„Die Dreigroschenoper“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen


„Die Dreigroschenoper“ – nach der Ballad Opera „The Beggar’s Opera“ von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik) aus dem Jahr 1728; Text: Bertolt Brecht; Musik: Kurt Weill; unter Mitarbeit von Elsabeth Hauptmann; Regie: Barrie Kosky; Bühne: Rebecca Ringst; Kostüme: Dinah Ehm; Dramaturgie: Sibylle Baschung; Musikalische Leitung: Adam Benzwi. Darsteller: Nico Holonics (Macheath, genannt Mackie Messer), Tilo Nest (Jonathan Jeremiah Peachum, Besitzer der Firma „Bettlers Freund“), Constanze Becker (Celia Peachum, seine Frau), Cynthia Micas (Polly Peachum, seine Tochter), Kathrin Wehlisch (Jackie „Tiger“ Brown, oberster Polizeichef von London), Laura Balzer (Lucy Brown, seine Tochter), Bettina Hoppe (Spelunken-Jenny), Josefin Platt (Der Mond über Soho), Julia Berger, Julie Wolff, Dennis Jankowiak, Tobias Bieri, Theresa Scherhag, Katharina Beatrice Hierl (Bandit/Hure), Nico Went, Nicky Wuchinger, Denis Riffel, Timo Stacey (Filch, einer von Peachums Bettlern/Smith, Konstabler/Bandit und Hure), Heidrun Schug (Der Mond über Soho [Double]), Berliner Ensemble. Uraufführung: 31. August 1928, Theater am Schiffbauerdamm, Berlin. Premiere: 13. August 2021, Berliner Ensemble, Großes Haus, Berlin. Besuchte Vorstellung: 8. Juni 2022, Ruhrfestspielhaus, Recklinghausen.



„Die Dreigroschenoper“


Die Neuproduktion des Berliner Ensembles bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen


Am 31. August 1928 eröffnete der neue Direktor des Berliner Ensembles Ernst Josef Aufricht das Theater am Schiffbauerdamm mit der Uraufführung von Bertolt Brechts und Kurt Weills „Dreigroschenoper“ – eine Bearbeitung der „Beggar’s Opera“ von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik) – im Bühnenbild von Caspar Neher mit Harald Paulsen (Macheath, genannt Mackie Messer), Erich Ponto (Jonathan Jeremiah Peachum), Roma Bahn (Polly Peachum), Lotte Lenya (Spelunken-Jenny), Kurt Gerron („Tiger“ Brown) u. a. Am 1. August 1928 begannen die Proben unter der Regie von Erich Engel, nach einem Streit zwischen Erich Engel und Bertolt Brecht übernahm dieser selbst zum Ende hin die Regie. Es wurde einer der größten Theatererfolge der Weimarer Republik. Bereits im Januar 1929 wurde „Die Dreigroschenoper“ an 19 deutschen Theatern sowie in Wien, Prag und Budapest gespielt, 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen verboten. Seit der Uraufführung gab es insgesamt vier Neuinszenierungen der „Dreigroschenoper“ am Schiffbauerdamm: In der Inszenierung von Erich Engel (Premiere 23. April 1960), Manfred Wekwerth (Premiere 2. Oktober 1981) und Robert Wilson (Premiere 27. September 2007), die bis 9. Februar 2020 in 317 Vorstellungen gezeigt wurde. Am 13. August 2021 feierte schließlich die Neuinszenierung von Barrie Kosky am Ort der Uraufführung am Schiffbauerdamm Premiere, die ursprünglich für 29. Januar 2021 geplant war und nun für vier Vorstellungen bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen 2022 zu sehen ist. Das ursprünglich bereits im Mai 2021 geplante Gastspiel des Berliner Ensembles bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen ist leider aufgrund der Verschiebung der Berliner Premiere der Neuinszenierung entfallen. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen sind eines der größten Theaterfestivals Europas und stehen in der 76. Spielzeit vom 1. Mai bis 12. Juni 2022 unter dem Motto „Haltung und Hoffnung“.

„Die Dreigroschenoper“, Laura Balzer (Lucy Brown), Tilo Nest (Jonathan Jeremiah Peachum), Cynthia Micas (Polly Peachum), Bettina Hoppe (Spelunken-Jenny), Josefin Platt (Der Mond über Soho), Nico Holonics (Macheath, genannt Mackie Messer), Constanze Becker (Celia Peachum), Andrea Wesenberg, Nicki Wuchinger. Foto: JR Berliner Ensemble

Der Verbrecherkönig Macheath, genannt Mackie Messer, entführt Polly Peachum, die Tochter des Bettlerkönigs Jonathan Jeremiah Peachum, und heiratet sie heimlich in einem leeren Pferdestall im Londoner Stadtteil Soho, womit er seinen Kontrahenten Jonathan Peachum gegen sich aufbringt. Daraufhin zettelt dieser ein Komplott gegen Mackie Messer an, um ihn an den Galgen zu bringen. Londons Polizeichef „Tiger“ Brown ist jedoch ein alter Kriegskamerad des Gangsters und vereitelt zunächst seine Verhaftung. Daraufhin droht ihm Jonathan Peachum, die Krönungsfeierlichkeiten der englischen Königin mit seinen organisierten Bettlern zu stören, weshalb „Tiger“ Brown schließlich doch der Verhaftung von Mackie Messer zustimmt. Nach zwei Fluchtversuchen landet Macheath schließlich unter dem Galgen, wird jedoch in letzter Sekunde von einem reitenden Boten der Königin begnadigt. Bertold Brecht parodiert in der „Dreigroschenoper“ das Bürgertum und verspottet den Kapitalismus. Bettler, Verbrecher und die Vertreter der bürgerlichen Ordnung haben im Grunde das gleiche Ziel, nämlich gute Geschäfte zu machen.

Barrie Kosky ist seit der Spielzeit 2012/2013 Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin und inszeniert hier zum Abschluss seiner zehnjährigen Intendanz „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ (Premiere 10. Juni 2022) mit Helmut Baumann, Ruth Brauer-Kvam, Katharine Mehrling u. a. Seine grandiose Neuinszenierung der „Dreigroschenoper“ um Liebe, Verrat, Geschäft und Moral für das Berliner Ensemble als Großstadtballade über Menschen, die in einer funktionalen Welt ihr Glück suchen, bringt die Handlung sehr klar verständlich und lebendig auf die Bühne, die zuweilen etwas angepassten Dialoge klingen vergleichsweise frisch und natürlich. Die handelnden Personen sprechen mit wenig Dramatik, eher in alters- und rollenentsprechender Manier und großer Natürlichkeit. Die typisch monotone Vortragsweise findet sich einzig in der „Moritat von Mackie Messer“, die von Josefin Platt mit einer Art glitzerndem Mondgesicht, das aus dem silbernen Glitzervorhang hervortritt, gesungen wird. Die Gaunertruppe, die sich sonst um den Verbrecherkönig Macheath schart, wurde weggelassen. Dafür agieren die Musiker und werden spontan zu Anspielpartnern für die Rollen von Hakenfinger-Jakob, Säge-Robert und Co. Auch das Publikum wird miteinbezogen, einzelne Zuschauer werden animiert, bestimmte Sätze nachzusprechen. Die Trennung von Bühne, Orchester und Publikum weicht an manchen Stellen auf, die Decke des Konzertflügels im Orchestergraben dient als Tischersatz. Als Schockmoment lässt Regisseur Barrie Kosky Nico Holonics (Mackie Messer) dem Dirigenten die Partitur der „Dreigroschenoper“ entreißen und auf der Bühne verbrennen, womöglich eine Anspielung auf das Aufführungsverbot durch die Nationalsozialisten. Rebecca Ringst zeichnet für das eher nüchterne Bühnenbild verantwortlich, das nach der „Moritat von Mackie Messer“ hinter dem Glitzervorhang zum Vorschein kommt, ein portalfüllendes verschiebbares Treppengerüst ohne Glanz und Glamour, das die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Akteure lenkt und in dem diese wie auf einem Klettergerüst herumklettern. Dinah Ehm hat die zeitlosen Kostüme zu Beginn der Vorstellung völlig in Schwarz, Weiß und Grau gehalten, im weiteren Verlauf des Abends sind Jenny, Polly, Lucy und die Huren auch in bunten, teilweise schrillen Kostümen zu sehen. Die siebenköpfige Band unter der Musikalischen Leitung von Adam Benzwi, der bereits bei den Produktionen „Ich wollt, ich wär’ ein Huhn“ (Komische Oper Berlin, Premiere 6. März 2020), „Märchen im Grand-Hotel“ (Komische Oper Berlin, Premiere 17. Dezember 2017), „Die Perlen der Cleopatra“ (Komische Oper Berlin, Premiere 3. Dezember 2016), „Eine Frau, die weiß, was sie will!“ (Komische Oper Berlin,. Premiere 30. Januar 2015) und „Ball im Savoy“ (Komische Oper Berlin, Premiere 9. Juni 2013) mit Barrie Kosky zusammengearbeitet hat und auch dessen „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ (Premiere 10. Juni 2022) musikalisch leiten wird, interpretiert die Musik von Kurt Weill mit den Highlights „Die Moritat von Mackie Messer“, „Die Seeräuber-Jenny“ „Der Kanonensong“ u. a. stilpräzise, wie man es in der „Dreigroschenoper“ erwartet. Die besuchte Vorstellung hat m. E. Levi Hammer dirigiert.

„Die Dreigroschenoper“, Constanze Becker (Celia Peachum), Ensemble. Foto: JR Berliner Ensemble

Das Ensemble wird von Nico Holonics (Henri in „Drei Mal Leben“ von Yasmina Reza, Berliner Ensemble, Premiere 16. Januar 2020, Regie: Andrea Breth; Cassio in „Othello“ von William Shakespeare, Berliner Ensemble, Premiere 13. April 2019, Regie: Michael Thalheimer; Martin von Essenbeck in „Die Verdammten“ nach dem gleichnamigen Film von Luchino Visconti, Berliner Ensemble, Premiere 3. November 2018, Regie: David Bösch; Simon Chachava in „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht, Berliner Ensemble, Premiere 23. September 2017, Regie: Michael Thalheimer) als Gangsterboss Macheath, genannt Mackie Messer angeführt. den er mit großer Bühnenpräsenz als gleichzeitig durchtriebenen und sympathischen Gauner gibt, der am Ende von der Königin nicht nur begnadigt, sondern sogar in den Adelsstand erhoben wird. Tilo Nest (Giles Corey in „Hexenjagd“ von Arthus Miller, Berliner Ensemble, Premiere 7. Oktober 2021, Regie: Mateja Koležnik; Azdak in „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht, Berliner Ensemble, Premiere 23. September 2017, Regie: Michael Thalheimer) fürchtet als profitgieriger Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum um den Verlust seiner einzigen Tochter Polly als unentbehrliche Unterstützung für seine Firma „Bettlers Freund“ und nutzt daher nach Pollys heimlicher Hochzeit mit Mackie Messer skrupellos seine Macht aus, um den ungeliebten Schwiegersohn loszuwerden. Constanze Becker („Die Mutter“ nach Bertolt Brecht mit Musik von Hanns Eisler, Berliner Ensemble, Premiere 18. September 2021, Regie Christina Tscharyiski; Sonja in „Drei Mal Leben“ von Yasmina Reza, Berliner Ensemble, Premiere 16. Januar 2020, Regie: Andrea Breth) muss man als seine Frau Celia Peachum gesehen haben, nicht nur, wenn sie scheinbar lediglich in einen Pelzmantel gehüllt die „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ singt. Cynthia Micas („Schwarzwasser“ von Elfriede Jelinek, Berliner Ensemble, Premiere 18. August2021, Regie: Christina Tscharyiski; Amal in „Gott ist nicht schüchtern“ von Olga Grjasnowa, Berliner Ensemble, Premiere 4. September 2020, Regie Laura Linnenbaum) kennt als Polly Peachum im weißen Brautkleid keine Angst vor noch so dunklen Geschäften. Mit dem „Lied der Seeräuber-Jenny“, in dem sie in die Rolle des Abwaschmädchens Jenny schlüpft, das von einem besseren Dasein als Seeräuberbraut träumt, weiß sie bei deren Hochzeitsfeierlichkeiten zur Erheiterung der Gäste beizutragen. Wenn sie sich mit Laura Balzer (Helga in „Katzelmacher“ von Rainer Werner Fassbinder, Berliner Ensemble, Premiere 21. Februar 2020, Regie Michael Thalheimer; Alt-Rott in „Glaube und Heimat“ von Karl Schönherr, Berliner Ensemble, Premiere 5. Dezember 2019, Regie Michael Thalheimer) als Lucy, „Tiger“ Browns Tochter und frühere, naive Geliebte von Mackie Messer, in die Haare kriegt, fliegen schon mal die Fetzen. Nachdem Polly Peachum und Lucy Brown ihren Zickenkrieg beigelegt haben, bringt Cynthia Micas einen Hauch lesbischer Verbundenheit in ihre Beziehung zu ihrer Rivalin. Kathrin Wehlisch (Beckmann und Der Andere in „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, Berliner Ensemble, Premiere 25. März 2022, Regie Michael Thalheimer; Eunice in „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams, Berliner Ensemble, Premiere 21. April 2018, Regie Michael Thalheimer) verbindet als korrupter oberster Polizeichef von London Jackie „Tiger“ Brown eine jahrelange Freundschaft mit Macheath, sie haben als Kriegskameraden zusammen in der Kolonialarmee in Indien gedient. Sie agiert in der Hosenrolle mit homophilem Touch als Mackie Messers Schutzengel und erfüllt ihm auch noch seinen Wunsch nach Spargel bei der Henkersmahlzeit, die Kathrin Wehlisch auf einem quietschende Teewagen in bester Slapstick-Manier auf die Bühne schiebt. Bettina Hoppe (Frau Kramer in „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, Berliner Ensemble, Premiere 25. März 2022, Regie Michael Thalheimer; Elisabeth Proctor in „Hexenjagd“ von Arthus Miller, Berliner Ensemble, Premiere 7. Oktober 2021, Regie: Mateja Koležnik) tritt als Spelunken-Jenny in die Fußstapfen von Lotte Lenya und verrät Mackie Messer hinterhältig, um dafür später mit Nachdruck den versprochenen Lohn von Celia Peachum zu fordern. Josefin Platt („Die Mutter“ nach Bertolt Brecht mit Musik von Hanns Eisler, Berliner Ensemble, Premiere 18. September 2021, Regie Christina Tscharyiski; Elisabeth Gärtner in „Gott“ von Ferdinand von Schirach, Berliner Ensemble, Premiere 10. September 2020, Regie Oliver Reese) steckt im Vorspiel ihr Gesicht als Mond über Soho – das Symbol der romantischen Liebe – durch den Glitzervorhang und lässt mit der womöglich bekanntesten Nummer die Verbrechen von Macheath Revue passieren. Die Musicaldarsteller*innen Julia Berger, Tobias Bieri, Katharina Beatrice Hierl, Dennis Jankowiak, Theresa Scherhag, Denis Riffel, Timo Stacey, Nico Went, Julie Wolff und Nicky Wuchinger, von denen jeweils vier bei jeder Aufführung auf der Bühne stehen, sind im Ensemble eine pure Luxusbesetzung, Nicky Wuchinger (Finalist beim Lotte Lenya Wettbewerb 2012) hat beispielsweise in „Das Phantom der Oper“ in der Neuen Flora in Hamburg den Raoul, Vicomte de Chagny gespielt und das Phantom alternierend am Metronom Theater in Oberhausen.

Am Ende der etwa dreistündigen Vorstellung bedankte sich das Publikum im nahezu vollständig ausgelasteten Ruhrfestspielhaus bei allen Akteuren mit langanhaltendem Stehapplaus für ihre überzeugenden Leistungen. Die Produktion ist sehr unterhaltsam und weiß mit einer starken Darstellerriege zu überzeugen. „Die Dreigroschenoper“ ist als Gastspiel des Berliner Ensembles noch bis Sonntag, 12. Juni 2022 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen.

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