„Hello Again“ – Gil Mehmert im Gespräch

Bei „Hello Again“ denkt womöglich der ein oder andere an den Schlager von Howard Carpendale, „Hello Again“ ist aber auch der Titel des Musicals von Michael John LaChiusa, das am 30. Dezember 1993 am Mitzi E. Newhouse Theater seine Off-Broadway Premiere feierte und das Regisseur Gil Mehmert („Das Wunder von Bern“, Uraufführung 23. November 2014, Theater an der Elbe, Hamburg) in diesem Jahr als Abschluss­projekt der Studierenden im Studiengang Musical der Folkwang Universität der Künste in Kooperation mit dem Theater im Rathaus Essen inszeniert. „Hello Again“ (Premiere 27. Juni 2016) ist nach „On the town“ (Premiere 8. Juni 1995), „How to succeed in business without really trying“ (Premiere 29. Mai 2004), „The Wild Party“ (Premiere 2. Juli 2005, Weststadthalle Essen), „Bat Boy“ (Premiere 31. Mai 2006), „Pinkelstadt“ (Premiere 1. Juni 2007), „Into the Woods“ (Premiere 3. Oktober 2009, Theater Hagen), „High Fidelity“ (Premiere 16. Juni 2010, Theater im Rathaus, Essen) und „Ein Mann geht durch die Wand“ (Premiere 16. April 2012, Theater im Rathaus, Essen) das neunte von ihm inszenierte Abschlussprojekt im Studiengang Musical der Folkwang Universität der Künste, wo Gil Mehmert seit 2003 als Professor für Musical, Szene und Regie unterrichtet.

Plakat „Hello Again“. © Folkwang Universität der Künste

Was sollte ein Musical Ihrer Meinung nach bieten, abgesehen von der notwendigen Anzahl der Rollen, die von den Studierenden des vierten und dritten Jahrgangs übernommen werden können, um in die engere Auswahl als Projekt junger Künstler Anfang, Mitte 20 zu kommen?

Gil Mehmert: Ein passendes Projekt für einen Abschluss­jahrgang zu finden ist schon immer auch die Quadratur des Kreises. Da gibt es eine Summe von Kriterien: Es müssen geeignete Partien für die in der Regel sechs Studenten vorhanden sein. Der Stoff sollte uns alle aber auch interessieren. Es gibt ja viele Musicals, die eher von der Ausstattung leben, Revueartig angelegt sind, das können wir gar nicht erfüllen und bringt als Rollen den Studenten auch weniger. Das gewählte Stück sollte auch im Kontrast stehen zum Genre, das im Vorjahr gemacht wurde, denn die Studenten sind ja auch im 3ten Jahr schon dabei und sollen dann unterschiedliches Material kennenlernen.

Was liegt Ihnen bei der Auswahl besonders am Herzen, wenn Sie völlig frei von kommerziellen Zwängen entscheiden könnten? Gibt es einen Stoff, den Sie gern inszenieren möchten, den aber ein Theater niemals auf seinen Spielplan setzen würde, aus Angst, dass das Publikum ausbleibt?

Gil Mehmert: Da sind wir mit „Hello Again“ ja schon nahe dran… Das ist ein Werk, das sich im Übergang zum modernen Musiktheater befindet. Es ist in vielerlei Hinsicht vielschichtig und auch künstlerisch schwer und angemessen zu realisieren. Vielleicht ist es unser bisher größtes Experiment!

Was zeichnet „Hello Again“ entsprechend aus? Was können/dürfen/müssen die Zuschauer inhaltlich und musikalisch erwarten? Werke von Michael John LaChiusa (* 24. Juli 1962 in Chautauqua, New York) wie „Hello Again“, „Marie Christine“ (Broadway Premiere 2. Dezember 1999), „The Wild Party“ (Broadway Premiere 13. April 2000) oder „See what I wanna see“ (Off-Broadway Premiere 30. Oktober 2005) werden in Deutschland ja nicht so häufig aufgeführt.

Gil Mehmert: Schon die Erzählform ist untypisch: Es handelt sich um 10 Einakter, in denen jeweils zwei Figuren umeinander ringen und schließlich zum Beischlaf kommen. Der eine Partner sucht in der nächsten Szene weiter nach seinem Glück, versucht sich an einem neuen Partner und so wandern wir per körperlicher Vereinigung durch die Gesellschaftsschichten. Nun hat LaChiusa dieses Prinzip des Reigens noch erheblich erweitert: jeder Darsteller ist ein Typus, beispielsweise ein Soldat oder ein Autor oder eine Krankenschwester oder eine Ehefrau, die wir in jeweils zwei verschiedenen Jahr­zehnten erleben dürfen. Es ist der gleiche Charakter, aber nicht der gleiche Mensch. Wir sehen also auch, wie in jedem Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts Rollenbilder ihre Veränderungen erfahren haben. Aber LaChiusa hat die Szenen, anders als Schnitzler immer wieder auch im Personal erweitert. Bei jeder zweiten Szene gibt es eine Vergrößerung des Geschehens durch weitere Darsteller, die für das Zeit- und Sittenbild stehen. Und natürlich hat er die Stimmung und den Stil jeder Dekade auch musikalisch festgehalten. Da ist beispielsweise von Bebop (40er Jahre) bis Soul (60er) über Salonmusik (Jahrhundert­wende) bis Disco (70er) und Latin-Pop (80er) alles dabei!

Das Musical „Hello Again“ ist von Arthur Schnitzlers Bühnenstück „Reigen“ inspiriert, das am 23. Dezember 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin uraufgeführt wurde und einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts auslöste. Alle seinerzeit im so genannten „Reigen Prozess“ der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ Angeklagten wurden freigesprochen, schließlich wurde der Beischlaf auf der Bühne nicht gezeigt. Kann/könnte in der heutigen Zeit noch jemand Anstoß an „Hello Again“ nehmen, in der sogar Pornografie im Internet allgegenwärtig ist? Wird „Hello Again“ ein „Schock“ für das übliche Boulevardtheater-Publikum?

Gil Mehmert: Tatsächlich sind die Themenfelder zwar im Schauspiel und in der Oper längst etabliert, im Musical aber ist diese psychologische Tiefe und das was hier gesprochen und auch gezeigt wird so noch nicht etabliert. Das Publikum für diese Show wird sich finden müssen. Es ist kein Boulevardtheater, vereinzelt zwar auch, aber es ist in jeder Hinsicht absolut vielfarbig: musikalisch, choreographisch und dramaturgisch ein Genre-Mix, der dennoch eine große schöne Einheit darstellt. Ein Musical-Theater-Kunstwerk, mit dem wir keinesfalls provozieren, sondern verführen möchten.

Wie sieht es diesbezüglich mit Homosexualität aus? Michael John LaChiusa hat das Geschlecht von Arthur Schnitzlers süßem Mädel zu dem sexuell ambivalenten jungen Ding geändert, um auch Homosexualität in seinem Musical zu zeigen.

Gil Mehmert: Auch das ein dramaturgisch geschickter Zug, um die Facetten von Beziehungen zu erweitern. Von 10 Szenen entsteht dadurch eine bisexuelle Komponente für die 70er Jahre, eben vor Aids, wo alles möglich war und eine vorsichtige homosexuelle Annäherung eines Ehemannes an einen jungen Mann kurz bevor sie im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts mit einem Luxusdampfer untergehen. Angesichts des Todes überwindet der Ehemann alle gesellschaftlichen Schranken und möchte seine Sehnsucht endlich ausleben. Diese beiden Szenen entsprechen ja nun mindestens dem statistischen Anteil an gleich­ge­schlechtlicher Liebe in unserer Gesellschaft.

Regisseurin Silvia Armbruster hat bei der deutschsprachigen Erstaufführung des Studiengangs Musical an der Bayerischen Theaterakademie August Everding im Prinzregententheater München die Liebesakte so explizit gezeigt wie sie nun einmal sind. So war es zumindest in einer Besprechung zu lesen. Ohne an dieser Stelle Details zu verraten, wie kann man den Liebesakt auf der Bühne zeigen, wenn man ihn zeigt, ohne die Darsteller der Lächerlichkeit preiszugeben?

Gil Mehmert: Tatsächlich ein großes Thema. Wir kommen um den Akt nie herum, weil er immer auskomponiert ist und dabei gesungen wird. Aber dennoch geht es vordergründig nicht um den eigentlichen Akt, den wir so zu lösen versuchen, dass man zwar glauben kann, er findet statt, aber dennoch nicht ausgestellt wird. Nacktes wird ohnehin nicht zu sehen sein. Es geht um die Psychologie des Aktes. Warum lässt sich jeder unter den spezifischen Umständen darauf ein und was sind seine, eben nicht sexuellen, sondern psychologischen Empfindungen währenddessen, davor und danach.

Arthur Schnitzler thematisiert im „Reigen“ die Verbindung von unterschiedlichen Moralvorstellungen mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Stand. Was kann uns „Hello Again“ einhundert Jahre später zu unterschiedlichen Moral­vor­stellungen sagen?

Gil Mehmert: Am interessantesten ist doch: es gibt nur vermeintlich einen gleichlaufenden Fortschritt von Emanzipation und Toleranz. Die Frau in den 20ern war schon weiter als dann die Frau in den 50ern. Die 70er waren sexuell aufgeladener als die 90er, insbesondere nach Aids. Die Kriegsjahre in den 40ern und auch in den späten 60ern während Vietnam veränderten auch die Rollen und Charaktere der Geschlechter zueinander.

„Hello Again“ setzt sich aus einer Folge von zehn Szenen zusammen, in der jeweils zwei der zehn Figuren aufeinander treffen. Wie sieht es da mit Haupt- und Nebenrollen aus? Üblicherweise übernehmen die Studierenden des vierten Jahrgangs doch die Hauptrollen und die Studierenden des dritten Jahrgangs die Nebenrollen.

Gil Mehmert: Wir haben dieses Jahr ohnehin den Spezialfall, dass von den sechs kommenden Absolventen vier weiblich sind, sonst steht es immer drei zu drei. Dieses Stück bietet unseren starken Frauen vier wirklich tolle Frauen-Parts. Dafür werden die Damen aus dem unteren Jahrgang etwas benachteiligt, da sie „nur“ Spezial­auf­tritte und Ensemble-Tracks haben, denn wie oben erwähnt, gibt es trotz der Paar-Dramaturgie auch weitere Figuren, die manche Situationen beleben.

Kooperationen mit externen Partnern sollen den Studierenden die Möglichkeit bieten, so früh wie möglich Erfahrungen im professionellen Theaterbetrieb sammeln zu können. „Hello Again“ ist bereits die vierte Kooperation des Studiengangs Musical mit dem Theater im Rathaus Essen, das mit seinen 265 Plätzen als Boulevardtheater für seine Produktionen mit Darstellern wie Inge Meysel, Herbert Hermann, Doris Kunstmann u. a. bekannt ist. Was zeichnet das Theater im Rathaus Essen als Kooperationspartner für den Studiengang Musical aus? Inwiefern ist der Theaterbetrieb dort vergleichbar mit einem Stadt- oder Staatstheater?

Gil Mehmert: Das Theater im Rathaus zeichnet vor allem aus, dass der Eigner Herr Landgraf uns in unserer Arbeit unterstützt. Und dann ist der Ort für bestimmte Stücke einfach ein passender Rahmen mit der richtigen Intimität, der passenden Größe und einer schönen Atmosphäre, die wir uns gerne zu Nutze machen. Außerdem lernen die Studenten auf diese Weise um ein echtes Publikum zu kämpfen. Der Unterschied zum Stadt- oder Staatstheater ist neben der Größe vor allem auch die großzügige Flexibilität in deren Planung. Ein Stadttheater ist meist länger im Voraus verplant. Manchmal gelingt es uns einfach nicht, mit potentiellen Partnern so frühzeitig eine Produktion anzugehen.

Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit an einer Abschluss­produktion des Studiengangs Musicals von „normalen“ Produktionen wie aktuell „Hair“ in München oder „Evita“ in Bonn, bei denen Darsteller mit langjähriger Erfahrung involviert sind? Die Abschlussproduktion ist ja für die Studierenden auch eine (benotete) Lehrveranstaltung.

Gil Mehmert: Der Unterschied ist für mich als Regisseur gar nicht so groß, wenn ich sie mit den genannten Produktionen vergleiche, wo ich ja auch viel Theater­familie um mich habe – eben eingespielte Teams auf, vor und hinter der Bühne. Auch die Studenten unseres Studienganges empfinde ich als Theaterfamilie, nur eben die jüngere Generation. Und Erfahrung ist nicht immer das aussagekräftigste Kriterium für Qualität. Dass am Ende für die Bewältigung der Partien Noten vergeben werden, spielt in der Arbeit überhaupt keine Rolle, das belastet nicht und ist sicher auch nicht besondere Motivation gut zu sein. In der Regel sind diese Produktionen eine große Freude für uns alle, da dann für die Studierenden das Gelernte zusammen­geführt wird und die Lehrenden ihren Anteil an der Ausbildung auf der Bühne erleben dürfen.

Schon jetzt viel Erfolg für die Probenarbeit und die Premiere am 27. Juni 2016.

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