„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“


„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – Musik: Kurt Weill; Libretto: Bertolt Brecht; Regie: Jan Peter; Bühne: Kathrin-Susann Brose; Kostüme: Anna Maria Münzner; Licht: Thomas Ratzinger; Ton: Jan Wittkowski; Video/Grafik: Susanne Schiebler; Dramaturgie: Olaf Roth; Musikalische Leitung: Thomas Rimes. Darsteller: Almuth Herbst (Leokadja Begbick), Petra Schmidt (Fatty, der „Prokurist“), Urban Malmberg (Dreieinigkeitsmoses), Anke Sieloff (Jenny Hill), Martin Homrich (Paul Ackermann), Tobias Glagau/Khanyiso Gwenxana (Jakob Schmidt), Petro Ostapenko (Sparbüchsenheinrich), Joachim Gabriel Maaß (Joe, genannt Alaskawolfjoe), Jiyuan Qiu (Tobby Higgins), Opernchor, Statisterie, Neue Philharmonie Westfalen. Uraufführung: 9. März 1930, Neues Theater, Leipzig. Premiere: 26. Januar 2019, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“


„Eine Heimathorrorstory aus dem Pott“ am Musiktheater im Revier


„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Almuth Herbst (Leokadja Begbick) und Petra Schmidt (Fatty, der „Prokurist“). © Karl und Monika Forster

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ist nach der „Dreigroschenoper“ (Uraufführung 31. August 1928, Theater am Schiffbauerdamm, Berlin) das bekannteste Werk von Kurt Weill (* 2. März 1900 in Dessau, † 3. April 1950 in New York City) und Berthold Brecht (* 10. Februar 1898 in Augsburg, † 14. August 1956 in Ost-Berlin). Die Oper ist aus dem „Mahagonny Songspiel“ entstanden, welches am 17. Juli 1927 beim Kammermusikfestival in Baden-Baden uraufgeführt wurde. Kurt Weill stellte die Partitur zu „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ im April 1929 fertig. Die Oper konnte nur gegen große Widerstände überhaupt zur Uraufführung gebracht werden. Nachdem die Berliner Krolloper eine Premiere des Werkes abgelehnt hatte, wurde „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ am 9. März 1930 im Neuen Theater in Leipzig uraufgeführt, Walter Brügmann führte Regie. Die Premiere geriet zu einer politischen Demonstration, bei der Anhänger der NSDAP eine geplante Störaktion durchführten und einen Teil des Publikums zu Protesten gegen das Werk animierten, weswegen man die Vorstellung nur mit Mühe zu Ende spielen konnte. Kein Wunder, ist dieses Werk doch bis heute eine bitterböse Abrechnung mit einer nach wie vor gelebten Huldigung an den Gott des entfesselten Kapitals… Doch schon kurze Zeit später gab es Vorstellungen in Kassel, Prag, Frankfurt und schließlich im Dezember 1931 im Berliner Theater am Kurfürstendamm in der Inszenierung von Caspar Neher. Nach 1932 wurde „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ zu Lebzeiten Kurt Weills nicht mehr aufgeführt, die erste vollständige Nachkriegsproduktion fand erst 1957 in Darmstadt statt. „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ist nach Kurt Weill die Geschichte von Sodom und Gomorra. Ähnlich wie die biblische Vorlage soll Mahagonny, eine fiktive Stadt in Nordamerika, mit allen „Gerechten und Ungerechten“ untergehen, wie die Witwe Leokadja Begbick äußert. Tatsächlich wird das Schicksal der Stadt nicht, wie im Alten Testament, durch eine äußere Katastrophe besiegelt, sondern durch die moralische Katastrophe: „Wir brauchen keinen Hurrikan, wir brauchen keinen Taifun, denn was er an Schrecken tuen kann, das können wir selber tun.“

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Martin Homrich (Paul Ackermann), Urban Malmberg (Dreieinigkeitsmoses) und Petra Schmidt (Fatty, der „Prokurist“). © Karl und Monika Forster

Zum Inhalt der Gelsenkirchener Produktion (mit Anmerkungen)

Die Witwe Leokadja Begbick und ihre beiden Begleiter Fatty, der „Prokurist“ und Dreieinigkeitsmoses sind als gesuchte Kriegsverbrecher auf der Flucht vor den Konstablern und gründen 1945 an einem Ort im Ruhrgebiet (in der Video-Einspielung ist eine Ortstafel von Gelsenkirchen-Bismarck zu sehen) die Stadt Mahagonny, die vor allem Männer mit Geld anziehen soll. (Kurt Weill selbst schrieb in seinem „Vorwort zum Regiebuch“, dass der Name Mahagonny aus klanglichen Gründen gewählt worden sei und die geographische Lage der Stadt keine Rolle spiele. Selbst die Bedeutung des Stadtnamens hat keine ein für allemal festgelegte Bedeutung, wie sich aus den Interpretationen als „Netzestadt“, „Goldstadt“ und „Paradiesstadt“ schließen lässt.) Hier sollen Ruhe, Ordnung und Eintracht herrschen und die Woche aus 7 Tagen ohne Arbeit bestehen. (Wie ohne Arbeit aus der im Zweiten Weltkrieg weitreichend zerstörten Stadt Gelsenkirchen überhaupt irgendetwas entstehen soll, bleibt völlig im Dunkeln.) Die Nachricht verbreitet sich schnell und zieht die Prostituierte Jenny Hill und weitere Mädchen aus Oklahoma auf der Suche nach Whisky, Dollars und hübschen Jungs an. Auch die Holzfäller Paul Ackermann (inkonsistenterweise im Verlauf der Handlung auch Jim genannt), Jakob Schmidt, Sparbüchsenheinrich und Alaskawolfjo aus Alaska kommen nach Mahagonny, während andere unzufriedene Reisende die Stadt schon wieder verlassen. Paul beginnt mit Jenny ein Verhältnis, doch schon bald wird es ihm zu langweilig in Mahagonny und er stört sich an den Verboten, die überall gelten. Als die Stadt von einem Taifun bedroht wird, verkündet Paul ein neues Gesetz: „Du darfst es!“ (Inspiration für den tropischen Wirbelsturm dürfte der Hurrikan gewesen sein, der am 20. September 1926 mit katastrophalen Folgen über Florida hinwegfegte.) Ein Hurrikan rast mit 120 mph auf Atsena zu und zerstört den Ort vollständig, aber wie durch ein Wunder bleibt Mahagonny verschont. (In der Video-Einspielung ist ein B-29 Bombergeschwader im Anflug zu sehen, kurze Zeit später ist die Atombombenexplosion über Japan im August 1945 zu sehen, wobei das Video rückwärts abgespielt wird.) Von nun an ist der Leitspruch: „Erstens, vergesst nicht, kommt das Fressen, zweitens kommt der Liebesakt, drittens das Boxen nicht vergessen, viertens Saufen, laut Kontrakt.“ Jakob Schmidt frisst sich zu Tode, Alaskawolfjo wird bei einem offensichtlich unfairen Boxkampf von Dreieinigkeitsmoses mit einer Kettensäge ins Jenseits befördert. Paul gibt den Männern von Mahagonny einen Whisky aus, begeht dabei aber den verhängnisvollen Fehler, die Zeche nicht bezahlen zu können. Da niemand bereit ist, seine Schulden zu übernehmen, wird Paul verhaftet und ihm unter dem Vorsitz von Leokadja Begbick, Fatty und Dreieinigkeitsmoses der Prozess gemacht, bei dem er wegen Zechprellerei zum Tode verurteilt wird. Paul verabschiedet sich von Jenny, die sich als Braut gekleidet zu seiner Witwe erklärt, und empfiehlt sie Sparbüchsenheinrich, seinem letzten verbliebenen Gefährten aus Alaska. Ein großer Demonstrationsmarsch beschwört das Ende von Mahagonny herauf. Die Vorstellung endet mit der Projektion des Brecht-Zitats „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an, und der Arme sagte bleich: ‚Wär ich nicht arm wärst du nicht reich.‘“ aus seinem Gedicht „Alfabet“ von 1934.

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Petra Schmidt (Fatty, der „Prokurist“), Opernchor. © Karl und Monika Forster

2009 inszenierte Generalintendant Michael Schulz selbst „Die Dreigroschenoper“ von Kurt Weill/Berthold Brecht mit Lars-Oliver Rühl (Mackie Messer), Rüdiger Frank (Jonathan Jeremiah Peachum), William Saetre (Celia Peachum), Judith Jakob (Polly Peachum), Christa Platzer (Spelunken-Jenny) u. a. am Musiktheater im Revier, nun hat er den Dokumentarfilmregisseur Jan Peter (* 1968 in Merseburg) nach seinem Videodesign für das Schalke-OraTORium „Kennst du den Mythos…?“ zum 111-jährigen Bestehen des Fußballvereins FC Schalke 04 als Regisseur engagiert, der mit „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ sein Opernregiedebüt gibt und die Handlung in das Ruhrgebiet der Nachkriegsjahre verlegt. Nirgendwo sonst sei in dieser Zeit mehr Aufbruch gewesen. Neben der Kapitalismuskritik und der Versinnbildlichung der bedrohlich aktuellen Verführbarkeit der Gesellschaft möchte Jan Peter das Stück auch als Parabel des ewigen Kreislaufs von Aufbau und Zerstörung und seine Inszenierung einfach als große Show verstanden wissen. In einigen Szenen ist die Nähe zum Horrorfilm tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Bühnenbildnerin Kathrin-Susann Brose hat ein begehbares Gerüst mit einer weißen und einer schwarzen Seite auf die Drehbühne gestellt, das allerdings keine Kulissen-Illusion im eigentlichen Sinn erzeugt. Hinter der weißen Fassade („Uns’re weißen Westen verdanken wir Persil“) kommt noch das Hakenkreuz zum Vorschein. Auf der linken Bühnenseite steht der Ofen, in dem alles verbrannt wird, was nicht mehr zu gebrauchen ist: die Koffer der nach Mahagonny gereisten Mädchen, Leichenteile… Das Kostümdesign von Anna Maria Münzer soll die Atmosphäre der 1950er-Jahre widerspiegeln, wobei einzelne Darsteller durchaus aus dem Rahmen fallen: Urban Malmberg trägt als Dreieinigkeitsmoses zu Beginn als schmerzliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine schwarze Schirmmütze, die er im Verlauf der Handlung ablegt. Dazu weiße Socken und Adiletten, die erst 1963 von Adi Dassler als Badelatschen für Sportler entworfen wurden und ursprünglich als Mode-Fauxpas angesehen wurden. Todschick. Susanne Schiebler, die bereits bei etlichen Filmprojekten von Jan Peter als Editorin und Motion Graphics Designerin mitgewirkt hat, zeichnet für das Video- und Grafikdesign verantwortlich. Aufnahmen der Übertageanlage von Zechen in Bochum, Gelsenkirchen-Buer, Ahlen, Duisburg-Hamborn u. a. verorten die Handlung im Ruhrgebiet, das Video der Atombombenexplosion führt überdeutlich vor Augen, welche Katastrophen der Mensch herbeizuführen imstande ist. Das „Spiel von Gott in Mahagonny“ nach Pauls Hinweis auf die Existenz Gottes wird durch Video-Einblendungen verschiedener Götter aus den Weltreligionen Christentum, Hinduismus, Buddhismus sowie der ägyptischen, römischen und japanischen Mythologie u. a. versinnbildlicht. Die Neue Philharmonie Westfalen wird unter der Musikalischen Leitung des 2. Kapellmeisters Thomas Rimes versiert durch Kurt Weills facettenreiche, für Jazzband und großes Orchester geschriebene Partitur geführt, wobei die „Oper“ in dieser Produktion sehr betont wird, auch von den Sänger*innen.

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Tobias Glagau (Jakob Schmidt), Petro Ostapenko (Sparbüchsenheinrich), Martin Homrich (Paul Ackermann) und Joachim Gabriel Maaß (Alaskawolfjo). © Karl und Monika Forster

Die Solisten können sich hören lassen, und damit man sie auch in den Sprechpassagen über dem Orchester verstehen kann, werden diese von der Tontechnik verstärkt. Die Liedtexte sind als Übertitel eingeblendet. Das Mahagonny-Gründertriumvirat wird von Almuth Herbst (Leokadja Begbick), Petra Schmidt (Fatty, der „Prokurist“) und Urban Malmberg (Dreieinigkeitsmoses) verkörpert. Generalintendant Michael Schulz bezeichnete die Besetzung der für einen Tenor vorgesehenen Rolle Fatty mit Petra Schmidt als seine „genialste Besetzungsidee“. Wer hätte in Anbetracht der Besetzung der 2009 von ihm inszenierten „Dreigroschenoper“ auch etwas anderes erwartet!? Anke Sieloff meistert stimmlich der Rolle der Jenny Hill, die sie im biederen Anstrich der 1950er-Jahre verkörpert, das Hurenhafte versteckt sich dezent in den Falten ihres biederen Rockes. Die vier durch sieben Jahre harter Arbeit in Alaska zu Geld gekommenen Freunde werden von Martin Homrich (Paul Ackermann), Tobias Glagau (Jakob Schmidt), Petro Ostapenko (Sparbüchsenheinrich) und Joachim Gabriel Maaß (Alaskawolfjo) dargestellt. Martin Homrich bietet ein beeindruckendes Rollenporträt des Holzfällers Paul Ackermann, der angesichts zahlreicher Verbote in Mahagonny rebelliert und dem die von ihm ausgerufenen neuen Gesetze letztendlich zum Verhängnis werden. Gesanglich besonders überzeugend seine Arie im dritten Akt. Gesanglich ließ auch der seit Beginn der Spielzeit 2018/2019 im Ensemble am Musiktheater im Revier engagierte Petro Ostapenko (Sparbüchsenheinrich) aufhorchen. Mit einem Anflug von Spielwitz verkörpert der zierliche junge Tenor Tobias Glagau Jakob Schmidt, der so viele auf ihn „herabregnende“ Würstchen in sich hineinstopft, bis er daran zugrunde geht. Joachim Gabriel Maaß tänzelt als Alaskawolfjo womöglich als „Mittelgewicht“ über die Bühne, wobei er beim Boxen gegen die Kettensäge von Dreieinigkeitsmoses selbst als „Schwergewicht“ keine Chance hätte.

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Ensemble. © Karl und Monika Forster

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ist keine traditionelle klassische Oper und Kurt Weills Partitur relativ komplex, was womöglich dazu geführt haben mag, dass der ein oder andere Platz im Auditorium nach der Pause unbesetzt blieb. Nach etwa zweidreiviertelstündiger Vorstellung gab es langanhaltenden Applaus des Premierenpublikums, für das Regieteam aber auch vereinzelt Buhrufe. Folgevorstellungen stehen bis 4. Mai 2019 auf dem Spielplan.

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