Stadttheater Bielefeld: „Avenue Q“

„Avenue Q“ – ein „Musical für Erwachsene“; Musik, Texte: Robert Lopez, Jeff Marx; Buch: Jeff Whitty; Deutsche Übersetzung: Dominik Flaschka (Dialoge) und Roman Riklin (Songtexte); Inszenierung: Nick Westbrock; Choreografie: Michaela Duhme; Ausstattung: Udo Herbster; Puppenbau: Birger Laube; Puppentraining: Eike Schmidt; Licht: Ralf Scholz; Sounddesign: Morgan Belle; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalischer Leiter: William Ward Murta. Darsteller: Thomas Klotz (Princeton/Rod), Stefanie Köhm (Kate Monster), Benedikt Ivo (Nicky/Trekkie Monster/Umzugskartons/Neuankömmling), Michaela Duhme (Lucy D. Schlampe/Umzugskartons/Lavina Semmelmöse), Katharina Schutza (Bullshit-Bären/Umzugskartons/Ricky), Norbert Kohler (Daniel Küblböck), Anna Mari Takenaka (Christmas Eve), Martin Christoph Rönnebeck (Brian). Avenue-Q-Band: Jörn Brackelsberg (Bass), Arndt Hesse (Drums, Percussion), Adam Laslett/Anahit Ter-Tatshatyan (Keyboard 2), William Ward Murta (Keyboard 1), Michael Rossberg (Reed), Andreas Scheinhütte (Guitar). Uraufführung: 19. März 2003, Vineyard Theatre, New York City. Broadway-Premiere: 31. Juli 2003, John Golden Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 26. Februar 2011, Theater St. Gallen. Deutsche Erstaufführung: 19. April 2012, Nationaltheater Mannheim. Premiere: 10. September 2017, Stadttheater Bielefeld.



„Avenue Q“


Das Puppen-Musical für Erwachsene am Stadttheater Bielefeld


Robert Lopez und Jeff Marx haben sich 1998 beim BMI Lehman Engel Musical Theater Workshop kennengelernt, wo sie zusammen acht Songs und das Skript für „Kermit, Prince of Denmark“ schrieben, eine Muppet-Parodie auf „Hamlet“ von William Shakespeare. Bei der Jim Henson Company lernten sie Rick Lyon kennen, der von 1987 bis 2002 als Puppenspieler in der „Sesame Street“ mitgespielt hat. Brian Henson war zwar nicht an „Kermit, Prince of Denmark“ interessiert, aber es wurde mit dem 10th Annual Kleban Award in der Kategorie Lyrics ausgezeichnet. 1999 begannen Robert Lopez und Jeff Marx mit der Arbeit an „Avenue Q“ als Fernsehserie mit Puppen und Gesang und baten Rick Lyon, die Puppen für die Show zu entwerfen und auch selbst mitzuspielen. Bei der Präsentation einiger Songs waren die „Rent“-Produzenten Kevin McCollum und Jeffrey Seller sofort davon angetan, und so wurde aus der TV-Show ein Musical. „Avenue Q“ wurde am 19. März 2003 zunächst off-Broadway am Vineyard Theatre uraufgeführt, Rick Lyon spielte als Nicky/Trekkie Monster/Bad Idea Bear mit. Das Musical wurde aufgrund des großen Erfolges mehrfach verlängert (72 Aufführungen) und schließlich an den Broadway transferiert, wo es am 31. Juli 2003 am John Golden Theatre Premiere feierte. Dort wurde es bis 13. September 2009 in 2.534 Aufführungen gezeigt. Am 9. Oktober 2009 wurde die Show off-Broadway am „New World Stages“-Theater wiederaufgenommen und wird dort aktuell – mehr als 14 Jahre nach der Uraufführung – noch immer gespielt. Die Broadway-Produktion gewann 2004 drei Tony Awards in den Kategorien Best Musical, Best Book of a Musical und Best Original Score und setzte sich in diesen Kategorien gegen das Musical „Wicked“ von Stephen Schwartz (Musik, Lyrics) und Winnie Holzman (Buch) durch. Am Londoner West End feierte „Avenue Q“ am 28. Juni 2006 im Noël Coward Theatre Premiere und wurde dort in 1.179 Vorstellungen bis 28. März 2009 gezeigt, bevor vom 1. Juni 2009 bis 13. März 2010 weitere 327 Aufführungen am Gielgud Theatre gespielt wurden. Nach einem letzten Transfer an das Wyndham’s Theatre, wo die Show bereits am 19. März 2010 wiederaufgenommen wurde, endete die vierjährige Spielzeit am West End am 30. Oktober 2010. Das Theater St. Gallen zeigte am 26. Februar 2011 die deutschsprachige Erstaufführung, die vom Nationaltheater Mannheim ab 19. April 2012 als Deutsche Erstaufführung übernommen wurde. Das Theater Bielefeld zeigt das nicht gänzlich jugendfreie Musical mit einer Altersempfehlung ab 16 Jahren, auf der Website der Produktion im „New World Stages“-Theater heißt es zu diesem Thema: „AVENUE Q is great for teenagers because it’s about real life. It may not be appropriate for young children because AVENUE Q addresses issues like sex, drinking, and surfing the web for porn… if you DO bring your teenagers to AVENUE Q, they’ll think you’re really cool.“

„Avenue Q“, Stadttheater Bielefeld, Thomas Klotz mit Princeton und Stefanie Köhm mit Kate Monster. © Sarah Jonek

Die fiktive Avenue Q in New York City ist keine gute Adresse: Hier wohnen nicht die Schönen und die Reichen, sondern hier wohnen Menschen, die ihre größten Erfolge entweder schon lange hinter sich haben oder noch darauf hoffen – wenn auch im Moment leider vergeblich. Sie träumen davon, ein Star zu sein, oder auch nur eine erfolgreiche Kindergärtnerin, und vor allem träumen sie von der Liebe. Die ist hier allerdings noch ein bisschen komplizierter als anderswo, denn die Bewohner der Avenue Q sind nur zum Teil Menschen. Neben dem aufstrebenden Comedian Brian, der ständig auf der Suche nach einem neuen Job ist, und seiner japanischen Verlobten Christmas Eve, einer Therapeutin ohne Patienten, als mehr oder weniger normalem Paar steht in Bielefeld – wie bereits bei der Deutschen Erstaufführung in Mannheim – als dritte „echte“ Person Daniel Küblböck auf der Bühne. Alle übrigen Charaktere sind Puppen, die von Puppenspielern bewegt werden, die ihnen auch ihre Stimme leihen. Deren Ähnlichkeit mit den Stars der „Sesame Street“ ist keineswegs zufällig. Da ist Princeton mit einem Collegeabschluss in Englisch, der nach seiner Bestimmung im Lebens sucht, die Kindergärtnerinnen Assistentin Kate Monster, die sich eine feste Partnerschaft wünscht, die Zimmergenossen Nicky und Rod, einer heterosexuell und einer homosexuell, der mürrische Einsiedler Trekkie Monster, der sich vornehmlich pornografische Filme im Internet anschaut, die Nachtclubsängerin Lucy, die ältere Kindergärtnerin Frau Semmelmöse, Kates Boss, und die beiden Bad Idea Bears, die Verkörperung von Princetons und Kate Monsters schlechten Charaktereigenschaften. Das erfolgreiche Broadway-Musical handelt von den Sehnsüchten und Problemen der Menschen zwischen 25 und 40 Jahren, die Figuren des Kinderfernsehens zeigen hier ihre erwachsenen Seiten: Toleranz gegenüber Homosexuellen wird ihnen ebenso zum Konfliktstoff wie Rassismus; Verrat ebenso zum Thema wie Treue und Solidarität. So schräg das Leben der Menschen und Puppen auf der Avenue Q aber auch mitunter sein mag, am Ende ist die Botschaft einfach und überzeugend: Wer zusammenhält, ist stärker und glücklicher.

„Avenue Q“, Stadttheater Bielefeld, Martin Christoph Rönnebeck (Brian), Katharina Schutza mit Rod, Thomas Klotz mit Princeton, Norbert Kohler (Daniel Küblböck), Anna Mari Takenaka (Christmas Eve), Benedikt Ivo mit Trekkie Monster und Stefanie Köhm mit Nicky. © Sarah Jonek

Die Bielefelder Produktion basiert auf dem Originalkonzept von Robert Lopez und Jeff Marx, das steht nicht nur aus Jux und Dollerei im Programmheft, dementsprechend bleibt für Nick Westbrock (Regie „Swing Mr. Jurmann – Briefe an Veronika“) in seiner Inszenierung nicht viel Freiraum für eigene Ideen. Erwartungsgemäß ist auch das Kostümdesign von Udo Herbster ausgefallen, bei dem die Puppenspieler durch dunkle, unauffällige Kleidung hinter den Puppen fast „unsichtbar“ bleiben, Christmas Eve trägt die meiste Zeit einen Kimono, Daniel Küblböck hat als Hausmeister der Avenue Q selbstredend den grauen Kittel an. Die Häuserfassade der Avenue Q (Bühne: Udo Herbster) begrenzt den bespielten Bühnenteil nach hinten. Die Außenwände der beiden oberen Wohnung lassen sich aufklappen und gewähren dem Zuschauer so Einblicke in Kate Monsters und Princetons Appartments. Die Animationsfilme werden in Bielefeld auf eine kleine Leinwand projiziert (Video Lena Thimm), die auch die Aussichtsplattform des Empire State Building zeigt, von dem Kate Monster ihre Münze nach unten wirft und damit Lucy trifft. Die „Sex-Szene“ hat Nick Westbrock auf den wilden, leidenschaftlichen Sex zwischen Kate Monster und Princeton auf offener Bühne reduziert, von Daniel Küblböck mit seinem Song „Du kannst so laut wie der Teufel schrei’n, wenn du Liebe machts“ kommentiert, denn wer würde schon daran Anstoß nehmen, was Puppen sagen oder tun? Sowohl Christmas Eve und Brian als auch Trekkie Monster kommen in seiner Inszenierung sexuell dementsprechend nicht auf ihre Kosten… in anderen Produktionen dagegen schon. Alle Spenden, die am Broadway während des Songs „Give me your money“ im Publikum gesammelt wurden, gingen an die gemeinnützige Organisation „Cares/Equity Fights AIDS, Inc.“, was auch im Playbill vermerkt war. Womöglich möchte man es dem Bielefelder Publikum vorenthalten, sich durch eine Spende für einen wohltätigen Zweck besser zu fühlen, jedenfalls gibt es hier während des Songs „Gib mir dein Geld“ keine entsprechende Spendensammlung im Publikum. Die sechsköpfige Avenue-Q-Band unter der Musikalischen Leitung von Musical-Kapellmeister William Ward Murta bringt die eingängigen Songs aus dem Orchestergraben dynamisch zu Gehör, und das Sounddesign von Morgan Belle sorgt für die notwendige Textverständlichkeit bei diesem Stück, das doch gehörig von seinem Wortwitz lebt.

„Avenue Q“, Stadttheater Bielefeld, Thomas Klotz mit Princeton und Michaela Duhme mit Lucy D. Schlampe. © Sarah Jonek

Während bei den Aufführungen am Theater Hagen die von Rick Lyon entworfenen und von Hand gefertigten Original-Puppen benutzt wurden, die für die Hagener Inszenierung ausgeliehen waren, kommen in Bielefeld die vom Münchner Masken- und Figurenbildner Birger Laube nach dem Vorbild der Originale in Handarbeit angefertigten Puppen zum Einsatz, der auch schon das Deustche Theater München (Premiere 12. Juni 2012, Regie Reinhardt Friese) und das Theater für Niedersachsen in Hildesheim (Premiere 19. August 2016, Regie Jörg Gade) für deren Produktionen von „Avenue Q“ mit den Puppen versorgt hatte. Die Puppen müssen meines Wissens entweder nach genauen Vorgaben der Rechteinhaber gestaltet sein – wie in diesem Fall – oder aber sich komplett von diesen unterscheiden. Michaela Duhme (Choreografie „Swing Mr. Jurmann – Briefe an Veronika“) zeichnet neben den Tanzchoreografien mit ihrem Staging für ein überzeugendes, ansprechendes Puppen- und Zusammenspiel verantwortlich, wobei man den Puppenspielern ein großes Kompliment machen muss, kommt in dieser Produktion neben Gesang, Schauspiel und Tanz doch zusätzlich das Puppenspiel mit entsprechender Mimik und Gestik der Puppen als vierte „Disziplin“ hinzu, das über zwei Stunden allein schon eine gewisse körperliche Herausforderung darstellt. Die deutsche Bearbeitung von Dominik Flaschka (Dialoge) und Roman Riklin (Songtexte) kann insgesamt als gelungen bezeichnet werden, die Übersetzung bestimmter Passagen erübrigt sich per se: Da Schadenfreude im deutschen Sprachgebrauch durchaus geläufig ist, im englischen Sprachgebrauch handelt es sich um einen Germanismus, den Gary Coleman auf Nickys Frage „What’s that, some kinda Nazi word?“ als „happiness at the misfortune of others“ erläutert, woraufhin Nicky entgegnet „That is German!“, gibt es im Song „Schadenfreude“ keine entsprechende Erläuterung.

„Avenue Q“, Stadttheater Bielefeld, Thomas Klotz mit Princeton und Benedikt Ivo, Michaela Duhme, Katharina Schutza mit Umzugskartons. © Sarah Jonek

Von den Bewohnern der ersten deutschsprachigen und deutschen „Avenue Q“ ist Stefanie Köhm als Kate Monster auch in Bielefeld mit von der Partie, ihre erste Rolle nach ihrem erfolgreich abgeschlossenen Musical-Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Mit ihrem Song „Nur ein schmaler Grat“ („There’s a fine, fine line“) als verletzte und von Princeton enttäuschte Kate Monster weiß sie das Publikum zu berühren. Da war sogar ein gestandener Folkwang-Alumnus, der neben mir im Auditorium saß, gerührt. Während Stefanie Köhm in St. Gallen und Mannheim gleichzeitig die selbstbewusste Lucy die Schlampe spielte, hat diesen Part in Bielefeld Michaela Duhme (Kitty in „Hochzeit mit Hindernissen (The Drowsy Chaperone)“) übernommen, die gleichzeitig die ältere Kindergärtnerin Frau Semmelmöse, Kates Boss, spielt und auch häufig Benedikt Ivo als „rechte Hand“ nicht nur zur Seite „steht“. Die übrigen Puppen Princeton/Rod und Nicky/Trekkie Monster sind analog zum Originalkonzept von Robert Lopez und Jeff Marx auf Thomas Klotz (John Craig Venter/Linus Pauling in „Das Molekül“) bzw. Benedikt Ivo aufgeteilt, während Katharina Schutza (Mrs. Nordstrom in „A Little Night Music (Das Lächeln einer Sommernacht)“) Ricky sowie die beiden Bullshit-Bären spielt, die soo knuffig sind, aber die bösesten Ideen überhaupt haben, weshalb sie im Original auch Bad Idea Bears heißen. Thomas Klotz’ Hauptfigur Princeton dient quasi als roter Faden für die Handlung, während Benedikt Ivo mit seinem Song „Das Internet ist für Pornos“ als Trekkie Monster den Abräumer des Abends für sich verbuchen kann. Da die Darsteller mehrere Puppen übernehmen, müssen sie häufig eine Puppe spielen und eine andere sprechen, was es ausgesprochen interessant macht, dieses wechselnde Rollenspiel aufmerksam zu verfolgen. Ein Bewohner der Avenue Q hat immer ein reales Vorbild, in diesem Fall anstelle von Gary Coleman (im Original) bzw. Piero Esteriore (bei der Deutschsprachigen Erstaufführung in St. Gallen) eben – wie bereits bei der Deutschen Erstaufführung in Mannheim – Daniel Küblböck, der durch die RTL-Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ bekannt wurde und sich inzwischen tatsächlich für einen ernsthaften Künstler hält. Als solcher habe er seine Bestimmung schon längst gefunden und warte nun als Facility Manager der Avenue Q nur noch auf seinen Tod. Norbert Kohler dürfte dem ein oder anderen langjährigen Musicalbesucher aus der deutschen Erstaufführung von „Tanz der Vampire“ in Stuttgart noch ein Begriff sein, als Daniel Küblböck wird er womöglich nicht den Lookalike-Contest gewinnen, wie von Operndirektorin Sabine Schweitzer in der anschließenden Ansprache bereits treffend bemerkt, und auch die „positive Energie“ des Originals dürfte inzwischen ein wenig in Vergessenheit geraten sein, dementsprechend deutlich gibt Norbert Kohler zu verstehen, dass sein Bühnen-Daniel-Küblböck eben zum Auslachen da ist. Deutsch-Japanerin Anna Mari Takenaka spricht als Christmas Eve klischeehaft das R als L aus und vertreibt mit ihrer ganz speziellen Sicht auf die Dinge alle Patienten, ihre Wutausbrüche gegenüber ihrem Verlobten Brian lassen das Publikum mit diesem mitfühlen… womöglich aber auch nur den männlichen Teil des Publikums. Martin Christoph Rönnebeck verleiht dem aufstrebenden Comedian Brian den Charme des ewigen Losers, der sich am Ende entschließt, sein Glück als Puppenspieler zu versuchen. Ob das wohl gut geht?

„Avenue Q“, Stadttheater Bielefeld, Katharina Schutza mit den Bullshit-Bären, Michaela Duhme mit Lucy D. Schlampe, Stefanie Köhm mit Kate Monster, Thomas Klotz mit Princeton und Rod, Norbert Kohler (Daniel Küblböck), Benedikt Ivo mit Nicky und Trekkie Monster, Anna Mari Takenaka (Christmas Eve) und Martin Christoph Rönnebeck (Brian). © Sarah Jonek

Obwohl sich das Stück in seiner Ausrichtung an Menschen zwischen 25 und 40 Jahren richtet, begeisterte es auch das ältere Publikum bei der Premiere in Bielefeld augenscheinlich restlos. In welchem anderen Musical kann man schon so herzhaft und auch laut lachen!? Nach etwa zwei­ein­halb­stündiger Premiere gab es für alle Beteiligten langanhaltenden, verdienten Stehapplaus. „Avenue Q“ steht am Theater Bielefeld (augenblicklich) bis zum 31. Dezember 2017 mit insgesamt 13 Vorstellungen auf dem Spielplan.

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