Schauspiel Essen: „The Black Rider“

„The Black Rider“ – nach der alten Volkssage „Der Freischütz“ von Johann August Apel; Musik und Texte: Tom Waits; Buch: William S. Burroughs; Deutsche Bearbeitung: Wolfgang Wiens; Original­in­sze­nie­rung: Robert Wilson; Inszenierung: Reinhardt Friese; Bühne: Günter Hellweg; Kostüme: Annette Mahlendorf; Musikalischer Leiter: Willi Haselbek. Darsteller: Tom Gerber (Pegleg), Rezo Tschchikwischwili (Erbförster Kuno, Herzog), Gerhard Hermann (Förster Bertram), Ines Krug (Anne, seine Frau), Laura Kiehne (Käthchen, deren Tochter), Johann David Talinski (Schreiber Wilhelm), Stephan Brauer (Jägers­bur­sche Robert, Wilderer), Monika Stahler (Taube). Uraufführung: 31. März 1990, Thalia-Theater, Hamburg. Premiere: 3. Dezember 2011, Grillo-Theater, Essen.



„The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“


Ein furioser Höllenritt durch Moral, Gier und Skrupellosigkeit


„The Black Rider“ ist eine moderne Musiktheater-Version von „Der Freischütz. Eine Volkssage“, der ersten Geschichte einer Sammlung von Geister- und Spukgeschichten, die Johann August Apel (* 17. September 1771 in Leipzig, † 9. August 1816 in Leipzig) 1811 im ersten Band des Gespensterbuches zusammen mit Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun) herausgegeben hat, Friedrich Kind hat auf dessen Grundlage in enger Zusammenarbeit mit Carl Maria von Weber das Opernlibretto zu „Der Freischütz“ geschrieben. Hamburg hatte sich als erste „Musical-Stadt“ in Deutschland etabliert, und Thalia-Intendant Jürgen Flimm war an einem anspruchsvollen Gegenentwurf zu den beiden Lloyd-Webber-Produktionen „Cats“ (Premiere in Hamburg: 18. April 1986) und „Phantom der Oper“ (Premiere in Hamburg: 29. Juni 1990) gelegen. Er verpflichtete für die Neugestaltung der Freischütz-Sage den amerikanischen Regisseur Robert Wilson, der sich den Songschreiber Tom Waits und den Schriftsteller William S. Burroughs (Buch) ins Boot holte. Robert Wilson und Tom Waits hatten ihre eigenen Drogen-Erfahrungen gesammelt und wollten die Geschichte der Freikugeln als „Analogie zu den Verheißungen der Heroinschüsse“ verstanden wissen. William S. Burroughs war auf geradezu makabre Weise für das Thema prädestiniert, er hatte am 6. September 1951 unter Alkoholeinfluss aus Versehen bei einem mutwilligen Wilhelm-Tell-Spielchen seine eigene Frau erschossen. Dramaturg Wolfgang Wiens übersetzte die fragmentarischen Texte nur teilweise ins Deutsche und trug damit entscheidend zum witzig-schrägen Libretto bei. Nach seiner spektakulären Uraufführung am Thalia-Theater in Hamburg (Premiere: 31. März 1990) ist das gleichermaßen schräge wie romantische Musical „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ mit überwältigendem Erfolg um die Welt gegangen – am 3. Dezember 2011 feierte es am Grillo-Theater in Essen Premiere.

Laura Kiehne (Käthchen), Johann David Talinski (Wilhelm), Ines Krug (Anne) und Gerhard Hermann (Bertram)
Foto: Birgit Hupfeld


Die Geschichte kennt man: Der Schreiber Wilhelm hat sich in die Försterstochter Käthchen verliebt, und auch sie erwidert seine Gefühle. Doch der standesbewusste Förster Bertram besteht auf einem Jäger als Schwiegersohn, für ihn wäre der junge Jägersbursche Robert genau der richtige Kandidat: „Es muss ein Jäger sein, so will´s der Brauch!“ Doch Käthchen liebt nun einmal den Schreiber Wilhelm, so stellt der Vater schließlich eine Bedingung: Mit einem „Probeschuss“ soll Wilhelm seine Zielsicherheit unter Beweis stellen, um sich als Schwiegersohn zu qualifizieren. Doch dafür muss Wilhelm erst einmal schießen lernen. Dabei erweist er sich als ziemlich untalentiert, und nimmt nur zu gern die Hilfe des undurchsichtigen Pegleg (ein Slangausdruck für den Teufel) an, der ihm eine Hand voll „Freikugeln“ zu Verfügung zur Verfügung stellt, mit denen man alles treffen kann, was der Schütze treffen will. Damit ist auch der untalentierte Schreiber ein treffsicherer Schütze, der leichte Erfolg macht ihn regelrecht süchtig, und so sind die Freikugeln bald aufgebraucht. Daher muss sich Wilhelm in der Wolfsschlucht neue Kugeln gießen, doch diesmal verlangt Pegleg seinen Preis: „Seven bullets. Six are yours and hit the mark. One is mine and hit the dark.“ Das Ende ist tragisch, beim entscheidenden Probeschuss trifft die siebte von Wilhelm abgefeuerte Kugel Käthchen, woraufhin Wilhelm vollends verrückt wird.

Stephan Brauer (Wilderer) und Rezo Tschchikwischwili (Kuno, oben)
Foto: Birgit Hupfeld


Nach seiner Inszenierung der Junk-Oper „Shockheaded Peter“ am Grillo-Theater Essen in der Spielzeit 2010/2011 (Premiere: 16. Oktober 2010) bringt Regisseur Reinhardt Friese in der laufenden Spielzeit „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ in Essen auf die Bühne und bezieht sich dabei neben der Freischütz-Volkssage von 1810 auch auf die von Otto von Graben zum Stein 1730 in „Monathliche Unterredungen von dem Reiche der Geister zwischen Andrenio und Pneumatophilo“ niedergeschriebene Sage „Der Freikugelguß des Schreibers“, angeblich eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1710, basierend auf den Gerichtsakten der böhmischen Stadt Domažlice. (Diese brachten Otto von Graben zum Stein 1731 ein Publikationsverbot des königlich-preußischen Hofes ein.) Dabei tritt die Geldgier des Schreibers Georg Schmid – ein Fan des Scheibenschießens um Geld – vor das romantische Liebesmotiv für den faustischen Pakt, wobei Reinhardt Friese verdeutlichen möchte, dass auch die Liebe süchtig machen und dazu verführen kann, moralische Grenzen zu überschreiten. Natürlich bleibt auch seine Inszenierung eine „Drogen-Allegorie“, die Parallelen zur Drogensucht sind unverkennbar. Für Bühne und Kostüme zeichnen wiederum Günter Hellweg und Annette Mahlendorf verantwortlich. Mit viel Bühnennebel, noch mehr rot fluoreszierenden „Kugeln“ und überraschenden Requisiten wie einem Rhönrad, welches bei dem „Freischuss“ von Kuno als Hirsch fungiert, auf den der Wilderer gebunden ist, den Kuno „freischießt“, gelingen Günter Hellweg interessante Bilder, an denen auch Annette Mahlendorf mit ihren Kostümen entscheidenden Anteil hat. Sie lässt mit ihren „menschlichen“ Bäumen, Tieren des Waldes und den Hexen den Wald zum Leben erwachen.

Johann David Talinski (Wilhelm) und Tom Gerber (Pegleg)
Foto: Birgit Hupfeld


Die Darsteller sind, mit Ausnahme von Stephan Brauer, der seine Ausbildung an der Stage School of Music, Dance & Drama in Hamburg absolvierte, allesamt Schauspieler, was sie aber nicht davon abhält, in diesem schrägen Musical auch zu singen – und wie! Tom Gerber taucht zu Beginn als Leibhaftiger aus dem Nebel auf und intoniert mit rauchiger Stimme den Titelsong: „Come on along with the Black Rider, we´ll have a gay old time, lay down in the web of the black spider, I´ll drink your blood like wine.“ Den an der Handlung beteiligten Personen gegenüber gibt er sich undurchsichtig, für die Zuschauer übernimmt er aber gleichzeitig die Rolle des Kommentators. Gerhard Hermann hat als traditions­be­wusster Förster Bertram mit Liebe nicht viel am Hut, er möchte einen Jäger für seine Tochter zum Mann: „Liebe kann man nicht essen. Es muss ein Jäger sein, so will´s der Brauch. Vergiss das Herz, denk an den Bauch: Kommt was in den Magen rein, folgt das Herz von ganz allein.“ Den Leitsatz „Tu, was du willst.“, den Erbförster Kuno ihm mit auf den Weg gibt, kann er drehen und wenden wie will, er kann sich einfach nicht damit anfreunden. Ines Krug als Anne, seine Frau, steht dagegen auf der Seite ihrer Tochter, sie unterstützt ihre Liebe zum Schreiber Wilhelm. Im Duett „In the morning“ bei den Hochzeitsvorbereitungen ergänzen sich Ines Krug und Laura Kiehne als Käthchen sehr schön. Laura Kiehne verleiht ihrem Käthchen an der Schwelle zur Frau jugendliche Unbekümmertheit, gegen die vom Vater geplante Hochzeit mit Robert setzt sie sich jedoch vehement mit Händen und Füßen zur Wehr. Johann David Talinski verkörpert den verliebten Schreiber Wilhelm, in den Liebesduetten „The briar and the rose“ und „I´ll shoot the moon“ harmoniert er sehr gut mit Laura Kiehne. Die Entwicklung vom verliebten Schreiber, der Herzen in Baumstämme schnitzt, zum abhängigen „Junkie“ kann er überzeugend vermitteln. Stephan Brauer kennt als Jägersbursche Robert den Wald wie seine Westentasche, für Förster Bertram ist er der ideale Heiratskandidat für seine Tochter, die ihn aber ihrerseits abgrundtief unsympathisch findet. Seinen stärksten Auftritt hat er mit „November“ als Wilderer im Rhönrad.

Johann David Talinski und Stephan Brauer, Statisterie
Foto: Birgit Hupfeld


Die sechsköpfige Band unter der musikalischen Leitung von Willi Haselbek setzt Tom Waits´ teilweise eigenwillige Partitur präzise um, der mitunter gewollt schräge Sound ist meilenweit von klassischen Broadway-Musicals entfernt und trifft damit womöglich nicht jedermanns Geschmack. Alle Musiker spielen mehrere Instrumente, die große Bandbreite an Musikstilen von Jazz über Varieté und Vaudeville zu Alternative Rock findet sich auch in der Instrumentierung wieder. Nach etwa 75-minütigem furiosen Höllenritt ist auch „die letzte Rose des Sommers verblüht“, das Premieren­pub­li­kum spendete begeistert lang anhaltenden Applaus. Die nächsten Vorstellungen stehen am 7. und 15. Dezember 2011, am 8., 21. und 29. Januar 2012 und am 10. Februar 2012 auf dem Spielplan des Grillo-Theaters.

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