Die Schwarzen Brüder

„Die Schwarzen Brüder“ nach dem Roman von Lisa Tetzner und Kurt Held; Musik: Georgij Modestov; Libretto, Inszenierung: Mirco Vogelsang; Choreografie: Sabine Lindlar; Bühne: Harry Behlau; Kostüme: Kai Rudat; Lichtdesign: Gerrit Jurda; Sounddesign: Serge Gräfe; Musikalische Leitung: Andreas Pabst. Darsteller: Jasper Klein/Moritz Gehrckens/Niolai Schein (Giorgio), Janko Danailow (Alfredo, Giorgios bester Freund), Peter Zeug (Antonio Luini, der „Mann mit der Narbe“/Dr. Casella, ein Arzt aus Lugano), Thorsten Tinney (Battista Rossi, Giorgios Meister), Maite Kelly (Frau Rossi), Andreas Röder (Anselmo, ihr Sohn), Sandra Pangl (Angeletta, Rossis kranke Tochter), Thomas Christ (Paolo, der Koch), Andreas Langsch (Klavierlehrer), Anastasia Troska (Engel), Christiane Reichert (Anna), Cornelia „Conny“ Braun (Carla, Marktfrau), Tina Podstawa (Elisa, Marktfrau), Fabienne Hesse (Jungfer), Frank Watzke (Gino), Siegmar Tonk (Giuseppe, die „Zitrone“, Kaminfeger), Tobias Brönner (Giovanni, der „Blatternarbige“, Anführer der Wölfe), Youngung Sebastian Kim (die Katze, der tapferste der Wölfe), Christopher Busse, Philipp Dürnberger, Claudia Funke, Robin Koger, Tim Müller, Julia Waldmayer, Daniel Wernecke. Uraufführung: 31. März 2007, Stahlgießerei Schaffhausen. Premiere: 7. August 2014, Freilichtbühne am Schloss Bückeburg.



„Die Schwarzen Brüder“


Deutschlandpremiere auf Schloss Bückeburg, Niedersachsen


Der 1941 erschienene Jugendroman „Die schwarzen Brüder“ von Lisa Tetzner und Kurt Held („Die rote Zora“) erzählt die auf Tatsachen basierende Geschichte des kleinen Giorgio und seinen Freunden, die tagtäglich als Spazzacamini (Kaminfegerjungen) ihr Leben riskieren müssen. Als Kinder armer Tessiner Bauern werden die Jungen an Mailänder Kaminfegermeister verkauft, die sie durch die engen Schlote schicken, oftmals während das Feuer unter ihnen noch brennt. Aber Giorgio gibt nicht auf: Mit seinen Freunden gründet er den Bund der „Schwarzen Brüder“. Sie halten zusammen, wehren sich gegen das Unrecht und verstricken sich in Kämpfe mit den Mailänder Straßenjungen. Der Roman wurde seit seinem Erscheinen in unzählige Sprachen übersetzt und gilt als eines der meistgelesenen Jugendbücher weltweit. Bereits 1983 wurde „Die schwarzen Brüder“ in einer deutsch-schweiz-italienischen Gemeinschaftsproduktion als sechsteilige Kinderserie mit Monica Bleibtreu (Frau Rossi) verfilmt. Im April diesen Jahres kam die Neuverfilmung von Oscar-Preisträger Xavier Koller mit Moritz Bleibtreu (Antonio Luini, der „Mann mit der Narbe“), Catrin Striebeck (Frau Rossi, seit 2009 Schauspielerin am Wiener Burgtheater) u. a. in die Kinos. Drehbuchautor und Filmregisseur Mirco Vogelsang und der aus St. Petersburg stammende Komponist Georgij Modestov schrieben das Musical „Die schwarzen Brüder“, das am 31. März 2007 mit Gilles Tschudi (Antonio Luini) in der Stahlgießerei Schaffhausen seine Uraufführung feierte und am 22. Juli 2010 auf der Walensee-Bühne in Walenstadt in der Schweiz mit Sissy Staudinger (Frau Rossi) seine Open-Air-Premiere erlebte. Die 2013 von Irene Fleischlin, Moritz Alexander Sachs und Mirco Vogelsang gegründete Produktionsfirma „Reihe 7 UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG“ zeigt das Musical vom 7. August bis 14. September 2014 als Open-Air-Produktion auf Schloss Bückeburg.

Giorgio ist ein zwölfjähriger Junge aus dem Tessin Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Seine Familie ist wie viele andere dieser Bergregion so arm, dass sie den eigenen Sohn einem Kinderschlepper anvertrauen: Antonio Luini, der Mann mit der Narbe. Zusammen mit seinem Freund Alfredo und anderen Kindern folgt Giorgio Luini nach Mailand, um dort als Spazzacamino den Winter zu verbringen; ein Winter, den viele der Jungen nicht überleben werden. Sie sterben an Entkräftung, Hunger, Krankheit oder in den heißen Kaminschächten, in die die Kinder klettern müssen während das Feuer noch brennt. Trost findet Giorgio nur bei seinem etwas älteren Freund Alfredo, doch während der Versteigerung der Jungen in einem Wirtshaus werden die beiden Kinder getrennt und an unterschiedliche Kaminfegermeister verkauft. Giorgio landet bei dem verhältnismäßig freundlichen Battista Rossi, wird aber von dessen Frau und dem Sohn Anselmo misshandelt und schikaniert. Die Tochter des Hauses, Angeletta, freundet sich zwar mit dem Bergjungen an, ist aber schwer krank und bettlägerig und kann Giorgio nicht helfen. Während Giorgio frierend und unterernährt seine harte Arbeit verrichtet, gerät er mit den „Mailänder Wölfen“, einer Bande Halbstarker, in einen Streit, den Anselmo bewusst angezettelt hat. Giorgio entkommt der Bande nur mit Mühe und rettet sich in eine Gruppe von Kaminfegerjungen, die „Schwarzen Brüder“, denen auch sein Freund Alfredo inzwischen angehört. In der Freundschaft zueinander finden die Kinder Kraft und Zuflucht. Alfredos Situation ist noch schlimmer als die Giorgios, er stirbt an Entkräftung. Giorgio fordert den Kinderschlepper Luini heraus und sorgt dafür, dass sein Freund nicht wie die meisten anderen Spazzacamini einfach am Stadtrand verscharrt wird. Battista Rossi kämpft wegen der Situation der Kaminfegerkinder mit Gewissenbissen und gerät in einen tiefen Konflikt mit seiner Frau, die nur an sich selbst denkt. Trotz seiner starken Bedenken schickt Battista den Jungen weiter in die Kamine, bis Giorgio in einer Großküche im heißen Schacht eines brennenden Ofens stecken bleibt und beinahe stirbt. Rossi fasst sich ein Herz und ruft den Arzt Dr. Casella, damit dieser dem Jungen das Leben rettet. Zwischen dem Arzt und dem Jungen entwickelt sich eine Freundschaft. Dr. Casella verspricht Giorgio, ihm und seinen Freunden zu helfen, wenn sie es bis Lugano schaffen. Vier der „Schwarzen Brüder“ entscheiden sich für die Flucht und wagen den Ausbruch aus ihrem Leid. Dr. Casella und auch der geläuterte Anführer der „Wölfe“, Giovanni, helfen den Kindern zu entkommen.

Bückeburg im niedersächsischen Landkreis Schaumburg kann nicht gerade als „Musicalhochburg“ bezeichnet werden, erstmals dient Schloss Bückeburg, das mit seinem ausgedehnten Park unmittelbar an die Innenstadt angrenzt, als Kulisse für ein im Freien aufgeführtes Musical. Hierzu wurde auf der Schlossinsel eine Stahlrohrtribüne mit 1.200 Sitzplätzen und VIP-Logen errichtet. Die Südfassade des Stammsitzes des Hauses Schaumburg-Lippe wurde in das aufwendige, ansprechende Bühnenbild von Harry Behlau mit drei zum Teil gesichert begehbaren Schornsteinen von bis zu 9 Metern Höhe integriert, welches die Zuschauer nach Mailand im 19. Jahrhundert entführt. Auf der an die 50 Meter breiten Bühne befindet sich rechts das Haus der Familie Rossi mit der Küche und dem Zimmer von Angeletta, und auch noch ein durch Holzkreuze angedeuteter Friedhof, links kleine Hütten, in denen die Kneipenszenen spielen. Hier sind auch die 14 Musiker hinter einer Gaze untergebracht, die Georgij Modestovs eher klassisch anmutende Partitur, bei der Dialoge und Gesangstexte fließend ineinander übergehen, unter der Musikalischen Leitung von Andreas Pabst wohlklingend zu Gehör bringen. Allerdings birgt die extreme Bühnenbreite auch ihre Tücken: Sitzt man seitlich auf der Zuschauertribüne, so nimmt man das Orchester und sämtliche Darsteller akustisch lediglich aus einem der am rechten bzw. linken Bühnenrand befindlichen Lautsprecher wahr (Sounddesign: Serge Gräfe), so dass man teilweise erst einmal auf der Bühne nach den jeweiligen Darstellern suchen muss. Mehrfach nicht rechtzeitig aufgesteuerte Mikroports waren in dem Zusammenhang ebenfalls nicht hilfreich. Ein völlig anders gelagertes Manko wäre gleichermaßen vermeidbar gewesen: Wenn das Catering-Personal bei der Premiere die Gäste in den VIP-Logen am oberen Tribünenrand während der laufenden Vorstellung mit Speisen und Getränken versorgt, so führt dies zwangsläufig dazu, dass die übrigen Gäste vom Geschehen auf der Bühne abgelenkt und gestört werden. Wer mit der Buchvorlage oder der Handlung des Musicals nicht vertraut ist, dürfte bereits mit der Einordnung der zweiten Szene im ersten Akt Schwierigkeiten haben, denn von der verhängnisvollen Bootsfahrt über den Lago Maggiore, bei der die meisten von Antonio Luini zusammengesammelten Bergjungen ertrinken, erfährt man erst im späteren Verlauf der Handlung aus Gesprächen. Das Thema Menschenhandel, Kinderarbeit und Ausbeutung – mag es auch noch so brisant und hochaktuell sein – ist in seiner ganzen Tragweite im musikalischen Unterhaltungstheater sicher nur schwer zu vermitteln, die bisweilen traurig und gesenkten Hauptes im Gleichschritt über die Bühne marschierenden „Schwarzen Brüder“ werden der Thematik in der Inszenierung von Mirco Vogelsang nur ansatzweise gerecht. Da ist es um die „Kraft der wahren Freundschaft“ schon sehr viel besser bestellt, der man im Zusammenhalt der „Schwarzen Brüder“ und in deren Rangeleien mit den „Wölfen“ gewahr wird. Sabine Lindlar hat hierfür die Choreografie erarbeitet, die auch von den zwölf- bis vierzehnjährigen Jungen ansprechend umgesetzt wird. Gerrit Jurda, der bereits bei der Uraufführung für das Lichtdesign verantwortlich zeichnete, akzentuiert geschickt einzelne Spielorte, wobei dies natürlich erst im zweiten Akt mit zunehmender Dunkelheit zur Geltung kommt.

Während in der Uraufführung des Musicals (Regie Mirco Vogelsang) in der Stahlgießerei Schaffhausen Züricher Sängerknaben in dreifacher Besetzung die Rollen des Jungen Giorgio und seines besten Freundes Alfredo verkörperten, waren in der Inszenierung von Holger Hauer auf der Walensee-Bühne mit Bernhard Viktorin (Giorgio) und Janko Danailow (Alfredo) zwei Musical-Darsteller im Alter von 27 bzw. 29 Jahren in diesen Rollen engagiert. In der neuerlichen Inszenierung von Mirco Vogelsang in Bückeburg ist wiederum Janko Danailow in der Rolle des Alfredo zu sehen, der nun mit 33 Jahren den wenig älteren Freund von Giorgio darstellt, der demgegenüber bei der Premiere vom 13-jährigen Jasper Klein gespielt wurde. Jasper Klein meistert die tragende Rolle des schüchternen Knaben aus dem Tessin, der sich zum entschlossenen Heranwachsenden entwickelt, für sein Alter mit Bravour, Respekt. Janko Danailow wirkt für sein Alter sehr jugendlich und vermag mit starkem Bariton die Sympathien des Publikums auf sich zu lenken, auch bei seinem Song im zweiten Akt, den er als Verstorbener im oberen Schlossfenster singt. Peter Zeug, der in der Stahlgießerei Schaffhausen als Battista Rossi zu sehen war, spielt in Bückeburg die Doppelrolle des Kinderschleppers Antonio Luini, der „Mann mit der Narbe“/Dr. Casella, ein Arzt aus Lugano. (Sowohl in Schaffhausen als auch in Walenstadt wurden die beiden Charaktere jeweils von zwei Darstellern verkörpert, und auch in Bückeburg werden die beiden Figuren von zwei Darstellern gecovert.) Thorsten Tinney verleiht Giorgios Meister Battista Rossi menschliche Züge. Der steht zwar unter der Fuchtel seiner Frau und schickt Giorgio trotz seiner Gewissensbisse weiterhin in die heißen Kamine, doch überlässt er ihn nicht seinem Schicksal, als er beinahe stirbt. Maite Kelly steht hochschwanger als hartherzige, resolute Frau Rossi auf der Bühne, der Babybauch wird durch ihr Kostüm raffiniert kaschiert. Im Duett „Was ist mein Glück“ mit Thorsten Tinney verdeutlicht sie energisch die unterschiedlichen Wertvorstellungen der beiden Charaktere. Andreas Röder liefert ein überzeugendes Rollenportrait des durchtriebenen, hinterhältigen Sohns Anselmo, die Gründe für seine Eifersucht auf Giorgio bleiben allerdings völlig im Dunkeln. Die diesjährige Absolventin des Studiengangs Musical der Folkwang Universität der Künste Sandra Pangl, die bereits in den Kinderrollen des Kleinen Mädchens in „Die Hexen von Eastwick“ (DSE 9. Juni 2012, Regie Gil Mehmert) und des Straßenjungen Gavroche in „Les Misérables“ (DomplatzOpenAir Magdeburg 2013, Regie Gil Mehmert) auf der Bühne stand, verkörpert Rossis an Schwindsucht erkrankte Tochter Angeletta, die Giorgio Rückhalt gibt und sowohl im Duett mit Jasper Klein als auch mit ihrem bewegenden Solo „Dezemberwind“ im zweiten Akt überzeugen kann, buchbedingt bleiben ihr in der Rolle aber nur wenig Entfaltungsmöglichkeiten. Weiterhin sind Thomas Christ, der als Koch Paolo bei „Dolci Momenti“ vom weiblichen Küchenpersonal umgarnt wird, und Anastasia Troska zu erwähnen, die mit ihren Tanzeinlagen als Engel auf der einen Seite zwar Schutz und Hoffnung symbolisiert, auf der anderen Seite aber auch den Tod für Alfredo und Angeletta bringt. Auch das übrige Ensemble weiß mit ansprechenden Leistungen zu überzeugen.

Das Publikum reagierte am Premiereabend begeistert und bedachte Darsteller und Kreative mit langanhaltenden Stehapplaus. Das Musical „Die Schwarzen Brüder“ besitzt durchaus Potential, allerdings wage ich zu bezweifeln, dass sich Ticketpreise von bis zu 109 Euro für Vorstellungen am Samstagabend bei einer Open-Air-Aufführung tatsächlich am Markt durchsetzen lassen. Andere Veranstalter bieten im Sommer ebenfalls ausgezeichnete Musicalaufführungen an, jedoch zu deutlich günstigeren Konditionen.

Kommentare

Detlef hat gesagt…
Einer Meldung der Schaumburger Zeitung zufolge hat die Produktionsfirma „Reihe 7 UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG“ am 23. September 2014 beim zuständigen Amtsgericht Köln einen Eigenantrag auf Eröffnung eines vorläufigen Insolvenzverfahrens gestellt.