„Momo“ als Tanzabend am Musiktheater im Revier


„Momo“ – Tanzabend nach dem Roman von Michael Ende (1973); Inszenierung, Choreografie, Bühne und Kostüme: Giuseppe Spota; Musik: Sigur Rós und ATMO (Giulio Donati und Simone Donati), Dramaturgie: Anna Chernomordik. Performer*innen der MiR Dance Company: Marie-Louise Hertog/Dimitra Sotiria Koutsopetrou, Brecht Bovijn/Simone Donati, Genevieve O’Keeffe/Konstantina Chatzistavrou, Chiara Rontini/Eunji Yang (Momo), Alessio Monforte/Pablo Navarro Muñoz (Gigi Fremdenführer), Georgios Michelakis/Simone Frederick Scacchetti (Beppo Straßenkehrer), Pablo Navarro Muñoz/Yu-Chi Chen (Kassiopeia), Simone Frederick Scacchetti/Georgios Michelakis (Grauer Herr), Dimitra Sotiria Koutsopetrou/Hitomi Kuhara (Puppe), Simone Donati/Alessio Monforte, Yu-Chi Chen/Brecht Bovijn, Konstantina Chatzistavrou/Chiara Rontini, Hitomi Kuhara/Genevieve O’Keeffe, Eunji Yang/Marie-Louise Hertog (Quintett der grauen Herren), Hamilton Blomquist *, Matthea Lára Pedersen *. * Eleven der Royal Swedish Ballet School. Premiere: 25. Januar 2020, Musiktheater im Revier, Kleines Haus, Gelsenkirchen.



„Momo“


Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen


1960 erschien „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende (* 12. November 1929 in Garmisch, † 28. August 1995 in Filderstadt) im Stuttgarter Thienemann Verlag, wofür er 1961 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. Als Folge der Eskapismus-Debatte in Deutschland siedelt Michael Ende 1971 nach Genzano di Roma um, wo er sich entschloss, „Momo“ mit dem Untertitel „Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“ fertigzustellen. Der Roman erschien 1973 im Stuttgarter Thienemann Verlag und wurde 1974 ebenfalls mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Die Oper „Momo und die Zeitdiebe“ von Mark Lothar, für die Michael Ende selbst das Libretto geschrieben hatte, wurde am 19. November 1978 am Landestheater Coburg uraufgeführt. Am 16. Dezember 2018 kam die Oper „Momo“ von Wilfried Hiller und Wolfgang Adenberg nach dem gleichnamigen Roman als Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz daselbst in einer Inszenierung von Nicole Claudia Weber zur Uraufführung, die sich von der Fassung von Mark Lothar dahingehend unterscheidet, dass Momo darin eine reine Sprechrolle ist, lediglich eine Zuhörerin. „Momo“ wurde in der Regie von Johannes Schaaf mit Radost Bokel (Momo), Mario Adorf (Nicola), Armin Mueller-Stahl (Chef der grauen Herren) u. a. verfilmt, der Film kam am 17. Juli 1986 in die deutschen Lichtspielhäuser. Das Badische Staatstheater Karlsruhe zeigte am 21. April 2012 die Uraufführung des neoklassischen, abendfüllenden Balletts „Momo“ von Tim Plegge. MiR Dance Company Direktor Giuseppe Spota präsentiert mit „Momo“ seine erste Choreografie am Musiktheater im Revier.

„Momo“, Musiktheater im Revier, v. l. n. r.: Dimitra Sotiria Koutsopetrou, Pablo Navarro Muñoz, Genevieve O’Keeffe, Matthea Lára Pedersen, Chiara Rontini, Eunji Yang. © Ida Zenna

Das Waisenmädchen Momo lebt in den Ruinen eines Amphitheaters am Rande einer Großstadt und kann besonders gut zuhören und andere dazu bringen, an ihre Träume und Talente zu glauben. Als eines Tages graue Herren auftauchen, die versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, Zeit zu sparen, vergessen die Menschen, im Hier und Jetzt zu leben und das Schöne im Leben zu genießen. Je mehr Zeit die Menschen sparen, umso weniger haben sie davon. Momo versucht, das zu ändern und den Menschen die Augen zu öffnen, dabei gerät sie ebenfalls ins Visier der grauen Herren, die ihre wahre Identität als Zeitdiebe als Agenten der Zeitsparkasse verschleiern. Mithilfe der Puppe Bibigirl möchte ein grauer Herr Momo von ihren Freunden ablenken, was ihm aber nicht gelingt. Tatsächlich verrät er ihr verunsichert das Geheimnis der Zeitsparkasse, woraufhin Momo zusammen mit ihren Freunden versucht, die Menschen vor den Zeitdieben zu warnen. Die grauen Herren können die Menschen davon überzeugen, nicht auf Momo zu hören, und so gelangt sie mit der Schildkröte Kassiopeia auf der Flucht vor den grauen Herren zum Nirgendhaus, in dem Meister Secundus Minutius Hora lebt, der Hüter der Zeit. Mit dem Wissen um das Geheimnis der Zeit kehrt Momo nach etwa einem Jahr in die Stadt zurück, doch dort hat sich unterdessen alles verändert. Die grauen Herren kontrollieren die gesamte Stadt, als die Zeit jedoch stehen bleibt, müssen selbst sie Zeit sparen. Auch Momo hat nur eine Stunde Zeit, um den Menschen die gestohlene Zeit zurückzubringen…

„Momo“, Musiktheater im Revier, Georgios Michelakis, Marie-Louise Hertog, Alessio Monforte. © Ida Zenna

Tatsächlich ist Momos Kampf gegen die grauen Herren und die Entfremdung der Menschen voneinander auch mehr als 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Märchenromans von Michael Ende immer noch aktuell: Spielkonsolen haben längst die realen Freunde ersetzt, Smartphones haben die Rolle der grauen Herren übernommen, die immer und überall dabei sind und Unmengen an Zeit verschlingen. Bei Hunderten oder gar Tausenden von Freunden in sozialen Netzwerken dürfte es auch schwierig werden, nicht nur oberflächlich miteinander zu kommunizieren. Giuseppe Spota (* 1983 in Bari, Italien) möchte das Stück als Appell nutzen. „Es ist ein Thema, was uns in der heutigen Zeit alle betrifft und an dem wir alle eigentlich so einfach etwas ändern könnten, wenn wir uns nur darauf einlassen und uns dessen bewusst werden.“ Der Tanzabend soll vor allem Erwachsene dazu einladen, sich mit ihrem Umgang mit der Zeit auseinanderzusetzen. Jeder könnte Momo sein, weshalb gleich vier Tänzer*innen (bei der Premiere Marie-Louise Hertog, Brecht Bovijn, Genevieve O’Keeffe und Chiara Rontini) die Rolle des Waisenmädchens verkörpern, die als Momo jeweils einen „Friesennerz“ tragen, oder ist es eine „Wetterwendejacke“? Kunterbunt zusammengenähte Flickenröcke wie in der Romanvorlage waren womöglich gerade aus, und pechschwarze Füße haben sie auch nicht… Während Momo in der Romanvorlage eine alte, viel zu weite Männerjacke trug, gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren kaum jemanden, der den „Friesennerz“ nicht getragen hätte, doch die Bezeichnung „Ostfriesennerz“ machte dem Boom schließlich ein Ende. Neuerdings haben viele bei der Regenschutzbekleidung das Bild der 17-jährigen Schwedin Greta Thunberg mit dem Plakat vor Augen, auf dem „Skolstrejk för Klimatet“ stand, „Schulstreik für das Klima“, und schon ist aus Momo eine Klimaschutzaktivistin geworden. Als seien die in dem Märchenroman behandelten Themen nicht schon komplex genug…

Giuseppe Spotas erste Choreografie am Musiktheater im Revier ist vollständig vom zeitgenössischen Tanz geprägt, Spitzentanz und Tutus sucht man hier vergeblich. Das Bühnenbild besteht aus unzähligen weißen Kunststoff Gartenstühlen, die aufgetürmt emporragen oder zu Bögen verbunden sind, aber sich auch zu einem Schiff arrangieren lassen, in dem die Kinder bei einem Unwetter spielen. Den Bewohner des Nirgendhauses am Ende der Niemalsgasse außerhalb der Zeit Meister Secundus Minutius Hora, dessen Uhrensammlung und das Geheimnis der Zeit bekommen die Zuschauer natürlich nicht zu sehen, auf der Bühne bleibt die – eingeblendete – Zeit bereits stehen, als Momo mit der Schildkröte Kassiopeia ein Duett tanzt, lange bevor die beiden das Nirgendhaus erreichen. Die Aufführung beginnt mit dem treibenden Stomprhythmus eines ausgelassenen Festes, dessen Tempo sich auch in der Musik der isländischen Rockband Sigur Rós und des Duos ATMO (Giulio Donati und Simone Donati) mit wenigen Ausnahmen wie den Duetten von Momo mit Gigi Fremdenführer oder der Schildkröte Kassiopeia durch den ganzen Abend zieht.

„Momo“, Musiktheater im Revier, Brecht Bovijn. Foto Bettina Stöß

Der 90-minütige Tanzabend wird von der kompletten MiR Dance Company getragen, wobei in den Szenen einzelne Performer*innen hervortreten. Marie-Louise Hertog, Brecht Bovijn, Genevieve O’Keeffe und Chiara Rontini verkörpern abwechselnd die Figur des Waisenmädchens Momo, das sich mit ihrer kindlichen Naivität den grauen Herren entgegenstellt. Momo ist zwar in Michael Endes Märchenroman eindeutig ein Mädchen, aber der weibliche oder männliche Vorname „Momo“ kommt aus dem Japanischen und kann mit „kleiner Pfirsich“ übersetzt werden, aber auch mit „die Pfirsichblüte“. Georgios Michelakis und Alessio Monforte stehen Momo als ihre beiden besten Freunde Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer zur Seite, solange sie noch nicht von den grauen Herren vereinnahmt wurden. Georgios Michelakis erzählt Momo auch das von Prinz Girolamo und Prinzessin Momo handelnde „Märchen vom Zauberspiegel“. Simone Frederick Scacchetti zieht eindrucksvoll als aus sämtlichen Kleidungsöffnungen „rauchender“ Grauer Herr alle Blicke auf sich. Mit der Puppe Bibigirl versucht er, Momo zu bestechen, mit pantomimischen Stilmitteln im Trio mit Dimitra Sotiria Koutsopetrou getanzt. Aber Momo will die Puppe nicht, denn man kann sie nicht lieb haben. Pablo Navarro Muñoz bringt Momo schließlich als entschleunigte Schildkröte Kassiopeia im Duett mit Genevieve O’Keeffe getanzt auf den richtigen Weg zum Geheimnis der Zeit. Um die Darstellung des Hüters und des Geheimnisses der Zeit auf der Bühne macht der Tanzabend wohl weißlich einen großen Bogen, sicher nicht nur, da hierfür die Zeit fehlt…

„Momo“, Musiktheater im Revier, Pablo Navarro Muñoz, Genevieve O’Keeffe. Foto Bettina Stöß

Das Premierenpublikum zeigte sich von dem zeitgenössischen Tanzabend angetan und belohnte Performer*innen und Kreative mit begeistertem Stehapplaus. Nun wird sich zeigen, ob man mit zeitgenössischem Tanz mehr junges Publikum ansprechen kann, ohne älteres, womöglich eher an klassischem Ballett interessiertes Publikum an die Häuser in der Nachbarschaft zu verlieren, die ebensolches auf ihren Spielplänen stehen haben. „Momo“ steht am Musiktheater im Revier mit insgesamt neun Vorstellungen bis 29. März 2020 auf dem Spielplan.

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