„Was sich nicht erzählen lässt“ oder doch „Völlig im Arsch“

Nicole Claudia Weber im Gespräch

Vom 13. bis 18. April 2019 zeigt der Studiengang Musical der Folkwang Universität der Künste als diesjährige Abschlussproduktion das Musical „Spring Awakening“ von Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch/Songtexte) in einer Inszenierung von Nicole Claudia Weber. Die Folkwang Universität der Künste hat „Spring Awakening“ bereits 2013 in Kooperation mit dem Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen (Premiere 15. März 2013) und der Konzertdirektion Landgraf in einer Inszenierung von Wolfgang Türks aufgeführt. Nicole Claudia Weber gibt mit „Spring Awakening“ ihr Regiedebüt an der Folkwang Universität der Künste. Nach ihrer privaten Schauspielausbildung in München und einer weiteren Musical Ausbildung am Tanz-Gesang-Studio Theater an der Wien sowie an den Performing Arts Studios Vienna (heute Performing Center Austria) und Engagements als Darstellerin u. a. am Stadttheater der Bühne Baden, im Theater i. d. Josefstadt, Stadttheater Regensburg, beim Musical-Festival in Bruck an der Leitha, den Bregenzer Festspielen, und am Stadttheater Klagenfurt widmete sie sich ab 2001 vermehrt der Theaterarbeit mit Jugendlichen u. a. am Theater St. Gallen und am Stadttheater Klagenfurt. Zusammen mit Josef Ernst Köpplinger inszenierte sie „Der Mann von La Mancha“ auf der Schlossbergbühne Kasematten in Graz (Premiere 24. Juni 2012) und am Staatstheater am Gärtnerplatz (Premiere 2. Oktober 2013). Am Stadttheater Klagenfurt inszenierte sie die österreichische Erstaufführung des Musicals „King Kong“ von Paul Graham Brown und James Edward Lyon (Premiere 19. April 2012) und am Theater Erfurt „Evita“ (Premiere 9. November 2013). Zu ihren letzten Regiearbeiten gehören u. a. „Cabaret“ am Staatstheater Darmstadt (Premiere 30. Januar 2016), „Le nozze di Figaro“ am Theater St. Gallen (Premiere 17. September 2016), „Die Fledermaus“ von Johann Strauß am Staatstheater Darmstadt (Premiere 9. Dezember 2017), das Musical „Pumuckl“ von Franz Wittenbrink und Anne X. Weber am Staatstheater am Gärtnerplatz (Uraufführung 21. April 2018) und „Momo“ von Wilfried Hiller und Wolfgang Adenberg am Staatstheater am Gärtnerplatz (Uraufführung 16. Dezember 2018), wo sie von 2012 bis 2014 die Gärtnerplatz Jugend leitete.

Sie haben nach Ihrer Ausbildung in Gesang, Tanz und Schauspiel am Tanz-Gesang-Studio Theater an der Wien sowie an den Performing Arts Studios Vienna in zahlreichen Inszenierungen von Josef Ernst Köpplinger gespielt. Was war für Sie der entscheidende Impuls für den Wechsel ins Regiefach? Kann man sagen, dass Herr Köpplinger auch nicht ganz „unschuldig“ daran ist?

Nicole Claudia Weber: Mit Josef E. Köpplinger verbindet mich eine mittlerweile über zwanzigjährige Freundschaft – ich habe viel von ihm gelernt und ihm viel zu verdanken. Mein zweites Engagement nach der Ausbildung hatte ich bereits bei ihm, und darauf folgte eine Produktion nach der anderen. Schon während meiner Ausbildung habe ich immer gerne zugesehen und mir nächtelang Gedanken darüber gemacht, wie ich Kollegen überzeugen könnte, etwas anders auszuprobieren, ohne sie zu beleidigen; Josef ließ mich bei seinen Proben immer zusehen und ertrug auch so manche, der Leidenschaft gezollten, spontanen Kommentare, auf die ich selbst vielleicht heute empfindlicher reagieren würde. Nach einigen Musicalproduktionen entdeckte ich das Improvisationstheater für mich. Es gab damals eine große Welle rund um den Theatersport.
Bald interessierten mich Langformen und Storytelling mehr als die üblichen Game Shows des Theatersports. Ich machte zahlreiche Workshops u. a. bei Keith Johnstone, Jeff Hogan, Randy Dixon und Jim Libby, trainierte mit dem „urtheater“ und den „English Lovers“, zwei Impro-Gruppen in Wien.
Dann bekam ich über eine Freundin die Gelegenheit, in einem Theater Projekt zur Resozialisierung von Jugendlichen zu arbeiten, von diesen Jugendlichen habe ich gelernt, zu unterrichten. Und so lernte ich den Autor Raoul Biltgen kennen.
Er schrieb aufgrund unserer Improvisationen das Stück „R.I.P“, und als wir im darauffolgenden Jahr zusammen bei den Bregenzer Festspielen spielten, fragte er mich, ob ich ein Stück von ihm inszenieren würde. Das war meine erste Inszenierung im Théâtre National du Luxembourg, „I will survive“ von Raoul Biltgen
(Uraufführung 3. Februar 2006).
Die Inszenierung war das Eröffnungs-Stück des Luxembourg Fringe Festivals am Théâtre National, und Josef Köpplinger, der in der Zwischenzeit Schauspiel Direktor am Theater St. Gallen geworden war, erfuhr davon und bot mir an, den Jugendtheaterclub in St. Gallen zu leiten. Zusätzlich lockte er mich mit einer Inszenierung im Jugendtheaterbereich.
Als er dann
(2007 zum Intendanten) an das Stadttheater Klagenfurt berufen wurde, übernahm ich auch dort wieder den Jugendclub und inszenierte die Märchen und Jugendstücke.
Musical und Musiktheater kamen dann erst wieder ab 2012.


Ihr letztes Engagement als Musicaldarstellerin liegt meines Wissens nun schon geraume Zeit zurück. Haben Sie mit diesem Kapitel vollständig abgeschlossen, oder käme für Sie auch eine Rückkehr auf die Bühne in Betracht?

Nicole Claudia Weber: Um Gottes Willen nein, ich bin sehr glücklich auf der anderen Seite, aber es ist ein Vorteil, dass ich weiß, wie es sich anfühlt.

Wie würden Sie allgemein Ihre Arbeit als Regisseurin beschreiben? Lassen Sie Darsteller*innen freie Hand bei der Erarbeitung einer Produktion, oder drängen Sie – gegebenenfalls auch gegen deren Willen – auf die Umsetzung Ihrer Konzepte und Ideen?

Nicole Claudia Weber: Das kommt ehrlich gesagt aufs Stück und auf die Darsteller*innen an. Ich gebe Situationen und Atmosphären ziemlich klar vor, wenn jemand mehr Führung braucht, gebe ich sie gerne, aber ich mag es, wenn Künstler*innen auf der Bühne stehen, die mitdenken und kreieren – funktionierende Roboter sind mir ein Gräuel.

Pubertierende Teenager gibt es heute wie damals. Frank Wedekind kritisiert in seinem Drama „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ die im Wilhelminischen Kaiserreich vorherrschende bürgerliche Sexualmoral. Seit der Entstehung des Dramas hat sich das äußere Umfeld grundlegend gewandelt. Nach Ihren Erfahrungen aus der theaterpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen, wie ist es heute bei Jugendlichen um die Moralvorstellungen im Allgemeinen und im Besonderen bestellt? „Völlig im Arsch“?

Nicole Claudia Weber: Ich glaube, nein eigentlich weiß ich, dass Jugendliche sehr hohe Moralvorstellungen oder besser gesagt ein hohes Moralempfinden haben. Die Moralvorstellungen, denen sie zu entsprechen müssen glauben, unterscheiden sich davon gewaltig. Heute haben schon viele einen Porno gesehen, bevor sie ihren ersten Kuss hatten. Das geht weit über ihr natürliches Schamgefühl, also damals wie heute zwischen den Welten: von Erfahrung, Empfinden und Vorstellung, nur eben etwas anders verteilt.
Der „völlig im Arsch“ Zustand ist damals wie heute nur ein Augenblick, eine Definition einer Situation. Sicher wurde das damals nicht so ausgedrückt, aber angefühlt hat es sich sicher ähnlich.

Es ist immer die Aufgabe oder das Schicksal der jungen Generation, die Gesellschaft, in der sie lebt, zu erkennen und zu verändern, und getan hat das bis heute jede Generation.
Ich halte viel von dieser jungen Generation, ja – und für manches muss man eben erst Worte finden.

Der Song „Völlig im Arsch“ hat dem Broadway-Castalbum neben zwei weiteren Songs den Vermerk „Parental Advisory – Explicit Content“ eingebracht. Sind die Liedtexte nicht geradezu harmlos im Vergleich zu Handy-Videos von Prügeleien, die Jugendliche selbst ins Netz stellen?

Nicole Claudia Weber: Ja, ich finde die Texte harmlos – zwar im Genre Musical selten so zu finden – sicher aber im Jugendtheaterbereich, zumindest in Deutschland.

Wolfgang Türks war bereits als Darsteller in der Rolle des Moritz Stiefel in die Deutschsprachige Erstaufführung von „Frühlings Erwachen – Das Rock-Musical“ am Ronacher (Premiere 21. März 2009) involviert. Wie kommen Sie zur Folkwang Universität der Künste und zu „Spring Awakening“?

Nicole Claudia Weber: Gil Mehmert fragte mich, ob ich Lust hätte, mit den Studenten ein Stück zu inszenieren. Ich liebe es, mit Studenten zu arbeiten, und habe sofort Ja gesagt. Dann haben wir uns gemeinsam mit den Studenten und den Lehrkräften an die Auswahl gemacht.

Hatten Sie schon früher Berührung mit diesem Stück? Haben Sie die Inszenierung von Michael Mayer gesehen? Lassen Sie sich von „Original-Inszenierungen“ inspirieren? Ich habe beispielsweise noch keine „Spring Awakening“-Inszenierung gesehen, bei der keine Handmikrofone verwendet wurden.

Nicole Claudia Weber: Nein, ich hatte wohl von dem Stück gehört, es aber noch nie gesehen. Ja, ich lasse mich von Originalen inspirieren, vor allem will ich sie begreifen. Bei uns wird es keine Handmikrofone geben. Natürlich müssen wir eine Form finden, die die „freie Rede“, die durch die Songs repräsentiert wird, lesbar macht.

„Spring Awakening“ muss nicht zwingend als Klon der „Original-Inszenierung“ aufgeführt werden, und obwohl Steven Sater beispielsweise die Gestalt des „Vermummten Herrn“, dem Melchior in Frank Wedekinds Vorlage am Ende auf dem Friedhof begegnet, ganz bewusst gestrichen hat, tauchte sie in einer Inszenierung des Musicals doch wieder auf. Wie gehen Sie als Regisseurin mit solchen Vorgaben oder eben nicht vorhandenen Vorgaben um? Fühlen Sie sich durch Vorgaben in Ihrer Kreativität eingeschränkt?

Nicole Claudia Weber: Ich habe viele Uraufführungen und Stückentwicklungen gemacht, insofern weiß ich, dass es immer einen Grund für Entscheidungen in Vorgaben gibt, das Spannende ist herauszufinden, warum sie gemacht wurden.
Es gibt immer mehrere Betrachtungsweisen und Zugänge, man muss auch nicht zwingend etwas anderes machen, aber wenn ich eine Idee habe, dann versuche ich stets im Auge zu behalten, was das Stück erzählen will.

Studierende sind keine pubertierenden Teenager mehr, aber ihnen fehlt noch die Erfahrung, die man sich erst im Laufe seiner Karriere aneignet. Das dürfte Ihnen als Dozentin mit dem Background der theaterpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen bei der Regiearbeit doch sehr entgegenkommen, oder?

Nicole Claudia Weber: Eigentlich ist ein gewisses Einfühlungsvermögen für jeden Regisseur ein Muss. Und da ist es völlig egal, ob unerfahren oder erfahren. Ich habe meine Arbeit eigentlich nie als pädagogisch betrachtet, ich sehe sie als eine Begegnung mit Künstler*innen auf Augenhöhe und ich lerne dabei immer viel.
Das Tolle bei jungen Künstlern ist die Wachheit und hohe Energie, natürlich haben sie weniger Erfahrung, dafür aber weniger Vorurteile. Sie geben mir immer wieder frische Betrachtungsweisen, auf die ich vielleicht selber nie gekommen wäre. Es ist immer ein Austausch.

Gil Mehmert hat die Suche nach einem passendem Projekt für einen Abschlussjahrgang in einem früheren Interview als „die Quadratur des Kreises“ bezeichnet. Peter Lund schreibt den Absolventen des Studiengangs Musical/Show an der Universität der Künste Berlin häufig ein Musical als Abschlussprojekt auf den Leib, u. a. „Welcome to Hell“ (Musik Peter Michael von der Nahmer, Uraufführung 15. März 2018), „Kopfkino“ (Musik Thomas Zaufke, Uraufführung 13. April 2017), „GRIMM! Die wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf“ (Musik Thomas Zaufke, Premiere 19. März 15), „Schwestern im Geiste“ (Musik Thomas Zaufke, Uraufführung 13. März 2014), „Stimmen im Kopf“ (Musik Wolfgang Böhmer, Uraufführung 21. März 2013). Standen Sie bei der theaterpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen nicht häufig vor dem gleichen Problem, eben ein geeignetes Projekt für Jugendliche zu finden? Interessieren Sie sich selbst für alters- und typgerechte Stückentwicklung?

Nicole Claudia Weber: Alle meine Jugendclubprojekte habe ich aus Improvisationen in enger Zusammenarbeit mit einem/einer Autor*in und den Teilnehmer*innen entwickelt, oft aus dem Grund, weil sie Laien waren und ich Ihre Stärken herausheben wollte, und weil es eben kaum Stücke mit beispielsweise 15 Damen und 1 Herren gibt.
Aber gerade in einer Berufsausbildung, speziell im Bereich Musical, ist es auch unumgänglich, sich in einer vorgegebenen und bereits interpretierten Form zurechtzufinden und diese neu zu interpretieren.

Was wird „Spring Awakening“ an der Folkwang Universität der Künste auszeichnen, warum sollte man die Produktion auf keinen Fall verpassen?

Nicole Claudia Weber: Wegen der Studenten! Sie sind der Hammer!
Außerdem ein richtig cooles Konzept – unsere Bühne ist eine Halfpipe, also eine richtig gute Spielwiese.
Ich habe mit Patti Martin (Musikalische Leitung), Natalie Holtom (Choreographie) und Britta Tönne (Ausstattung) drei tolle Frauen an meiner Seite.
Es ist ein Musical mit Humor, Tiefe, Sinnlichkeit, Kraft und einer dynamischen Konsequenz, der man sich nicht entziehen kann.
Und das Publikum bekommt dieses Stück von mitreißenden jungen Künstler*innen mit einer geballten Ladung Lust, Talent und Können geboten!


Viel Erfolg für die Probenarbeit und toi, toi, toi für die Premiere am 13. April 2019.

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