Street Scene

„Street Scene“ – nach dem gleichnamigen Drama von Elmer Rice; Musik: Kurt Weill; Gesangstexte: Langston Hughes und Elmer Rice; Buch: Elmer Rice; Deutsche Bearbeitung: Lys Symonette; Inszenierung: Gil Mehmert; Choreografie: Daniela Günther (nach einer Choreografie von Ramses Sigl); Musikalische Leitung: Heiko Mathias Förster; Bühne: Heike Meixner; Kostüme: Steffi Bruhn; Licht: Benjamin Schmidt; Sounddesign: Marc Schneider-Handrup; Dramaturgie: Johanna Mangold, Juliane Schunke. Darsteller: Joachim Gabriel Maaß (Frank Maurrant), Noriko Ogawa-Yatake (Anna Maurrant), Dorin Rahardja (Rose Maurrant), Marie Lumpp* (Willie Maurrant/Mae Jones/Polizist), Anke Sieloff (Emma Jones), Wolf-Rüdiger Klimm (George Jones/Polizist/Ein Mann), Oliver Morschel* (Vincent Jones/Marshall James Henry/Polizist), Almuth Herbst (Olga Olsen), Michael Tews (Carl Olsen/Polizist), Thomas Weber-Schallauer (Abraham Kaplan), Lars-Oliver Rühl (Sam Kaplan), Miriam Schwan (Shirley Kaplan/Graduationgirl), William Saetre (Lippo Fiorentino), Christa Platzer (Greta Fiorentino), Wiltrud Maria Gödde (Laura Hildebrand), Silvia Oelschläger (Jennie Hildebrand/Mrs. Buchanan), Richard Salvador Wolff* (Charlie Hildebrand/Polizist), Vera Weichel* (Mary Hildebrand), Charles E. J. Moulton (Henry Davis), Yvonne Forster* (Grace Davis/Polizist), Sabina Detmer (Homeless Woman/Eine Frau), Matthias Kumer* (Dick McGann/Fred Cullen/Polizist), Michael Dahmen (Harry Easter/Dr. John Wilson/Officer Harry Murphy), Mark Weigel (Steve Sankey), E. Mark Murphy (Daniel Buchanan), Elise Kaufman, Birgit Brusselmans (Kindermädchen/Frauen von der Heilsarmee), Inga Krischke* (Joanna/Graduationgirl/Violinschülerin/Polizist), Katrin Bewer/Isabella Sonsala (Myrtl/Graduationgirl), Ann-Kristin Kuhn/Kira Skender (Joan/Graduationgirl), Matthias Günzel/Moritz Lidzbarski (Joe/Polizist). *Studierende im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste. Erste Tryout-Aufführung: 16. Dezember 1946, Schubert Theater, Philadelphia. Broadway Premiere: 9. Januar 1947, Adelphi Theatre, New York City. Deutsche Erstaufführung: 26. November 1955, Theater am Worringer Platz, Düsseldorf. Premiere: 22. September 2012, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„Street Scene“


Die „American Opera“ von Kurt Weill am Musiktheater im Revier



Wolf-Rüdiger Klimm (George Jones), Michael Tews (Carl Olsen), Almuth Herbst (Olga Olsen), Christa Platzer (Greta Fiorentino) und Anke Sieloff (Emma Jones)
Foto: Pedro Malinowski

Nachdem Kurt Weill, der aus einer jüdischen Familie stammte, am 21. März 1933 nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen und im September 1935 nach Amerika emigriert war, war er auf der Suche nach einer Theaterform, die Drama und Musik, gesprochene Dialoge und Songs miteinander verbindet. Bereits 1930 hatte er das Drama „Street Scene“ von Elmer Rice gesehen, für das dieser 1929 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, und wollte es für die Musiktheater­bühne adaptieren, doch erst 1943 willigte Elmer Rice schließlich ein. So schrieb Kurt Weill 1946 die „amerikanische Oper“ „Street Scene“, in der europäische Oper und amerikanisches Musical miteinander verschmelzen und Dialog und Musik nahtlos ineinander übergehen, wodurch sich das Stück einer eindeutigen Genre-Zuordnung entzieht. Nach Tryout-Vorstellungen am Schubert Theater in Philadelphia, erlebte „Street Scene“ am 9. Januar 1947 am Broadway am Adelphi Theatre seine Uraufführung, wurde dort allerdings nur bis zum 17. Mai 1947 in 148 Vorstellungen gezeigt. Kurt Weill wurde für das Stück 1947 mit dem Tony Award für die beste Originalmusik ausgezeichnet, Lucinda Ballard erhielt den Tony Award für das beste Kostümdesign. „Street Scene“ zählt eher zu den selten gespielten Stücken, am 19. Juni 2011 erlebte „Broadways erste richtige Oper“ in der Regie von Bettina Bruinier seine Premiere an der Semperoper in Dresden, und am 25. und 26. September 2011 wurde „Street Scene“ in einer Inszenierung von John Fulljames im Theater an der Wien gezeigt. Bei der ersten Premiere der neuen Spielzeit 2012/2013 am Musiktheater im Revier am 22. September 2012 handelt es sich um eine Kooperation des MiR mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding und der Hochschule für Musik und Theater München. Regisseur Gil Mehmert hatte „Street Scene“ auf Bestreben von Klaus Zehelein, seit 2006 Präsident der Bayerischen Theaterakademie August Everding, am 11. Februar 2011 als studienübergreifende Produktion unter der Musikalischen Leitung von Ulf Schirmer auf die Bühne des Prinzregententheaters gebracht, in der die Studenten der Studiengänge Musiktheater, Musical und Schauspiel gleichermaßen integriert waren. Mit 40 zu besetzenden Rollen, die am Musiktheater im Revier von 31 Darstellern auf der Bühne verkörpert werden, gehört „Street Scene“ zu den personell aufwändigsten Werken des 20. Jahrhunderts. Neben den fest am MiR engagierten Solisten ergänzen Studierende im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste das Ensemble und haben teilweise die Kinderrollen übernommen.


Marie Lumpp (Mae Jones) und Matthias Kumer (Dick McGann)
Foto: Pedro Malinowski

„Street Scene“ hat keine fortlaufende Handlung im eigentlichen Sinn, es ist vielmehr eine Milieustudie einer schmalen Straße vor einem der überbevölkerten Wohnblöcke in der Lower East Side von Manhattan Mitte der 1940er Jahre. Das Stück schildert in Gesprächen, Mei­nungs­ver­schie­den­heiten und ernsthaften Auseinandersetzungen bei drückender Sommerhitze die hoffnungslosen Lebensumstände und sozialen Aspekte einer benachteiligten Bevölkerungsschicht im Laufe eines Tages. Kurt Weill war von den alltäglichen Problemen der Bevölkerung in den weniger betuchten Gegenden von New York fasziniert und hat versucht, seine persönlichen Eindrücke so authentisch wie möglich in seine Oper einfließen zu lassen. Hier wohnen die Maurrants, Anna und Frank haben sich in ihrer Ehe schon längst nichts mehr zu sagen, so dass Anna Maurrant aus Enttäuschung heimlich eine Affäre mit dem Milchmann Steve Sankey beginnt und damit für ständigen Tratsch unter den Bewohnern in ihrer Straße sorgt, insbesondere bei ihren Nachbarinnen Emma Jones, Greta Fiorentino und Olga Olsen. Als Frank Maurrant von der Arbeit kommt, streitet er mit Anna darüber, dass ihre Tochter im Teenageralter immer noch nicht zu Hause ist. Anna hat ihren Glauben an eine bessere Zukunft noch nicht verloren, und als Steve Sankey auftaucht und kurz darauf wieder verschwindet, folgt ihm Anna unter dem Vorwand, nach ihrem Sohn Willie zu suchen, woraufhin der Tratsch von neuem beginnt. Frank stellt Anna bei ihrer Rückkehr noch ahnungslos zur Rede, und wird prompt misstrauisch, als auch Steve Sankey kurze Zeit später wieder in der Straße auftaucht. Am Abend wird Rose Maurrant von ihrem Chef Harry Easter nach Hause begleitet, der sie zu einer engeren Beziehung überreden möchte. Doch Rose träumt von einem besseren Leben und aufrichtiger Liebe, sie teilt ihre Träume am liebsten mit dem jüdischen Immigranten Sam Kaplan.


Matthias Günzel (Joe), Marie Lumpp (Willie Maurant), Kathrin Bewer (Myrtl), Richard Salvador Wolff (Charlie Hildebrand) und Kira Skender (Joan)
Foto: Pedro Malinowski

Am nächsten Morgen kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Anna und Frank über sein Verhalten, in den sich Rose erschrocken einmischt und ihrem Vater Vorwürfe macht. Frank bricht wütend zu seiner Dienstreise nach New Haven auf und lässt seine Frau verzweifelt zurück. Sam und Rose malen sich aus, New York gemeinsam zu verlassen, und werden von Harry Easter unterbrochen, der Rose zu einer Beerdigung begleitet. Sam bemerkt, dass Steve Sankey das Haus betritt, und als Frank Maurrant früher als erwartet von einer Dienstreise zurückkehrt, versucht er die beiden noch zu warnen, doch Frank ertappt seine Frau mit dem Geliebten auf frischer Tat, erschießt beide und versucht, sich aus dem Staub zu machen. Als Rose von der Beerdigung zurückkommt und die betroffenen Menschen auf der Straße sieht, versucht Sam, sie zurückzuhalten, was ihm aber nicht gelingt. Bald darauf wird ihr Vater von der Polizei gefasst und abgeführt, er gesteht Rose, dass er Steve Sankey und seine Frau wie von Sinnen aus Eifersucht und Liebe getötet habe. Sam drängt Rose, die Stadt mit ihm zu verlassen, doch sie will ihren Weg lieber allein machen, um seiner Karriere nicht im Weg zu stehen. Die Wohnung, in der der Mord geschah, wird zu einer Attraktion, und schließlich ziehen neue Mieter ein. Für die Bewohner der Straße geht das Leben weiter wie bisher, und Emma Jones, Greta Fiorentino und Olga Olsen beklagen sich wie schon am Anfang über die unerträgliche Hitze: „Diese Hitze ist einfach die Hölle.“


Joachim Gabriel Maaß (Frank Maurrant), Noriko Ogawa-Yatake (Anna Maurrant) und Dorin Rahardja (Rose Maurrant)
Foto: Pedro Malinowski

Regisseur Gil Mehmert hat aus den fest am Musiktheater im Revier engagierten Solisten und den Studierenden im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste ein harmonisches Ensemble geformt, in dem jeder zu einem positiven Gesamteindruck beiträgt. Nicht nur vorlagengemäß können sich Noriko Ogawa-Yatake (Anna Maurrant) und Joachim Gabriel Maaß (Frank Maurrant), Lars-Oliver Rühl (Sam Kaplan) und Dorin Rahardja (Rose Maurrant), die mit dieser Spielzeit aus dem Jungen Ensemble als feste Solistin in das Ensemble des MiR aufgenommen wurde, sowie Mezzosopranistin Anke Sieloff (Emma Jones) als „Klatschweib“ stärker profilieren, die mit ihrem trunksüchtigen Ehemann, einem unzivilisierten Sohn und ihrer häufig den Partner wechselnde Tochter doch eigentlich genügend eigene Probleme hätte. Bassist Joachim Gabriel Maaß gibt sich als launischer Bühnenarbeiter Frank Maurrant gegenüber seiner Frau Anna gefühlskalt und lieblos, deren Rolle von der japanische Sopranistin Noriko Ogawa-Yatake warmherzig und liebebedürftig verkörpert wird. Sopranistin Dorin Rahardja konnte bei der Premiere als Rose Maurrant am nachhaltigsten überzeugen, was Generalintendant Michael Schulz im Anschluss sogar zu der Bemerkung „A Star is born“ veranlasste. Tenor Lars-Oliver Rühl beeindruckt als sanftmütiger Teenager Sam Kaplan, der ernsthaft in Rose verliebt ist. Auch wenn „Street Scene“ bei drückender Sommerhitze spielt, richtig „heiß“ geht es bei der Tanzeinlage von Marie Lumpp (Mae Jones) und Matthias Kumer (Dick McGann) zu „Dusslig und verhext“ („Moon-faced, Starry-eyed“) her, die beiden nutzen den flotten Swing gekonnt, um dem Publikum „einzuheizen“. Auch die Kinder, die von Studierenden im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste, unterstützt von drei Mitgliedern der Statisterie, dargestellt werden, haben zu Beginn des zweiten Akts mit dem „Kinderlied“ „Eins, zwei, drei, vier, Schuss ins Tor“ („Catch Me If You Can“) einen eigenen Auftritt, der in einer großen Rauferei endet.


Lars-Oliver Rühl (Sam Kaplan) und Dorin Rahardja (Rose Maurrant)
Foto: Pedro Malinowski

„Street Scene“ darf nach den Vorgaben der Kurt Weill Foundation for Music nur in einer Häuserfassade gespielt werden. Heike Meixner legte dafür eindrucksvoll ein Mietshaus mit vier Stockwerken schräg nach hinten ansteigend auf die Bühne, dessen Fenster und Balkone für Auf- und Abgänge genutzt werden und dessen gesamte Fassade bespielt wird – eine Metapher für den Mikrokosmos eines Mietshauses und den gesamten Planeten. Stefanie Bruhn hat dazu passend – wie Regisseur Gil Mehmert treffend bemerkte – mit „ungehemmtem Mut zur Hässlichkeit“ im positiven Sinne die Kostüme in zeitlosem Look entworfen. Dennoch lässt sich die Handlung anhand eines Details zeitlich einordnen, und zwar anhand der Satellitenschüsseln auf dem Dach des Mietshauses: Der erste kommerzielle nordamerikanische Satellit zur Fernsehübertragung wurde 1972 gestartet, erst Mitte der 1980er Jahre wurde der Empfang von Satellitenfernsehen im Direktempfang auch in Privathaushalten möglich. Daniela Günther hat am MiR die Choreografie nach der Vorlage von Ramses Sigl erarbeitet, die organisch in den Erzählverlauf einfließt. Die an Musikstilen reiche Partitur Kurt Weills ist bei der Neuen Philharmonie Westfalen unter der Musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Heiko Mathias Förster in besten Händen, deren Musiker haben an der Verbindung von Oper mit symphonischen Swing und Jazz offenbar auch Gefallen gefunden.


Ensemble, Foto: Pedro Malinowski

Das Premierenpublikum bedachte Darsteller und Kreativteam nach der etwa zweieinhalbstündigen Aufführung mit wohlwollendem Applaus. „Street Scene“ steht am Musiktheater im Revier mit insgesamt 10 Vorstellungen noch bis 15. Dezember 2012 auf dem Spielplan. Die nächsten Termine stehen am 28. und 30. September (15 Uhr), 3., 13. und 18. Oktober und 10., 18. und 22. November 2012 auf dem Programm.

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