Stadttheater Bielefeld: The Who´s Tommy

„The Who´s Tommy“ – Musik, Gesangstexte: Pete Townshend; Libretto: Pete Townshend und Des McAnuff; Ergänzende Musik: John Entwistle und Keith Moon; Deutsche Bearbeitung: Anthony Gebler; Inszenierung und Choreografie: Götz Hellriegel; Musikalische Leitung: William Ward Murta; Bühne und Kostüme: Dietlind Konold; Licht: Peter Lorenz; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden. Darsteller: Philipp Dietrich (Tommy/Erzähler), Can Rico Brand*/Leon Herbst*/Paul-Kolja Kordbarlag*/Kevin Lücke* (Tommy, 4 Jahre alt), Daniel Linde*/Aaron Möllmann*/David Puchelski* (Tommy, 12 Jahre alt), Carina Sandhaus (Mrs. Walker), Alexander Franzen (Captain Walker), Carlos Horacio Rivas (Uncle Ernie), Nicky Wuchinger (Cousin Kevin u. a.), Brigitte Oelke (Acid Queen/Zeitungsverkäuferin/Assistentin/Interviewerin u. a.), David Jakobs (1. Junge/Offizier/Clown/Harmonikaspieler/Spezialist/Security u. a.), Nico Gaik (2. Junge/Offizier/Richter/Hausierer/Security u. a.), Rebecca Stahlhut (Sally Simpson/Reporter u. a.), Johannes Brüssau (Geistlicher/Advokat/Reporter/Security u. a.), Alica Hubiak (Krankenschwester/Mrs. Simpson/Reporter/Filmcrew u. a.), Marleen Jakob (Mädchen/Reporter/Filmcrew u. a.), Fabian Kaiser (Soldat/Advokat/Double Mr. Walker/Reporter/DJ/Security u. a.), Johannes Kiesler (Liebhaber/Reporter/Security/Mr. Simpson u. a.) und Franziska Vosseler (Krankenschwester/Frau des Geistlichen/Double Mrs. Walker/Reporter u. a.). *Theaterballettschule, Ltg. Maria Haus. Uraufführung: 1. Juli 1992, Mandell Weiss Theatre, La Jolla Playhouse, San Diego. Broadway Premiere: 22. April 1993, St. James Theatre, New York City. Deutsche Erstaufführung: 28. April 1995, Capitol, Offenbach. Deutschsprachige Erstaufführung: 2. Juli 1999, Stadttheater Lübeck. Premiere: 23. September 2012, Theater Bielefeld.



„The Who´s Tommy“


Die Rockoper am Stadttheater Bielefeld


Am 23. Mai 1969 veröffentlichte die britische Rockgruppe The Who ihr Konzeptalbum „Tommy“, das weltweit über 20 Millionen Mal verkauft wurde. Bereits vom 28. April bis 16. Mai 1971 zeigte die Seattle Opera unter der Intendanz von Richard Pearlman „Tommy“ zum ersten Mal als komplettes Bühnenstück mit Steve Curry in der Titelrolle am Moore Theater, Bette Midler spielte die Rolle der Acid Queen und Mrs. Walker. Ken Russel verfilmte die Geschichte mit dem Leadsänger von The Who, Roger Daltrey in der Titelrolle, und Stars wie Ann-Margret Olsson als Nora Walker Hobbs, Tina Turner als Acid Queen, Elton John als Pinball Wizard, Eric Clapton als Prediger und Jack Nicholson als Spezialist. Am 19. März 1975 kam der Film in die amerikanischen Kinos, Ann-Margret wurde 1976 mit dem Golden Globe Award in der Kategorie „Best Actress – Motion Picture Musical or Comedy“ ausgezeichnet. 24 Jahre sollten nach der Veröffentlichung des Konzeptalbums bis zur Broadway Premiere der Rock-Oper „The Who´s Tommy“ in der Fassung von Pete Townshend und dem künstlerischen Leiter des „La Jolla Playhouse“ in San Diego, Des McAnuff am 22. April 1993 vergehen, verschiedene Versuche, das Werk in Großbritannien auf die Bühne zu bringen, blieben in den Jahren 1975 bis 1978 erfolglos. Am Broadway wurde das Stück dann in 899 regulären Vorstellungen bis 17. Juni 1995 gezeigt und mit 5 Tony Awards ausgezeichnet, u. a. für die Beste Originalmusik für Pete Townshend. Am 28. April 1995 erlebte „The Who´s Tommy“ in der zu einem Musicaltheater umgebauten ehemaligen Synagoge in Offenbach seine deutsche Erstaufführung und wurde dort bis 16. Juni 1996 aufgeführt, das Projekt endete in der Insolvenz. Daraufhin erstellte Anthony Gebler eine deutsche Fassung, die am 2. Juli 1999 am Stadttheater Lübeck mit Sven Olaf Denkinger in der Titelrolle ihre Erstaufführung erlebte.

Stadttheater Bielefeld

Als Captain Walker, der im Zweiten Weltkrieg als vermisst gemeldet wird, 1945 aus der Gefangenschaft zurückkehrt, findet er seine Frau mit ihrem neuen Liebhaber vor. Es kommt zu einer Prügelei, in deren Verlauf Captain Walker den Liebhaber erschießt. Der vierjährige Tommy sieht die Tat im Spiegel mit an, seine Eltern beschwören ihn, nichts gesehen oder gehört zu haben und auch auf keinen Fall darüber zu sprechen. Auf tragische Weise soll ihr Wunsch in Erfüllung gehen, der traumatisierte Junge reagiert fortan nicht mehr und ist blind, stumm und taub. Captain Walker wird vor Gericht zwar vom Vorwurf des Mordes freigesprochen, doch Tommy treibt seine von Schuldgefühlen geplagten Eltern zur Verzweiflung. Immer wieder starrt er in den Spiegel und sieht dabei sein älteres Ego, das als Erzähler in Erscheinung tritt und nur für ihn sichtbar ist. Tommy wird von einer ganzen Reihe von Ärzten vergeblich untersucht, niemand kann ihn kurieren. Als die Eltern abends wieder ausgehen, überlassen sie Tommy der Obhut seines Onkels Ernie, der ihn sexuell belästigt. Auch sein sadistischer Cousin Kevin, der auf Tommy aufpassen soll, tyrannisiert und missbraucht ihn. Als Kevin Tommy im Jugendzentrum an einen Flipperautomaten stellt, erzielt dieser zur Verwunderung aller Höchst­punkt­zahlen, so dass er schließlich zum Flipperwunder erklärt wird. Seine Eltern haben die Hoffnung auf Heilung noch nicht aufgegeben, doch auch ein weiterer Spezialist kann Tommy nicht heilen. Als Tommy, der inzwischen 21 Jahre alt ist, wieder nur in den Spiegel starrt und seine Mutter nicht zu ihm durchdringen kann, zerschlägt Mrs. Walker aus Wut und Verzweiflung den Spiegel. Wie durch ein Wunder kann Tommy wieder sehen, hören und sprechen, und wendet sich von seinen Eltern ab. Die Medien stürzen sich auf die Wunder­heilung und Tommy avanciert zum Medienliebling und Teenie-Idol, doch er ist sich seiner Rolle als Vorbild zunächst nicht bewusst. Onkel Ernie versucht, aus Tommys Ruhm Gewinn zu schlagen, indem er bei seinen Auftritten Souvenirs verkauft. Die Situation verändert sich grundlegend, als es ein fanatischer Fan, Sally Simpson bis zu Tommy auf die Bühne schafft und er sie unwissentlich von der Bühne stößt. Er begreift mit einem Mal den Rummel um seine Person und versucht, diesen zu unterbinden. Doch seine Fans sehen in ihm einen spirituellen Lehrer, verständlicherweise will und kann er diesen Erwartungen nicht standhalten …

In Bielefeld steht Philipp Dietrich in seinem ersten Engagement in der Titelrolle auf der Bühne, der in diesem Jahr seinen Abschluss an der Joop van den Ende Academy in Hamburg gemacht hat. Souverän meistert der junge Darsteller seinen Part und findet auch in leiseren Augenblicken den richtigen Ton. Glaubhaft verleiht er dem heranwachsenden Tommy Gestalt, der schließlich seinen eigenen Weg geht und die Vergangenheit hinter sich lässt. Paul-Kolja Kordbalg und Daniel Linde aus der hauseigenen Theaterballettschule stellten bei der Premiere überzeugend die Rolle des traumatisierten vier- bzw. zwölfjährigen Kindes dar, das sich apathisch an sein Spielzeughaus klammert. Carina Sandhaus ist als ihren Sohn liebende Mrs. Walker zunehmend von der Situation überfordert, ihre aufgestaute Wut und Verzweiflung entladen sich glaubwürdig in dem Song „Soll ich ihn zerschlagen“/„Smash the Mirror“. Alexander Franzen lässt als besorgter Familienvater Captain Walker keine Möglichkeit aus, seinem Sohn Hilfe angedeihen zu lassen, sei die Chance auf Heilung auch noch so klein. Missbrauch ist ein zentrales Thema der Handlung, seine lüsternen Spiele mit dem wehrlosen Neffen setzt Carlos Horacio Riva als Tommys pädosexueller Onkel Ernie in „Ich mach´ an dir rum“/„Fiddle about“ gekonnt verabscheuenswert in Szene, da rücken ihn seine Versuche, in „Tommys Feriencamp“ aus Tommys Ruhm Profit zu schlagen, beim Zuschauer wieder in ein positiveres Licht. Nicky Wuchinger, der sein Studium im Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste Berlin ebenfalls dieses Jahr abgeschlossen hat, verkörpert u. a. die Rolle des boshaften Cousins Kevin, der seine sadistische Ader in „Wir sind allein, Cousin“/„Cousin Kevin“ ausleben kann. Gesanglich gefällt der junge Baritenor auch im Zusammenspiel mit David Jakobs und Nico Gaik, mit „Der taubstumme blinde Junge ist gut am Ball“ („Flipperwunder“/„Pinball Wizard“), dem wohl bekanntesten und erfolgreichsten Song der Produktion, können sie gemeinsam punkten. Für die Rolle der als Acid Queen bekannten Prostituierten konnte das Theater Bielefeld Brigitte Oelke verpflichten, dem breiten Musicalpublikum als die Killer Queen in den deutschsprachigen Produktionen von „We Will Rock You – Das Original Musical von Queen und Ben Elton“ bekannt. Mit ihrer Rockröhre beeindruckt sie in ihrem Solo „Acid Queen“, Tommy kann sie mit halluzinogenen Drogen aber auch nicht heilen. Brigitte Oelke ist dem Theater Bielefeld für die gesamte Spielzeit 2012/2013 verbunden und wird auch bei der Silvestergala und dem zweiten Musical in der laufenden Saison, „City of Angels“ (Premiere: 18. Mai 2013, Inszenierung: Thomas Winter) mitwirken.

Götz Hellriegel, selbst ausgebildeter Tänzer und Schauspieler, erzählt die Geschichte vom Heranwachsen des Teenagers ohne Umschweife oder Experimente in schneller Bildfolge, der die Zuschauer aber problemlos folgen können. Zur zeitlichen Einordnung der Szenen werden die jeweiligen Jahreszahlen mit Kreide auf den Bühnenboden geschrieben und gleichzeitig als Übertitel projiziert, da sie andernfalls im Parkett nicht zu sehen wären. Die Entscheidung, „The Who´s Tommy“ in der deutschen Übersetzung von Anthony Gebler aufzuführen, unterstreicht den Fokus auf das Bühnengeschehen. Götz Hellriegels Choreografien verleihen dem Handlungsablauf auf der Bühne zusätzlich die entsprechende Dynamik. Dietlind Konold zeichnet für die Ausstattung verantwortlich. Zwei bespielbare Traversenkonstruktionen in Form eines Spitzgiebelhauses rechts und links sowie ein drittes Spitzgiebelhaus in der Mitte, das sich durch Heraufziehen der Fassade in den Schnürboden in das Wohnzimmers der Walkers verwandelt, bilden das Bühnenbild, welches durch einige Flipperautomaten ergänzt wird. Die 17 Darsteller sind im Laufe der Vorstellung in 180 Kostümen auf der Bühne zu sehen, was durch teilweise sekundenschnelle, sorgfältig koordinierte Kostümwechsel ermöglicht wird. Instrumente werden im Orchestergraben nicht zertrümmert, und einen Schalldruckpegel von 120 dB, wie er bei einem Auftritt von The Who auf dem Charlton Football Ground gemessen wurde, strebt in Bielefeld selbstredend niemand an. Im Gegenteil: Die achtköpfige Rockband unter der Musikalischen Leitung von Musical-Kapellmeister William Ward Murta bringt die Partitur von Pete Townshend kraftvoll, aber weniger kantig als The Who und völlig bühnentauglich zu Gehör. Auch die Abmischung mit den Darstellern ist gut gelungen. Wer dennoch zu hohe Lautstärke befürchtet, kann sich vorsorglich im Foyer mit Ohrenstöpseln eindecken.

Operndirektorin Helen Malkowsky präsentiert das Ensemble bei der Premierenfeier

Nachdem das Theater Bielefeld in der vergangenen Spielzeit „Chess – Das Musical“ von Benny Andersson und Björn Ulvaeus gezeigt hat, wird mit „The Who´s Tommy“ erneut ein Musical mit kraftvollem Rocksound geboten, das mit ausgesuchten Darstellern überzeugend auf die Bühne gebracht wird. Das Premierenpublikum feierte Darsteller und Kreative nach der etwa zweistündigen, kurzweiligen Aufführung mit enthusiastischem Stehapplaus. „The Who´s Tommy“ steht noch bis 23. April 2013 am Stadttheater Bielefeld auf dem Spielplan, die nächsten Vorstellungen stehen am 30. September sowie am 6. und 28. Oktober 2012 auf dem Programm. Die Kartennachfrage war schon vor der Premiere so enorm, dass zwei zusätzliche Vorstellungen in den Spielplan aufgenommen wurden.

Haben Sie selbst „The Who´s Tommy“ am Stadttheater Bielefeld schon gesehen? Wie hat Ihnen die Vorstellung gefallen?

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