Schauspiel Essen: „My fair Lady“

„My fair Lady“ – nach dem Schauspiel „Pygmalion“ von George Bernard Shaw und dem Film von Gabriel Pascal (1938); Musik: Frederick Loewe; Gesangstexte, Buch: Alan Jay Lerner; Deutsche Bearbeitung: Robert Gilbert; Inszenierung: Robert Gerloff; Choreografie: Stephan Brauer; Bühne: Maximilian Lindner; Kostüme: Johanna Hlawica; Licht: Michael Hälker; Videografie: Heta Multanen; Ton: Mark Rabe; Dramaturgie: Carola Hannusch; Musikalische Leitung: Hajo Wiesemann. Darsteller: Anne Schirmacher (Eliza Doolittle, Blumen­mädchen), Jan Pröhl (Professor Henry Higgins, Phonetiker), Thomas Büchel (Alfred P. Doolittle, Elizas Vater, ein Müllkutscher), Sven Seeburg (Oberst Hugh Pickering, Higgins´ Freund und Kollege), Ingrid Domann (Mrs. Higgins, Higgins´ Mutter/Mrs. Eynsford-Hill, Freddys Mutter), Laura Kiehne (Mrs. Pearce, Higgins´ Hausdame/Clara Eynsford-Hill/Pete/Dame der Gesellschaft), Stephan Brauer (Harry/Passant/Dienstbote/Mr. Pommeroy), Thomas Meczele (Jamie, ein Freund von Doolittle/Passant/Dienstbote/Admiral von Schneider), Philipp Noack (Freddy Eynsford-Hill, Elizas Verehrer), Rezo Tschchikwischwili (Prof. Zoltan Karpathy, Phonetikexperte/Passant/George, Besitzer eines Pubs/Dienstbote/Sir Toby), Jan Rogler (Butler James/Passant/Pete/Lord Winterbottom). Musiker: Sandra Klinkhammer (Klarinette, Gesang, Tin Whistle), Maurice Maurer (Vionline), Christoph König (Violine), Albert Hametoff (Viola, Gitarre, Gesang), Tobias Sykora (Violoncello, Gesang), Hajo Wiesemann (Klavier, Kontrabass, Gesang). Uraufführung: 15. März 1956, Mark Hellinger Theatre, New York City. Deutschsprachige Erst­auf­führung: 25. Oktober 1961, Theater des Westens, Berlin. Premiere: 5. Dezember 2015, Grillo-Theater, Essen. Besuchte Vorstellung 8. Januar 2016.



„My fair Lady“


Der Musical-Klassiker – oder was davon noch übrig ist – am Grillo-Theater


Die deutschsprachige Erstaufführung des Musicals „My fair Lady“ nach der Originalinszenierung am Broadway am 25. Oktober 1961 im Theater des Westens „war das überzeugende Beispiel, dass Musicals in Originalform eine andere Qualität besaßen, eine szenische, choreografische und musikalische Raffinesse, über die man in den allgemeinen Stadttheatern nicht ohne weiteres verfügte.“ (Wolfgang Jansen in CATS & Co. Die Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater) „My fair Lady“ sollte sich zu einem der meistgespielten Musicals im deutschsprachigen Raum entwickeln, man könnte es hier ohne Übertreibung als den Durchbruch des Genres bezeichnen. Doch die Entstehungsgeschichte war lang und nicht ohne Hindernisse: George Bernard Shaw (* 26. Juli 1856 in Dublin, Irland, † 2. November 1950 in Ayot Saint Lawrence, England) gab seine Komödie „Pygmalion“ nach Ovids Darstellung des Pygmalion-Stoffes, die am 16. Oktober 1913 im Wiener Burgtheater in der Übersetzung von Siegfried Trebitsch uraufgeführt wurde, zeit seines Lebens nicht für eine Vertonung frei, und erst nach seinem Tod erhielt Gabriel Pascal, der Shaws Komödie bereits 1938 verfilmt hatte, nach langen Verhandlungen mit seinen Erben die Rechte für eine Musicaladaption. „My fair Lady“ von Frederick Loewe (Musik) und Alan Jay Lerner (Libretto) erlebte schließlich nach Probeaufführungen am Shubert Theatre in New Haven und Erlanger Theatre in Philadelphia am 15. März 1956 am Mark Hellinger Theatre mit Julie Andrews (Eliza Doolittle) und Rex Harrison (Henry Higgins) seine Broadway-Premiere und wurde bis 29. September 1962 in 2.717 Vorstellungen gespielt. Die Produktion wurde 1957 mit sechs Tony Awards ausgezeichnet, u. a. in der Kategorie Best Musical. Das Musical wurde 1964 von George Cukor mit Audrey Hepburn (Eliza Doolittle) und Rex Harrison (Henry Higgins) verfilmt, wobei Marni Nixon Elizas Songs synchronisierte, da man Audrey Hepburns Gesang für unzulänglich hielt. Die mit acht Academy Awards ausgezeichnete Filmadaption dürfte ein Übriges zum weltweiten Erfolg des Musicals beigetragen haben. Allein das Stück auf dem Spielplan dürfte heutzutage die Vorverkaufskassen klingeln lassen, noch bevor überhaupt ein Zuschauer die Inszenierung gesehen hat.

Anne Schirmacher (Eliza Doolittle) und Sven Seeburg (Oberst Hugh Pickering). Foto Martin Kaufhold

Der Inhalt des Musicals dürfte hinlänglich bekannt sein: Im edwardianischen London im Jahr 1912 wettet der Phonetiker Professor Henry Higgins mit seinem Freund und Kollegen Oberst Hugh Pickering, dass er das Blumenmädchen Eliza Doolittle trotz ihres starken Cockney-Akzents und ihrer ordinären Ausdrucksweise innerhalb von sechs Monaten zur feinen Damen der britischen Gesellschaft erziehen könne, indem er ihr fehlerfreies Englisch und eine gepflegte Ausdrucksweise beibringt. Er möchte damit beweisen, dass allein Sprache und Umgangsformen den Standort eines Menschen in der Gesellschaft bestimmen, und nicht das soziale Umfeld. Für Eliza beginnt eine anstrengende Lehrzeit im Haus des eingefleischten Junggesellen Henry Higgins, der fortan rücksichtslos seine Lektionen mit ihr durchgeht. Endlich stellen sich die ersten Erfolge des Unterrichts ein, und beim Pferderennen in Ascot soll Eliza ihre Fortschritte der feinen Gesellschaft beweisen. Doch sie kann ihr natürliches Temperament nicht im Zaum halten und feuert ihr Pferd mit ordinärem Jargon an. Ihre unkonventionelle Art erweckt das Interesse des jungen Freddy Eynsford-Hill, der sich über beide Ohren in sie verliebt. Nach diesem Rückfall und weiteren Wochen kräftezehrender Arbeit wird Eliza schließlich beim Diplomatenball aufgrund ihrer Schönheit und ihres perfekten Auftretens zur Attraktion des Abends. Obwohl Henry Higgins seine Wette damit gewonnen hat, behandelt er Eliza weiterhin respektlos und herablassend. Wutentbrannt verlässt sie sein Haus und will in ihr altes Umfeld zurückkehren, muss jedoch erkennen, dass sie für ein Blumenmädchen nun zu fein ist, für eine feine Dame ihr aber das Geld fehlt. Als sie sich mit Higgins’ lebenskluger Mutter ausspricht, kommt es erneut zu einer Auseinandersetzung zwischen der emanzipierten Eliza und Henry Higgins. Das Musical „My fair Lady“ endet versöhnlich, Eliza Doolittle kehrt nach dem Streit zu Professor Henry Higgins zurück, der nicht mehr ohne sie leben möchte.

Jan Rogler, Laura Kienle, Rezo Tschchikwischwili, Anne Schirmacher, Stephan Brauer und Thomas Meczele. Foto Martin Kaufhold

Robert Gilbert übertrug bei seiner Übersetzung für die deutschsprachige Erstaufführung den Londoner Cockney-Akzent in Berliner Dialekt, Schauplatz des Musicals blieb jedoch London im Jahr 1912. Robert Gerloff (* 1982 in Duisburg) verlegt die Handlung seiner Inszenierung in die 1960er-Jahre, noch vor Vorstellungsbeginn werden die Zuschauer bei offener Bühne durch Filmplakate von „Girls in Prison“ (1956, dt. Titel „Kampf der Hyänen“) – „What happens to girls without men? The shocking story of one man against 1000 women!“ – und auf einem großen Billboard eben „My fair Lady“ (1964) in einem heruntergekommenen Straßenzug darauf eingestimmt, wobei letzteres die Protagonisten der Essener Inszenierung zeigt und nicht Audrey Hepburn und Rex Harrison. Die tiefgreifendste Änderung ist jedoch das Ende der Inszenierung, in dem Robert Gerloff Henry Higgins nicht nur das Happy End der Musicaladaption verweigert und damit quasi den Standpunkt von George Bernard Shaw einnimmt, sondern ihn sogar in der Gosse enden und ihm von Hugh Pickering ein Almosen zustecken lässt. Auf dem Weg dorthin scheint Robert Gerloff dem brillanten Textbuch von Alan Jay Lerner ebenfalls nicht vollständig zu vertrauen und fügt daher beispielsweise Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy, Mr. Winterbottom und den Butler James aus „Dinner for One“ (1963) in die Handlung ein. Muss man nicht verstehen, vielleicht bin ich aber auch nur einfach zu konservativ und habe nicht den passenden Humor für solche Regieeinfälle. Am Ende beschlich mich der Eindruck, eine moderne Fassung von Shaws „Pygmalion“ mit Musik von Frederick Loewe, Lee Hazlewood, Giuseppe Verdi, Richard Wagner u. a. gesehen zu haben, aber eben nicht das Musical „My fair Lady“.

Ensemble. Foto Martin Kaufhold

Bühnenbildner Maximilian Lindner nutzt die Drehbühne, um bei Bedarf schnell zwischen den drei Hauptschauplätzen des heruntergekommenen Straßenzuges mit einem alten Kino, Henry Higgins’ im englischen Stil eingerichtetem Haus sowie dem mit zeitgenössischer, moderner Kunst ausstaffierten Haus von Higgins’ Mutter zu wechseln. Die Kostümentwürfe von Johanna Hlawica orientieren sich an den Schnitten und Mustern der 1960er-Jahren. Der visuelle Eindruck wird durch unzählige, von der finnischen Videokünstlerin Heta Multanen entwickelten Projektionen auf das Billboard wie die mit dem Essener Ensemble nachempfundenen Filmposter zu „Attack of the 50 Foot Woman“ (1958), „Queen of Outer Space“ (1958), der berühmten „Gunbarrel Sequenz“ aus den James-Bond-Filmen (ab 1962) und speziell für diese Inszenierung gedrehte Videosequenzen unterstützt, mitunter aber auch dominiert: Derartig exzessiv eingesetzt lenken sie die Aufmerksam unweigerlich vom Geschehen auf der Bühne ab. Frederick Loewes Partitur mit Wurzeln in der europäischen Operettentradition wird mit Anklängen an die Popmusik der 1960er-Jahre wie dem Nancy-Sinatra-Song „These boots are made for walkin’“ (1966) und irischer Folklore angereichert. Die sechsköpfige Band unter der Musikalischen Leitung von Hajo Wiesemann ist links vor der Bühne positioniert, wofür etwa ein Drittel der Bestuhlung der ersten fünf Sitzreihen im Zuschauerraum entfernt wurde. Bis auf die Klarinette wurden die Blasinstrumente aus der ursprünglichen Orchestrierung gestrichen, womit der Sound mitunter stark von den beiden Violinen und der Viola dominiert wird. Gelegentlich kommt den Musikern auch die Rolle der Backing Vocalists zu.

Jan Pröhl (Professor Henry Higgins) und Anne Schirmacher (Eliza Doolittle). Foto Martin Kaufhold

„My fair Lady“ ist am Grillo-Theater mit Ausnahme von Stephan Brauer und Jan Rogler mit Schauspielern aus dem festen Ensemble am Schauspiel Essen besetzt, die durchgängig souveräne schauspielerische Leistungen zeigen: Jan Pröhl gibt sich als eingefleischter Junggeselle Henry Higgins ausgesprochen selbstgefällig, Anne Schirmacher lässt in der Rolle der Eliza Doolittle glaubhaft die Wandlung vom ordinären Blumenmädchen zur feinen Dame und schließlich zur emanzipierten Frau nachvollziehen, die Henry Higgins die Anerkennung verweigert, da er sie nicht anerkennen kann. Mag man Jan Pröhls Sprechgesang noch als Higgins’ von Rex Harrison kreierte Rollencharakteristik tolerieren, so sollte man sich bei den übrigen Gesangsparts doch darüber im Klaren sein, dass hier eben Schauspieler auf der Bühne stehen und keine Musicaldarsteller. Dann kann man auch nicht aufgrund zu hoher Erwartungen enttäuscht werden.

„My fair Lady“ wird bis 21. Mai 2016 am Grillo-Theater Essen gespielt, Vorstellungen bis Ende Februar 2016 sind allerdings bereits ausverkauft.

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