Die Spielzeit 2018/19 am Theater Bielefeld

Das Theater Bielefeld gibt der Suche nach dem ICH eine Bühne

Das Theater Bielefeld greift in der Spielzeit 2018/19 die Fragen rund um das eigene Sein, die Definition des Selbst und den Stellenwert des ICH in der heutigen digitalen Gesellschaft auf. In Filterblasen und Echoräumen werden uns durch Algorithmen nur noch die Informationen übermittelt, die zu uns passen. Objektivität wird ausgeschaltet. Die „Ich-Ich-Ich-Generation“ der nach 1980 Geborenen erschafft in den sozialen Medien wie YouTube, Facebook und Instagram ein ausschließlich virtuelles Bild von sich selbst. Das ICH ist in der Gesamtgesellschaft längst zur Marke geworden. iPhone, myToys oder Ego-Shooter: Das Geschäft mit dem ICH bringt Millionengewinne. Definiert das ICH den Konsum oder der Konsum das ICH?

Wo das Unaussprechliche sich mit dem Unbeschreiblichen paart, ist das Musiktheater ganz bei sich selbst. Ein hervorragendes Beispiel hierfür bietet die Oper „Ariane und Blaubart“ (Premiere 2. März 2019), die von Paul Dukas in geradezu orgiastische Klangwelten getaucht wurde. Ariane findet im Kellerverlies ihres Bräutigams ihre Vorgängerinnen – und nimmt mit ihnen den Befreiungskampf gegen Blaubart auf. Zunächst aber kehrt mit Eliza Doolittle eine der beliebtesten Musicalfiguren überhaupt auf die Stadttheaterbühne zurück – in Frederick Loewes unverwüstlicher „My Fair Lady“ (Premiere 21. September 2018) zu Beginn der Spielzeit. „La Traviata“ (Premiere 6. Oktober 2018) alias Violetta Valéry kämpft in Giuseppe Verdis Oper um ihren Lebenstraum. Rechtzeitig zur Adventszeit kommt Humperdincks Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ (Premiere 1. Dezember 2018) auf den Spielplan. Ein wahres Dilemma prägt Jake Heggies Oper „Dead Man Walking“ (Premiere 13. Januar 2019), in deren Partitur Blues, Gospel- und Filmmusik enthalten sind: Ist die Todesstrafe eine adäquate Bestrafung für einen zweifelsfrei überführten Mörder? Die Eltern der Opfer und die den Täter betreuende Ordensschwester Helen stehen sich mit zwingenden Argumenten unvereinbar gegenüber. Johann Christian Bachs selten gespielte Oper „Amadis“ (Premiere 27. April 2019) stürzt mit überaus reizvollen frühklassischen Klängen eine Zauberin in Gefühlsnöte: Entpuppt sich doch der Mörder ihres Bruders als der von ihr heimlich geliebte Mann. Im Mai arbeiten Musiktheater und Schauspiel bei „Lazarus“ (Premiere 18. Mai 2019) eng zusammen. Das Musical von David Bowie und Enda Walsh bewegt sich höchst originell zwischen Rockkonzert, Schauspiel und Installation. Wie könnte man Offenbachs 200. Geburtstag im Juni schöner begehen als mit einer Neuinszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“ (Premiere 7. Juni 2019)? Cancan inklusive. Wiederaufgenommen werden Mozarts „Die Zauberflöte“ (Wiederaufnahme 20. Oktober 2018) und die Kammeroper „Anne und Zef“ von Monique Krüs.


„My fair Lady“ (Premiere 21. September 2018, Stadttheater)

„My fair Lady“ – nach dem Schauspiel „Pygmalion“ von George Bernard Shaw und dem Film von Gabriel Pascal (1938); Musik: Frederick Loewe; Gesangstexte, Buch: Alan Jay Lerner; Deutsche Bearbeitung: Robert Gilbert; Inszenierung: Thomas Winter; Choreografie: Thomas Klotz; Bühne, Kostüme: Ulv Jakobsen; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Nikolaj Alexander Brucker/Alexander Franzen (Professor Henry Higgins, Phonetiker), Theresa Christahl (Eliza Doolittle, Blumen­mädchen), Dirk Audehm (Alfred P. Doolittle, Elizas Vater, ein Müllkutscher), Kai Hufnagel (Oberst Hugh Pickering, Higgins´ Freund und Kollege), Monika Mayer (Mrs. Higgins, Higgins´ Mutter), Melanie Kreuter (Mrs. Pearce, Higgins´ Hausdame), Carlos Horacio Rivas (Harry), Vladimir Lortkipanidze (Jamie, Freunde von Doolittle), N. N. (George, Besitzer eines Pubs), Lorin Wey (Freddy Eynsford-Hill, Elizas Verehrer), Christin Enke-Mollnar (Mrs. Eynsford-Hill, Freddys Mutter), N. N. (Lord Winterbottom), N. N. (Lady Winterbottom), N. N. (Polizist), N. N. (Prof. Zoltan Karpathy, Phonetikexperte), N. N. (Königin von Transsylvanien), N. N. (Mrs. Hopkins), N. N. (Butler), Michaela Ataalla/Elena Schneider (1. Dienstmädchen), Annika Brönstrup/Sofio Maskharashvil (2. Dienstmädchen), Dumitru-Bogdan Sandu/Seung-Koo Lim, Paata Tsivtsivadze/Tae-Woon Jung (Zwei Dienstboten bei Higgins), Vera Freese (Lady Boxington), Lutz Laible (Lord Boxington), Mark Coles/Krzysztof Gornowicz, Young Sung Im/Lutz Laible, Seung-Koo Lim/Ramon Riemarzik, Dumitru-Bogdan Sandu/Paata Tsivtsivadze (Vier Obsthändler), Mark Coles (Wirt), Krzysztof Gornowicz (Mann aus Hoxton), Ramon Riemarzik (Mann aus Sesley). Uraufführung: 15. März 1956, Mark Hellinger Theatre, New York City. Deutschsprachige Erst­auf­führung: 25. Oktober 1961, Theater des Westens, Berlin. Premiere: 21. September 2018, Stadttheater Bielefeld.

„Ich hätt’ getanzt heut’ Nacht“, „Es grünt so grün“, „Bringt mich pünktlich zum Altar“ – wer kennt sie nicht, Frederick Loewes unsterbliche Ohrwürmer aus „My Fair Lady“? Professor Higgins, unbelehrbarer Junggeselle, sammelt die junge Blumenverkäuferin Eliza Doolittle auf, um aus ihr eine Dame zu machen, frei nach dem Motto „Kleider machen Leute“. „Frei nach“, denn seine Schneiderkünste sind verbaler Natur: In wochenlanger Detailarbeit korrigiert er an ihr Sprache, Wortgebrauch, Grammatik und Aussprache. Warum? Weil er es kann. Und weil er gewettet hat – mit Oberst Pickering, einem fast ebenso selbstverliebten Vertreter der „Oberen Zehntausend“. Im zweiten Anlauf gelingt das Experiment, Eliza bezaubert die Upper Class. Doch für Higgins’ eitles Ego, das keine Götter neben sich duldet, bleibt Eliza ein Versuchskaninchen, um das man sich nicht mehr kümmern muss. Grund genug für sie, ihm gehörig den Marsch zu blasen.

„My Fair Lady“ hat viel von George Bernard Shaws spitzer Zunge geerbt und hätte schon bei der Uraufführung 1956 ein starkes Plädoyer für die Emanzipation der Frau sein können, doch seinerzeit war ein Musical dafür schlichtweg das falsche Medium. Dessen ungeachtet gibt es kaum ein Theaterstück, das derart prominent eine fast schon greifbare Liebesgeschichte verhandelt, ohne sie jemals weder an- noch auszusprechen, geschweige denn: sie aufleben zu lassen. Je nach Interpretation, versteht sich…


„Lazarus“ (Premiere 18. Mai 2019, Stadttheater)

„Lazarus“ – nach dem Roman „The Man Who Fell to Earth“ von Walter Tevis (1963); Musik, Lyrics: David Bowie; Buch: Enda Walsh; Deutsche Bearbeitung: Peter Torberg; Inszenierung: Michael Heiks; Choreografie: Gianni Cuccaro; Bühne: Annette Breuer; Kostüme: FRanziska Gebhardt; Video: Sascha Vredenburg; Dramaturgie: Jón Philipp von Linden; Musikalische Leitung: William Ward Murta. Darsteller: Nikolaj Alexander Brucker (Thomas Jerome Newton), Christina Huckle (Elly, Newtons Assistentin), Susanne Schieffer (Girl [Marley]), Oliver Baierl (Valentine), Alexander Stürmer (Zach), Jan Hille (Ben), Michaela Duhme (Teenage Girl 1), Jeannine Michèle Wacker (Teenage Girl 2), Theresa Christahl/Ulrike Figgener (Teenage Girl 3), Cornelius Gebert (Michael), Henriette Nagel (Japanerin/Maemi), Mitglieder von E-Motion. Uraufführung: 7. Dezember 2015, New York Theatre Workshop in Manhattan. Europäische Erstaufführung: 8. November 2016, Kings Cross Theatre, London. Deutschsprachige Erstaufführung: 3. Februar 2018, Schauspielhaus Düsseldorf. Premiere: 18. Mai 2019, Stadttheater Bielefeld.

„Ich will zurück zu den Sternen.“ – 1976 spielte David Bowie als Thomas Newton die Titelrolle im Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ von Nicolas Roeg: Er landet als unsterblicher Außerirdischer auf der Erde, um Wasser für seinen Heimatplaneten zu suchen, gründet ein Milliardenunternehmen, verliebt sich unglücklich und scheitert letztendlich an der Kälte der menschlichen Zivilisation. Das Attribut des Außerirdischen blieb an Bowie zeitlebens haften, und so war es nur konsequent, dass er Jahrzehnte später das Schicksal des Thomas Newton erneut aufgriff und zum Bühnenstück formte. Im Musical „Lazarus“ treffen wir ihn in seiner New Yorker Wohnung. Vereinsamt kämpft Newton, der sich dem irdischen Dasein ergeben hat, mit dem Gin und den Geistern der Vergangenheit, als ein rätselhaft unwirkliches Mädchen bei ihm auftaucht. Längst ist ihm seine Unsterblichkeit zum Fluch geworden und er sehnt sich nach Erlösung.

„Lazarus“ ist Ausdruck eines überaus starken Ichs, des Gesamtkunstwerks, das die Persönlichkeit David Bowie zeitlebens in sich vereinte. Songs wie „Absolute Beginners“, „This is not America“, „The Man Who Sold the World“ und „Heroes“ durchziehen den Plot und machen „Lazarus“ zu einer eigenwilligen Bühnenkreation, angesiedelt zwischen Rockkonzert, Schauspiel und Installation.

Kaum verwunderlich, dass „Lazarus“ autobiografische Züge trägt: Der biblische Kranke gleichen Namens, der von Jesus zurück ins Leben geholt wird, mag für David Bowie eine Symbolfigur gewesen sein, als er selbst an Krebs erkrankte. Als David Bowie einen Monat vor seinem Tod gemeinsam mit Co-Autor Enda Walsh der Uraufführung in New York beiwohnte, ahnte niemand etwas davon: „Ich will zurück zu den Sternen.“

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