Ute Lemper: „Stadtkind“

Konzert mit der Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg in der Philharmonie Essen

Musicaldarstellerin, Chansonsängerin und Schauspielerin Ute Lemper wurde 1963 in Münster geboren und studierte Tanz am Institut für Bühnentanz in Köln und Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Peter Weck engagierte sie 1983 für die erste deutschsprachige Produktion von „Cats“ im Theater an der Wien als Bombalurina, 1984 schwebte sie als Peter Pan in der gleichnamigen Produktion (Premiere 21. Dezember 1984, Regie Anna Vaughan) durch das Berliner Theater des Westens, und in Jérôme Savarys „Cabaret“ spielte sie die Rolle der Sally Bowles im Théâtre du 8e in Lyon (1986) sowie im Théâtre Mogador in Paris (1987), für die sie den Molière Award als Beste Nachwuchsdarstellerin erhielt. 1992 spielte sie die Lola in Peter Zadeks und Jérôme Savarys Revue „Der blaue Engel“ (Premiere 28. Mai 1992) am Berliner Theater des Westens, womöglich das einschneidenste Engagement in ihrer Karriere, konzentrierten sich die Kritiken doch in der Hauptsache auf ihre Person. 1997 spielte sie noch die Rolle der Velma Kelly in „Chicago“ am Adelphi Theatre (Premiere 18. November 1997, Regie Walter Bobbie) am Londoner West End, für die sie 1998 mit einem Lawrence Olivier Award ausgezeichnet wurde, und ab 8. September 1998 übernahm sie am Broadway am Richard Rodgers Theatre die Rolle der Velma Kelly von Bebe Neuwirth. Im gleichen Jahr siedelte sie in die Vereinigten Staaten über. 2015 bzw. 2016 hat Ute Lemper in Interviews zum Ausdruck gebracht, dass das Musical-Business nicht mehr ihre Welt sei und das Chanson das Genre, das sie am meisten liebe. Ungeachtet dessen wurde sie 2017 von der Deutschen Musical Akademy mit dem Deutschen Musical Theater Preis geehrt.

Ute Lemper. Foto Brigitte Dummer

Bereits 1987 hat sie die Werke von Kurt Weill aus den 1920er-Jahren aufgenommen („Ute Lemper singt Kurt Weill“), die 1988 auch bei Decca erschienen („Ute Lemper sings Kurt Weill“), in Amerika zu Verkaufsschlagern wurden und ihr dort Türen öffneten, die in Deutschland verschlossen blieben. So entwickelte sich die Interpretation der Berliner Kabarettlieder zu einem festen Standbein in Ute Lempers Biografie, nicht nur bei ihren einzigartigen Plattenaufnahmen, sondern auch auf der Bühne bei ihren weltweiten Konzerten, bei denen sie mit facettenreichen Programmen sowie Eigenkompositionen das Publikum in ihren Bann zu ziehen weiß.

Mit „Stadtkind“ präsentiert Ute Lemper eine Reise zwischen ihren drei Herzensorten Berlin, Paris und New York, die sie geprägt, bereichert und beflügelt haben. Auf ihrer Reise durch die Zeiten und Genres liegt ein Schwerpunkt natürlich auf der Musik von Kurt Weill und den Chansons von Jacques Brel, Édith Piaf oder Léo Ferré. Mehr als 30 Jahre nach ihren ersten Aufnahmen der Werke von Kurt Weill ist die Auswahl gar so groß, dass in den Veranstaltungstexten angekündigte Songs wie „Lili Marleen“ gar nicht mehr in dem zweidrei­viertel­stündigen Programm (einschließlich 25 Minuten Pause) unterzubringen waren. Begleitet wird sie von der in 30-köpfiger Besetzung spielenden, 1990 von Absolventen des St. Petersburger „Rimski-Korsakow“ Staatskonservatoriums gegründeten Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg unter der Leitung ihres Chefdirigenten Juri Gilbo (* 1968 in Leningrad). Dass die Chansonnière mit ihrem Programm „Stadtkind“ erst seit kurzem zusammen mit dem Orchester auftritt, wird wahrscheinlich niemandem im Auditorium verborgen geblieben sein, zu offensichtlich waren Ute Lempers Aufforderungen an Juri Gilbo, das ein oder andere Mal ein wenig mehr Tempo anzuschlagen.

Ute Lemper präsentiert ein abwechslungsreiches Programm, wechselt musikalisch zwischen Kontinenten, Sprachen und Musikgenres hin und her. So reihen sich ernste Lieder und heitere Gesangsnummern aneinander. Mal sind es die leisen Töne, mal schwungvolle Musicalmelodien oder auch jazzige Elemente, die Ute Lemper aufeinander folgend zu Gehör bringt. Verbindend zwischen den Gesangsnummern weiß sie mit Anekdoten aus ihrer Vergangenheit zu unterhalten. Sie erzählt aber auch aus dem Leben von Künstlern, die ihren Weg gekreuzt haben. Das Programm ist wie ein Kaleidoskop aus mehr als 30 Jahren Künstlerleben. Selbst der im Programmheft abgedruckte Ablauf räumt mögliche Variationen für den jeweiligen Abend ein. Ein wenig mag die Programmgestaltung an das berühmte Pralinenschachtel-Zitat aus „Forrest Gump“ erinnern: „Mein weiß nie, was man kriegt.“

Ute Lemper spricht über Eckpunkte ihrer Karriere, über die besonderen Menschen, die sie verehrt und bewundert hat, wie sie von ihnen lernen konnte und über die Erkenntnis, dass auch sie Menschen mit Selbstzweifeln und Sehnsüchten sind. Ein dreistündiges Telefonat mit Marlene Dietrich in Paris, die sich selbst am Anfang ihrer Karriere wie folgt charakterisierte: „Ich war ein Baumstamm mit Mopp auf dem Kopp.“ Sie spannt den Bogen von der Männer verschlingenden Édith Piaf in Paris, die ihren Liebhabern stets neue Chansons abtrotzte, über Jahrzehnte und Länder hinweg, um schließlich mit „Padam … padam“ zu der oft rastlosen Édith Piaf nach Paris zurückzukehren. Ute Lemper ist ein launige Erzählerin, der es mühelos gelingt, das Publikum mit auf die Reise zu nehmen. Trotz allem, für ein musikalisches Vermächtnis scheint es noch zu früh. Die Sängerin wirkt frisch und agil und bestreitet den Abend mit großer Bühnenpräsenz, wirkt kraftvoll und zieht an mancher Stelle die Zuhörer mit ihrer unverwechselbaren Stimme in den Bann.

Bei der Songauswahl aus den Werken von Kurt Weill durfte natürlich „Die Moritat von Mackie Messer“ nicht fehlen, mit dem für Bertolt Brecht typischen rollenden „R“, der es als Unterschichtphänomen verstanden haben soll. Mit „Cabaret“ aus dem gleichnamigen Musical steuerte sie unweigerlich auf einen Glanzpunkt ihrer noch jungen Musical-Karriere zu, eine Darbietung, die vom Publikum heftig akklamiert wurde. Bevor sie ausführlich über ihre Beziehung zu Marlene Dietrich berichtet, als Reaktion auf eine Postkarte, die sie ihr 1989 in Paris geschrieben hat, und ihre eigenen Erfahrungen mit der Rolle der Lola, die Marlene Dietrich 1929/1930 im Spielfilm „Der blaue Engel“ unter der Regie von Josef von Sternberg für die UFA gespielt hatte und deren „Wiedergeburt“ in der gleichnamigen Revue von Peter Zadek und Jérôme Savary am Berliner Theater des Westens ihr selbst vernichtende Kritiken bescherte, bringt sie mit Hanns Eislers und Kurt Tucholskys „Der Graben“ einen wehmütigen Ruf aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und ein verzweifeltes Plädoyer für den Frieden zu Gehör. Mit einem Medley aus Songs von George Gershwin entließ Ute Lemper das Publikum nach dem anderthalbstündigen ersten Teil in die Pause.
    Setliste des ersten Teils
  • Ennio Morricone: „Cinema Paradiso“ (instrumental)
  • Édith Piaf: „Milord“ (1959) von Marguerite Monnot (Musik) und Georges Moustaki (Text)
  • Charles Trenet, Léo Chauliac: „Que reste-t-il de nos amours?“
  • Kurt Weill (Musik), Bert Brecht (Text): „Die Moritat von Mackie Messer“ aus „Die Dreigroschenoper“
  • Kurt Weill (Musik), Bert Brecht (Text): „Der Song von Mandalay“ aus „Happy End“/„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“
  • John Kander (Musik), Fred Ebb (Text): „Cabaret“ aus „Cabaret“
  • „Stiller Abend“ (Traditional)
  • Kurt Tucholsky (Text), Hanns Eisler (Musik): „Der Graben“
  • Marlene Dietrich: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ von Friedrich Hollaender aus dem Spielfilm „Der blaue Engel“ (1930)
  • Léo Ferré: „Avec le temps“
  • George Gershwin Medley
Im zweiten Teil brachte Ute Lemper mit „Yo Soy Maria“ und „Preludio para año 3001“ eine Hommage an Astor Piazzolla zu Gehör, dem fabelhaften argentinischen Komponisten von Tango Nuevo. „Yo Soy Maria“ sang sie im spanischen Original, „Preludio para año 3001“ in einer Bearbeitung in Deutsch und Englisch. 2011 und 2012 war sie mit dem Konzertprogramm „Ultimo Tango“ mit dem Astor Piazzolla Sextett aus Buenos Aires auf Welttournee. Dem herausragenden belgischen Chansonnier Jacques Brel waren mit „Je ne sais pas“, „Amsterdam“ und „Ne me quitte pas“ drei Songs gewidmet, bevor Ute Lemper wieder zur französischen Sängerin Édith Piaf und ihren kleinen Affären zurückkehrte, mit der sie den Abend auch begonnen hatte.
    Setliste des zweiten Teils
  • Richard Galliano: „Valse à Margaux“ (instrumental)
  • Astor Piazzolla (Musik), Horacio Ferrer (Text): „Yo Soy Maria“
  • Astor Piazzolla (Musik), Horacio Ferrer (Text): „Preludio para año 3001“
  • Jacques Brel: „Je ne sais pas“
  • Jacques Brel: „Amsterdam“
  • Jacques Brel: „Ne me quitte pas“
  • Édith Piaf: „Padam … padam“ (1951) von Norbert Glanzberg (Musik) und Henri Contet (Text)
Das Publikum in der gut besuchten, aber bei weitem nicht ausverkauften Philharmonie Essen verabschiedete die Chansonnière, das Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg und deren Chefdirigenten Juri Gilbo mit überschwänglichem Applaus, bei der Zugabe „All that Jazz“ aus dem Musical „Chicago“ zeigte sich wie schon bei „Cabaret“, dass Ute Lempers Abneigung gegen das Musical-Business im krassen Gegensatz zu ihrer Bühnenpräsenz in Musical-Rollen wie Sally Bowles oder Velma Kelly steht.
    Zugaben
  • John Kander (Musik), Fred Ebb (Text): „All that Jazz“ aus „Chicago“
  • Astor Piazzolla (Musik), Angela Deria Tarenzi (Text): „Che Tango Che“
Ute Lemper wird weiterhin an folgenden Terminen mit ihrem Programm „Stadtkind“ auftreten:
23. Januar 2018: Elbphilharmonie Hamburg mit der Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg
11. März 2018: Anhaltisches Theater Dessau mit dem MDR Symphonieorchester unter der Leitung von James Holmes als Teil des Kurt Weill Festivals
27. Juli 2018: Raesfeld
25. August 2018: Münster

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