst sein Musical-Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen abgeschlossen hat, ist als Melchiors bester Freund Moritz Stiefel von Zweifeln und Sehnsüchten geplagt und nimmt sich nach der gescheiterten Versetzung in die nächste Klasse und nachdem Melchiors Mutter seine verzweifelte Bitte um Hilfe ignoriert verstört das Leben.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Michaela Duhme (Wendla Bergmann) und Melanie Kreuter (Frau Bergmann). © Bettina Stöß

Auch die extra für dieses Projekt gecasteten Jugendlichen, die bereits seit Beginn der Spielzeit in Gesang, Tanz und Schauspiel gecoacht wurden, überzeugen in ihren Rollenportraits, doch die Rollen lassen den Jugendlichen weniger Spielraum, sich nachhaltig ins Gedächtnis der Zuschauer zu spielen. Dies gelingt beispielsweise Elian Latussek als Hänschen, der in dem stark von Melancholie geprägten Stück in der Masturbationsszene für Komik sorgt und auch Nico Nefian als Ernst problemlos zum einem homosexuellen Abenteuer verführen kann. Auch Anja David soll nicht unerwähnt bleiben, die als Bohémienne Ilse in der Künstlerwelt zu einem mutigen Mädchen herangewachsen ist und Moritz überreden möchte, mitzukommen. Simone Rau hat als Wendlas ein wenig naive Freundin Martha, die von ihrem Vater misshandelt wird, mit dem solistisch dargebotenen Song „Deine Sehnsucht“ ihren berührendsten Auftritt. Alle Erwachsenen sind in „Spring Awakening“ als reine Sprechrollen ausgelegt, die von Melanie Kreuter und Martin Christoph Rönnebeck überzeugend und klar voneinander abgegrenzt dargestellt wurden. Melanie Kreuter – seit 2001/2002 festes Ensemblemitglied am Theater Bielefeld – unterstreicht in den unterschiedlichen Frauenrollen die Unterwürfigkeit des weiblichen Rollenverständnisses in der damaligen Zeit. Musical-Darsteller Martin Christoph Rönnebeck macht beispielsweise als Lehrer Sonnenstich und Schuldirektor Knochenbruch eine gute Figur.

„Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“, Paul Erik Haverland (Rupert), Nick Westbrock (Reinhold), Benedikt Ivo (Melchior Gabor), Elian Latussek (Albrecht), Nico Nefian (Dieter). © Bettina Stöß

Dem gesamten Ensemble ist die Spielfreude anzumerken, nicht nur bei dem emotional heftigsten Song „Völlig im Arsch“, der dem Broadway-Castalbum neben zwei weiteren Songs den Vermerk „Parental Advisory – Explicit Content“ eingebracht hat. Das rockt… am Premierenabend leider noch nicht so ganz, das dürfte für mein Empfinden bei einem Rock-Musical durchaus heftiger rocken. Die siebenköpfige Band bringt unter der erfahrenen Musikalischen Leitung von Musical-Kapellmeister William Ward Murta Duncan Sheiks Partitur mit Rock-, Pop- und Folkrock-Songs versiert zu Gehör. Sie ist in Bielefeld traditionell im Orchstergraben platziert und wird nur bei Moritz Stiefels Song „Wer steht auf traurig“ durch Hochfahren des Orchestergrabens kurzzeitig für das Publikum sichtbar. Insgesamt eine gelungene und sehenswerte Produktion des ungewöhnlichen Musicals, die am Premierenabend vom Publikum zu Recht mit langanhaltendem Stehapplaus gefeiert wurde. „Frühlings Erwachen (Spring Awakening)“ ist noch bis 6. Juli 2018 am Stadttheater Bilefeld zu sehen.

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