Musiktheater im Revier: „Im weißen Rössl“

„Im weißen Rössl“ – nach dem Alt-Berliner Lustspiel „Im weißen Rößl“ von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg; Musik: Ralph Benatzky; Libretto: Hans Müller-Einigen, Erik Charell; Liedtexte: Robert Gilbert; Inszenierung: Peter Hailer; Choreografie: Kati Farkas; Bühne: Etienne Pluss; Kostüme: Uta Meenen; Musikalischer Leiter: Bernhard Stengel. Darsteller: Christa Platzer (Wirtin Josepha Vogelhuber), Thomas Weber-Schallauer (Zahlkellner Leopold Brandmeyer), Michael Dahmen (Rechtsanwalt Dr. Erich Siedler), Uwe Schönbeck (Wilhelm Giesecke, Berliner Fabrikant), Anke Sieloff (Ottilie, seine Tochter), E. Mark Murphy (Sigismund Sülzheimer, Sohn des Konkurrenten), Joachim G. Maaß (Prof. Dr. Hinzelmann, Urlauber), Dorin Rahardja/Irina Simmes (Klärchen, seine Tochter), Rüdiger Frank (Piccolo), Tomas Möwes (Kaiser Franz Joseph I.), Ralf Rhiel (Reiseführer), Wolf-Rüdiger Klimm (Der lange Kellner Franz), Salvador Caro/Askan Geisler (Pianist), Franziska Hackel (Kathi), Sabina Detmer, Patricia Pallmer (Zwei Urlaubsgäste), Sergey Fomenko, Jerzy Kwika (Zwei Kofferträger), Birgit Brusselmans (Jodlerin), Oliver Aigner (Bürgermeister), Dieter Salje (Oberförster), Heike Einhorn (Zenzi). Uraufführung: 8. November 1930, Großes Schauspielhaus, Berlin. Erstaufführung der rekonstruierten Premierenfassung: 19. Juni 2009, Staatsoperette Dresden. Premiere: 12. November 2011, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen.



„Im weißen Rössl“


Die rekonstruierte Premierenfassung am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen


Viele werden bei dem Singspiel „Im weißen Rössl“ sofort an die Verfilmung mit Peter Alexander, Gunther Philipp und Waltraut Haas aus dem Jahr 1960 denken, doch das Stück hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich: Mit zum Hotel verkleideter Fassade und dem Versprechen „Tritt ein und vergiss deine Sorgen“ lockte das Große Schauspielhaus zur Uraufführung des „Weißen Rößls“ am 8. November 1930 das Berliner Publikum auf eine Sehnsuchtsreise ins fiktive Salzkammergut. Fast genau ein Jahr, nachdem die Welt durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse mit einem Schlag in eine globale Wirtschaftskrise gerissen wurde, spiegelten Ralph Benatzky (* 5. Juni 1884 in Mährisch-Budwitz, † 16. Oktober 1957 in Zürich) und sein Autor Robert Gilbert (Liedtexte) mit ihrem Auftragswerk für den welterfahrenen Revuekönig Erik Charell (* 8. April 1894 in Breslau, † 15. Juli 1974 in München, eigentlich Erich Karl Löwenberg) die überschäumende Lebenslust der Berliner Vergnügungskultur zwischen den Weltkriegen. Aus manch melodienseligem Ohrwurm lugte auch immer wieder ein Stück jazziger Broadway-Sound hervor. Die Nationalsozialisten diffamierten die jazzigen amerikanischen Tanzrhythmen als „entartete Negermusik“, die amerikanischen Musikeinflüsse wurden gestrichen und durch streichergetragene Walzermelodien ersetzt. An der „bereinigten Fassung“ wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten, erst 1994 belebte die „Bar jeder Vernunft“ in Berlin den ursprünglichen Revuecharakter des Stückes neu. Schließlich fand der Verlag Felix Bloch Erben Anfang 2009 in Zagreb das längst verschollen geglaubte, vollständige historische Orchestermaterial, welches von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn unter Mitarbeit von Winfried Fechner „bühnentechnisch eingerichtet“ wurde, am 19. Juni 2009 nach über 60 Jahren an der Staatsoperette Dresden zum ersten Mal wieder erklang und damit die erste Wiederaufführung der von Erik Charell 1930 als Revueoperette aufgeführten Urfassung des „Weißen Rößl“ ist. Peter Hailer hat sich bei seiner Inszenierung am Musiktheater im Revier ebenfalls für die „Bühnenpraktische Rekonstruktion der Originalfassung“ entschieden, die zuvor noch am Theater Hagen (Premiere: 27. November 2010, Inszenierung: Thilo Borowczak), an der Komischen Oper Berlin (Premiere: 28. November 2010, Inszenierung: Sebastian Baumgarten, Musikalischer Leiter: Koen Schoots) und am Theater Görlitz (Premiere: 24. Juni 2011, Regie: Sabine Sterken) gezeigt wurde. Das Musiktheater im Revier ist damit die fünfte Station der rekonstruierten Premierenfassung.

„Im weißen Rössl“, Foto: Pedro Malinowski

Im Hotel „Zum weißen Rössl“ hat Zahlkellner Leopold Brandmeyer sein Herz an die handfeste Wirtin Josepha Vogelhuber verloren. Doch die will dieses Jahr endlich den alljährlichen Sommergast Dr. Erich Siedler für sich erobern, den sie noch heute erwartet und in den sie heimlich verliebt ist. Auch der Berliner Trikotagenfabrikant Wilhelm Giesecke, Erfinder der vorne geknöpften Hemdhose „Apollo“, mit seiner Tochter Ottilie zählen zu den neuen Hotelgästen. Erst kürzlich hat er einen Patent-Streit gegen seinen Konkurrenten Sülzheimer verloren, dieser hatte die Hemdhose „Attila“, hinten geknöpft, ebenfalls zum Patent angemeldet. Zu allem Übel ist Dr. Siedler Sülzheimers Anwalt. Ottilie erliegt jedoch schon bald den Avancen des Rechtsanwalts. Als weitere Gäste treffen Sigismund Sülzheimer, der Sohn von Gieseckes Konkurrenten und von allen nur „der schöne Sigismund“ genannt, sowie der verarmte Professor Hinzelmann mit seiner Tochter Klärchen ein. Sigismund soll Ottilie heiraten, um dem Konkurrenzkampf zwischen Giesecke und Sülzheimer ein Ende zu bereiten. Doch der hat seinerseits ein Auge auf das reizende Klärchen geworfen. Um dieses Intrigengewirr mitten in der Hochsaison zu lichten, bedarf es schon eines Auftritts von Kaiser Franz Joseph I. persönlich. Auf sein Anraten entlässt Josepha Zahlkellner Leopold mit dem überraschenden Zeugnis: „Entlassen als Zahlkellner, aber engagiert auf Lebensdauer als Ehemann“. Auch die beiden anderen Liebespaare finden sich, und am Ende wird sogar der Patent-Streit beigelegt. „We have no troubles here! Here life is beautiful …“

Thomas Weber-Schallauer (Zahlkellner Leopold Brandmeyer), Foto: Pedro Malinowski

Schauspieler Thomas Weber-Schallauer verkörpert den Zahlkellner Leopold Brandmeyer, der als „Jammerlappen“ seiner Verzweiflung mit „Zuschau´n kann i net“ glaubhaft Ausdruck verleiht, wobei ihn Christa Platzer als resolute Rössl-Wirtin Josepha Vogelhuber mit sprödem Charme wiederholt abblitzen lässt. Zum heimlichen Star beim Publikum avanciert Uwe Schönbeck als Berliner Fabrikant Wilhelm Giesecke, der mit „Berliner Schnauze“ ständig seinen Unmut über die Reise zum Wolfgangsee kundtun darf und stattdessen viel lieber nach Ahlbeck gefahren wäre. Mezzosopranistin Anke Sieloff und Bariton Michael Dahmen harmonieren als Ottilie Giesecke und Rechtsanwalt Dr. Erich Siedler sehr gut miteinander, ihr Liebesduett „Mein Liebeslied muss ein Walzer sein“, das in der „Rekonstruktion der Originalfassung“ erst im 3. Akt zu Gehör kommt, ist einer der gesanglichen Höhepunkte der Aufführung.

Michael Dahmen (Rechtsanwalt Dr. Erich Siedler) und Anke Sieloff (Ottilie Giesecke), Foto: Pedro Malinowski

Auch das zweite Liebespaar ist mit Irina Simmes als Klärchen Hinzelmann und E. Mark Murphy als Sigismund Sülzheimer hinreißend besetzt. Der kanadische Tenor Murphy animiert das Publikum bei „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“ erfolgreich zum Mitklatschen, und wenn sich Sigismund und Klärchen in der Badeanstalt näher kommen und ihre kleinen Schwächen auffliegen, fliegen den beiden die Herzen der Zuschauer zu. Bariton Tomas Möwes erträgt als Kaiser Franz Joseph I. die beinahe nervigen Ehrerbietungen seiner Untertanen mit stoischer Gelassenheit und kommentiert diese mit dem verbürgten Ausspruch „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.“ Die Rolle des Piccolo ist in Gelsenkirchen mit Rüdiger Frank überaus treffend besetzt.

Rüdiger Frank (Piccolo), Foto: Pedro Malinowski

Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Musikalischen Leitung von Bernhard Stengel bringt die ursprüngliche Partitur frecher und jazziger als das bis heute gespielte 1950er-Jahre-Arrangement zu Gehör; auf die in der Originalfassung vorgesehenen Bühnenmusiker (Zither-Trio, Jazz-Band, Dampfer- und Feuerwehrkapelle) wird aufgrund der Platzverhältnisse zugunsten eines Pianisten auf der Bühne verzichtet. Die ausgedehnten Tanzsequenzen der Originalfassung kommen auch hier nicht zu kurz, das Ballet im Revier (vormals Ballett Schindowski) weiß in der Choreografie von Kati Farkas neben den 1930er-Jahre-Modetänzen auch mit einem Schuhplattler zu begeistern. Passend zur Revue-Operette liess sich Etienne Pluss bei seinem Bühnenbild vom Wiener Prater inspirieren und hat Hotel und Bergwelt mit jeder Menge Glühlampen ausgestattet, wobei sich sein Hotel durch Aufklappen bzw. Drehen in einen Kuhstall bzw. eine altmodische Badeanstalt verwandeln lässt. Die Parodie und Satire des Ur-Rößl setzt sich bis in die Kostüme von Uta Meenen fort, neben Dirndl und Lederhose tritt das Ballett beim ersten Rendezvous von Ottilie und Dr. Siedler im Kuhstall in schrägen Kuh-Kostümen auf.

Tomas Möwes (Kaiser Franz Joseph I.) und Christa Platzer (Wirtin Josepha Vogelhuber), Foto: Pedro Malinowski

Allerspätestens bei der Zugabe haben auch die letzten Zuschauer des überwiegend älteren Publikums ihre Sorgen vergessen und klatschen und singen bei den bekannten Musiknummern begeistert mit. So gilt auch heute im Musiktheater im Revier wie schon vor mehr als 80 Jahren im Großen Schauspielhaus in Berlin „Tritt ein und vergiss deine Sorgen“. Bis zum 10. Juni 2012 ist die Revue-Operette in Gelsenkirchen zu sehen, die nächsten Vorstellungen stehen am 24. und 27. November sowie am 4., 26. und 31. Dezember 2011 auf dem Spielplan.

Kommentare